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Markus Fenner
Die Kirschen
Short Story

Hermann klappte den Fernsterladen nach außen und setzte sich in die altertümlich tiefe Laibung. Unter ihm lag der Platz vor dem Hotel mit dem kleinen Obst- und Gemüsemarkt, der langsam in die Abenddämmerung einsank. Er konnte den Stand sehen, wo er vorhin diese wunderbaren Kirschen gekauft hatte.

Anita hatte das ja wieder einmal sowas von kindisch gefunden, doch er war von der kessen Verkäuferin hinter ihrem kunstvoll aufgeschütteten Kirschenberg einfach überwältigt worden. Sie hatte ihn in rapidem Italienisch so charmant angemacht, dass er sich brav eine ganze Tüte abwiegen ließ.

Verstanden hatte er kaum ein Wort, aber sie waren einfach bezaubernd, die Kirschen, die junge Frau… Hermann hatte unklar gehofft, sie von hier oben noch einmal zu sehen. Aber er sah nur eine ältere Dame in Kittelschürze, die jetzt am Stand bediente.

Er seufzte und fragte sich, was wenigstens aus seinen Kirschen werden würde. Signore Capillo, Cipolla oder wie, der weißhaarige Padrone des Hotels hatte ihm beim Einchecken die Plastiktüte aus der Hand genommen, behutsam, aber bestimmt. Dazu hatte er etwas mit seiner feierlichen Grabesstimme erklärt, von dem Hermann gerade so viel verstand, dass die Kirschen gewaschen würden. Ansonsten blieb ihm der würdevolle, mit pointierten Gesten unterstrichene Vortrag des Padrone völlig schleierhaft.

Ganz klar war aber jetzt der Grund für den Service mit den Kirschen. Ihr Zimmer im ersten Stock des alten Hauses enthielt zwar viele schwere Möbel, darunter zwei getrennt stehende wuchtige Betten und einen Schrank von kathedralen Ausmaßen. Doch es liess sich nicht leugnen, dass das „Bagno“ sich draußen auf dem Gang befand und das Zimmer nicht einmal ein Waschbecken hatte. Diese Besonderheit hatte Hermann beim Buchen des Zimmers übersehen, was seine Frau wiederum zu dem Ausruf veranlasste: „Hermann, mir fehlen die Worte!“

Mittlerweile hatte Anita fertig in den Schrank eingeräumt und es sich mit ihrem Strickzeug auf dem Bett doch recht gemütlich gemacht. Auch die Worte hatten seiner Frau nur ganz kurz gefehlt und waren dann mit Macht wieder zurückgekehrt. Zum leisen Klicken der Stricknadeln flossen sie nun in einem stetigen Strom kritischer Anmerkungen.

„… in dem Schrank riecht´s wie im Grab, sind das Mottenkugeln, Hermann, gib zu, ich hab mich bisher total loyal verhalten bei diesem Ausflug, gut, du solltest deinen Willen haben, du wolltest einmal nach Rodi fahren und dir den Gargano anschauen und bitte sehr, wir sind jetzt in Rodi, aber Hermann, das sag ich dir…“

Hermann ließ in langjähriger Übung das nur so an den Ufern seiner schattigen Gedanken-Insel entlang fließen. Er dachte an die Kirschenfrau und schreckte erst auf, als Anita „Herein“ rief. Es hatte geklopft. Unter entschuldigendem Gemurmel kam der Hotelier. Er trug eine große Schale mit Hermanns Kirschen vor sich her und stellte sie auf dem Tisch ab. Begleitet von einer unnachahmlichen Gebärde, verkündete er „Ecco signore!“
Hermann stammelte „Grazie…mille grazie“.

Die frischgewaschenen, prallen Kirschen vor ihm schimmerten in tiefem Rot, sie funkelten geradezu. Hermann konnte nicht anders. Er schnappte sich ein Pärchen und stopfte es in den Mund.
„Mensch, ist ja peinlich!“, zischte Anita vom Bett her.
Es erreichte den kauenden Hermann nicht mehr, der gerade die erste Saft-Explosion empfing.
„Aaah…bello…äh tanto…bello!“, stöhnte er.
Die zerklüftete Physiognomie des Padrone geriet in Bewegung und produzierte ein Lächeln, das fast strahlend war.
„Deliziose vero, signore, ma le nostre ciliegie sono anche le migliori d‘Italia“, grummelte er, „ecco, per favore!“

Er hielt ihm eine Tasse hin. Das verstand Hermann immerhin. Er nahm sie, spuckte die Kerne hinein und griff nach den nächsten Kirschen. Sie schmeckten noch besser. Während Hermann inbrünstig kaute, sagte der Padrone in tiefstem Bass:
„È permesso dire addio adesso…” – er unterbrach sich und hob die Hände zu einer auserlesenen Geste. Hermann hörte einen leisen Klington wie von einer Klangschale. Der Padrone lächelte fein und fuhr fort: „…und damit wünsche ich den geschätzten Gästen einen glücklichen Aufenthalt in unserem Haus, einem historischen Gebäude mit Tradition, um das sich wundersame Geschichten und Rätsel ranken, vor allem für den frommen Liebhaber von Obst und Malerei“.

Verdutzt sah Hermann, wie der Hotelier ihm zuzwinkerte und mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung zu einem Bild über seinem Bett wies. Das war so seltsam, dass es das andere, größere Staunen zunächst überlagerte. Dieses entfaltete sich erst nach und nach: Er hatte jedes Wort verstanden! Mühelos. Er konnte Italienisch! Aber das war noch das Wenigste…

Sprachlos sah er zu, wie Signore Cipolla sich in der Tür würdevoll vor Anita verneigte. Nicht ohne in Hermanns Richtung noch einmal heimlich mit der Faust zum Bild hin zu zeigen!
„Echt! Aus welcher Oper ist denn der entsprungen?“, brach Anita das Schweigen nach seinem Abgang.
„Eine echte Persönlichkeit, finde ich. Anita, du musst die Kirschen probieren. Sie sind so köstlich“, drängte Hermann und kam mit der Schale heran.
„Bist du wahnsinnig, Obst am Abend? Ich hab sowieso wieder Magenschmerzen. Kein Wunder bei dem Affentheater. Nein, das einzige, was da hilft, ist Stricken“.

Hermann stellte die Schale auf den Nachttisch an der anderen Seite seines Betts und sah sich unauffällig das Bild über seinem Bett aus der Nähe an. Was hatte der Padrone nur gemeint? Eine leicht geschürzte Schöne mit nackten Schultern und üppigem Dekolletee, die sich schelmisch lächelnd ein Paar Kirschen vor den üppigen Mund hält? Spießer-Kitsch, fand Hermann, doch dann riss es ihn. Die Leichtgeschürzte im Bild war ihm bekannt! Abgesehen von ihrem Kostüm sah sie aus wie das Kirschen-Mädchen vom Markt!

Jetzt aber Achtung!… Hermann legte sich erstmal ganz harmlos auf sein Bett. Dieses Bild war nun wahrlich nichts für Anita, genauso wenig wie der Umstand, dass er plötzlich Italienisch konnte wie ein Rodianer. „Alcune cose è meglio tenerle per te“, murmelte er abwesend und sah erschrocken zu Anita hinüber.

Sie hatte nichts gehört. Sie saß mit den aufgetürmten Kissen im Rücken, das Wollknäuel neben sich, die Nadeln in ihren Händen bewegten sich ruhig und gleichmäßig und ähnlich beruhigt floss inzwischen auch Anitas Redestrom:
„…ach, in Rimini würden wir´s uns jetzt mit Pfeiffers auf der Terrasse gut gehen lassen, die Kellner sprechen alle deutsch, wahrscheinlich sind von Hoffmanns auch schon angekommen, aber nein, wir müssen ja hier am Arsch der Welt mittelalterliche Hygiene studieren…“

Beruhigt drehte Hermann sich auf die andere Seite und griff nach den Kirschen. Dem Rätsel mit dem Bild würde er später auf den Grund gehen, wenn Anita eingenickt war. Er spuckte die Kerne in die Tasse und holte reichlich Nachschub aus der Schale. Ein Pärchen fiel ihm dabei hinunter. Hermann beugte sich über die Bettkante, die Kirschen glänzten unter ihm auf dem hellen Terrazzoboden. Er langte hinab.

Eine schmale Hand schoss blitzschnell wie ein braunes Tierchen unter dem Bett hervor, schnappte sich die Kirschen und verschwand. Hermanns Herz hämmerte, doch er zwang sich zur Ruhe. Von unten hörte er ein leises Spuckgeräusch, ein sauber abgelutschter Kern kullerte in sein Blickfeld, dann noch einer, genau daneben.

Hermann beugte sich hinab und hielt ein neues Pärchen über den Boden, ohne es loszulassen. Wieder kam das Tierchen, doch Hermann war schneller, zog die Kirschen hoch, kam damit wieder zurück, ließ sie verführerisch baumeln…

So lockte er das Wesen hinter der Hand hervor. Langsam schob sie sich auf dem Rücken unter der Bettkante hervor, blauschwarze Locken, nussbraune Funkelaugen, verschmitzt lachender Mund: sein Kirschenmädchen vom Markt! Diesmal sagte sie nichts, sperrte nur unmissverständlich den Mund auf. Hermann fütterte sie mit Andacht und sah von oben zu, wie sie kaute.

In das Hintergrundrauschen von Anitas Stimme kam jetzt mehr Nachdruck, es wurde fast temperamentvoll:
„…und damit Ende der Diskussion, Hermann! Diese Nacht, na gut, aber entweder findest du morgen früh ein zivilisiertes Hotel für uns oder ich sitze im Bus zurück nach Rimini! Notfalls auch allein, verstehst du mich?!“
Leider spitzte im selben Moment das Mädchen den Mund und spuckte Herrmann den Kern ins Gesicht. Er lachte begeistert auf. Anita erstarrte.
„Du findest das witzig! Sag mal, was machst du da?“

Hermann fuhr herum. Anita beugte sich argwöhnisch zu ihm hinüber. Ihr Wollknäuel fiel hinab, rollte über den Gang und verschwand unter Hermanns Bett. „Ach nee“ stöhnte sie und schwang die Beine aus dem Bett.
„Lass! Ich hol ihn dir!“, schrie Hermann in Panik.
„Wieso denn, jetzt mach bloß nicht auf Kavalier“, zischte Anita und kniete sich zwischen den Betten hin. Hermann schoss auf seiner Seite aus dem Bett. Doch Anitas Kopf tauchte schon hinab, um unter das Bett zu sehen.
„Anita, was immer du dir jetzt denkst“, stammelte er. Gleich würde sie schreien… er wandte sich feige weg. Doch der Schrei kam nicht. Wieder war nur dieser Klington zu hören, von Anita kein Mucks. Er drehte sich um.

Anita kniete nicht mehr im Gang zwischen den Betten. Sie war auch nicht auf ihrem Bett. Anita war weg. Fassungslos ging er zum Bett und sah darunter nach.

Auf dem Boden lag einsam der mintgrüne Wollknäuel. Hermann nahm ihn und stand auf. In einer seltsamen Verlangsamung sah er vom grünen Knäuel hoch zu einem grünen Farbklecks an der Wand. Der befand sich im Bild überm Bett.

Es war das Grün des Strickzeugs, das die Schöne in der Hand hielt. Sie war zwar auch leichtgeschürzt, aber sie war nicht mehr dieselbe. Es waren auch keine Kirschen, es war der unfertige Schal mit den Stricknadeln, den Anita, schelmisch lächelnd, dem Betrachter zeigte.

Hermanns Mund klappte auf, er stand wie gelähmt. Ein weicher Arm legte sich von hinten um seinen Nacken. Eine schmale Hand kam in sein Blickfeld und liess ein Pärchen vor seiner Nase baumeln, hin und her. Dann steckte sie ihm die Kirschen in den offenen Mund.


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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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