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Thomas Nußbaumer bespricht:
Rememory - Gedenken
Osterfestival Tirol
Salzlager Hall am 03.04.2022

„Maschine.Mensch“ lautet der Grundgedanke des diesjährigen Osterfestivals Tirol der Galerie St. Barbara in Hall.

„Maschine.Mensch“ will auf maschinenartige Verhaltensmuster der Menschen aufmerksam machen und sie unterlaufen. Dieser Idee und daraus ableitbaren Seitenthemen sind alle Veranstaltungen des heurigen Festivals gewidmet, so auch der Auftritt der „Schola Heidelberg“ und des „ensemble aisthesis“ unter der Leitung ihres Gründers Walter Nußbaum am 5. Fastensonntag im Salzlager Hall, wobei die Gäste aus Heidelberg das Motto REMEMORY – GEDENKEN in den Mittelpunkt ihres Konzertes stellten und auf beeindruckende Weise Werke von Johann Sebastian Bach, Jan Dismas Zelenka, Charles Ives und der Zeitgenossen Berthold Tuercke und Lisa Streich ineinander verzahnten.

REMEMORY – GEDENKEN ist bei Walter Nußbaum mit seiner 14köpfigen „Schola Heidelberg“ und dem auf barocken und modernen Instrumenten spielenden „ensemble aisthesis“ ein komplexer, vielschichtiger Prozess.

Im Mittelpunkt des Abends stand die Komposition „Rememory“ der Schwedin Lisa Streich (*1985), die ein Zitat aus Toni Morrisons Roman „Beloved“ (Menschenkind) zum Anlass nahm, unausgesprochene, sich mit Umweltgeräuschen vermischende, wieder-erinnerte Gedanken vieler Menschen an einem bestimmten Ort auszukomponieren. Über langen, gedehnten, obertonreichen Klangflächen, gemischt aus Streicher- und Barockbläserfarben, murmelt und sinniert der Chor. Bei dieser im Innenleben knisternden Statik denkt man an eine nur langsam voranschreitende Prozession betender Menschen, die letztendlich in einem schwebend-ruhenden, plötzlich auch in Blechbläserfarben getauchten Mollakkord zum Stillstand kommt.

Das Konzert kann im Ganzen als ein gelungenes Beispiel für eine spannende, ideenreiche Programmgestaltung betrachtet werden, weil es gelang, wesensverwandte Werke unterschiedlichster Epochen sinnvoll miteinander zu verbinden.

Ives a-cappella-„Psalm 67“ („God be merciful to us“) mit seiner quartengeschichteten Harmonik bildete zunächst den Kontrast zum Miserere in c-Moll des genialen böhmischen Barockkomponisten Jan Dismas Zelenka (1679–1745). Das war auch theatralisch! Plötzlich erhoben sich die fünf Streicherinnen, langte die Basso-continuo-Gruppe, die mit Cembalo, Orgelpositiv, Cello und Violone ausgerückt war, in alle Saiten und Tasten, mischten sich Piccolo-Blockflöte, Oboe d’amore und historische Klarinette stimmig darein und boten barocke und moderne Trompeten im Verbund mit Naturhorn Vorstellungen davon, was es mit dem Jüngsten Gericht auf sich haben könnte.

Wie im zweiten Teil die Aufführung von Bachs Kantate „Ihr werdet weinen und heulen“ (BWV 103) wurde auch die Wiedergabe des mehrteiligen Zelenka-Werks durch neue Musik quasi unterbrochen, jedoch nicht kontrastierend, sondern eher im Sinne einer Ergänzung.

So hörte man in Berthold Tuerckes „Kassandra-Male“ (2020) denselben schluchzenden, melismatischen Grundduktus, der auch der Kantate von Bach zu Grunde liegt.

Lamento-Musik hat weltweit bestimmte Ähnlichkeiten, weinen können alle Menschen. „Wer sollte nicht in Klagen untergehen?“ und wiederholt „Ihr werdet weinen und heulen“ sangen die Solistinnen und Solisten der „Schola Heidelberg“ bei Bach, sowohl als Chor als auch in den Solopassagen eindringlich, kompakt, gekonnt, alle mit ausgebildeten Gesangsstimmen.

Genauso überzeugend präsentierte sich das aus alten und neuen Instrumenten so erstaunlich gemischte Ensemble, das den Abend mit einem großen Fragezeichen beendete, nämlich mit Charles Ives’ Stück „The Unanswered Question“ (1908/1935), mehrmals gestellt von der Trompete, nicht beantwortet von den unschlüssig-flächigen Streicherklängen und Basso continuo-Lauten auf der Bühne, auch nicht beantwortet von den Bläsern, die sich mittlerweile im Salzlager verteilt hatten und somit ein wenig Raumklang miteinfließen ließen.

Sehr eindrucksvoll dieser offene Schluss.

Bildnachweis: Victor Malyshev

 

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Thomas Nußbaumer

Thomas Nußbaumer ( geb.1966 in Hall in Tirol) ist ein österreichischer Musikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Volksmusikforschung / Ethnomusikologie. Nußbaumer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Innsbrucker Sitz der Universität Mozarteum Salzburg, Abteilung für Musikwissenschaft, Abteilungsbereich Musikalische Volkskunde, seit 2010 als Universitätsdozent für Volksmusikforschung. Daneben arbeitet er als freier Kulturjournalist.

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