Thomas Nußbaumer bespricht:
Die Matthäus-Passion von J.S. Bach
am 14.04.2022 beim Osterfestival Tirol
der Galerie St. Barbara im Congress Innsbruck

Es gibt Musikfreunde, die hunderte Kilometer reisen, um eine Bach-Passion mit Philippe Herreweghe und dessen Chor und Orchester des „Collegium Vocale Gent“ zu hören. Wer am 14.4. nach Innsbruck zum „Osterfestival Tirol“ der Galerie St. Barbara (Hall) gefahren ist, um Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ (Leipzig 1727) mitzuerleben, wird ob der hohen Qualität der Vorstellung und der packenden Emotionalität des Musikerlebnisses diese Reise nie bereuen.

Es sei vorausgeschickt, dass Herreweghe und sein „Collegium Vocale Gent“ mit der „Matthäus-Passion“ derzeit auf Mitteleuropa-Tournee sind und Innsbruck die insgesamt zehnte (nach Wien vor einer Woche auf österreichischem Boden die zweite) Station war. Trotzdem hatte man nie das Gefühl, dass hier ein Programm routiniert abgespult wird. Freilich war – wie Herreweghe dem Publikum im Congress Innsbruck erläuternd offenbarte – eine gewisse Spannung seitens der Musiker*innen auch dem Umstand geschuldet, dass wegen der Coronapandemie Personal ausgefallen war, was nur durch „Tricks bei der Instrumentierung“ (Herreweghe) und rasche Nachnominierungen kompensiert werden konnte.

 Matthäus-Passion

Wie auch immer, abgesehen davon, dass eine Flötistin zur Verstärkung des zweiten Orchesters ihre Positionen wechseln musste, war davon nichts zu bemerken, denn sowohl Chor als auch Orchester sind durchwegs mit Spitzenleuten besetzt, die aber mit Herreweghe als kompakte, eingespielte Gemeinschaft auftreten.

Die Angelpunkte von Herreweghes Interpretation sind die dramatischen Zuspitzungen in Bachs musikalischem „Bericht vom Leiden und Sterben Jesu Christi“: die Ergreifung von Jesus, die an ihm verübten Folterungen und seine Kreuzigung. Mit Reinoud van Mechelen (Tenor) steht ein „Evangelist“ zur Verfügung, der die Erzählung mit elastischer, biegsamer, in allen Phasen ausdrucksstarker Stimme unermüdlich, geradezu unerbittlich vorantreibt, immer konzentriert am Herzschlag der Geschichte.

Der Fluss der Episoden und Gesangsnummern – Rezitative, kunstvolle, in Empathie und ausgesuchten Affekten schwelgende Da-capo-Arien, aufgeregte Turbachöre fanatisierter Gruppen, immer wieder betrachtende Choräle von volkstümlicher Schlichtheit – folgt bei Herreweghe einem großen, dramatischen Duktus, und wohl im Sinne des Komponisten ergibt sich ein Teil aus dem anderen.

Herreweghe ist jedoch kein Radikalist der Gegensätze, und natürlich ebenso wenig ein Wohlklangästhet. Seine Orientierung an historischer Aufführungspraxis erfordert die Wahl von Instrumenten barocker Bauart neben konventionellen Streichinstrumenten. Die Traversflöte, Barockoboe, Oboa da caccia, Viola da gamba, das Barockfagott und zwei Orgelpositive für den Basso continuo verlangen von den mitwirkenden Sängern und Sängerinnen eine Verringerung der Lautstärke, vom zweigeteilten Orchester höchste Rücksichtnahme und vom Publikum ein Einhören in leisere, subtilere, nuanciertere Klänge, zumal nicht immer der gesamte Klangapparat zum Einsatz kommt, sondern sich dieser immer wieder kammermusikalisch auffächert.

Und so weist Bachs Musik in Herreweghes Deutung eine Vielfalt von Klangfarbenkombinationen und akustischen Düften auf. Streicher mischen sich pastellfarbenartig mit Bläsern, Arien können auch mit zwei „oboe da caccia“ oder nur mit der solistisch weit ausholenden Viola da gamba und dezenter Orgel begleitet werden, die Konzertmeisterin darf lebhaft mit dem Altus dialogisieren.

Herreweghe gestaltet Bachs „Matthäus-Passion“ trotz dramatischer Schärfungen und klarer Akzente durchwegs feinfühlig – als Musik für große Ohren. Was ihm hierbei zugutekommt ist die klangliche Akkuratesse der Streicher, die Souveränität der Bläser und auch die Homogenität des zweigeteilten Chors. Fugen und Fugati in den Chören werden ebenso überzeugend vermittelt wie die Kontemplation in den Chorälen, vor allem in den sich wie ein roter Faden durch das Werk ziehenden Abwandlungen des „O Haupt voll Blut und Wunden“.

Matthäus-Passion

Selbstredend kann Herreweghe auch bei der Wahl der Solostimmen aus dem Vollen schöpfen. Tobias Berndt singt die Rolle des Jesus mit warm strömendem Klang und glänzt auch da und dort bei Bassarien. Dorothee Mields, unter den Sopranistinnen die herausragende Kraft, singt nuanciert, sinnlich und punktete enorm in bekannten Arien wie „Ich will dir mein Herze schenken“ oder „Er hat uns allen wohlgetan“.

Unter den Countertenören begeisterte vor allem Tim Mead mit strahlender Höhe, Dynamik und differenzierender Gestaltung – Eigenschaften, die auch im Vortrag der Tenöre Samuel Boden und Guy Cutting zutage treten. Julian Millan (Bass) überzeugte als Judas, Raimund Nolte als Petrus und Philipp Kaven als Pilatus. Grace Davidson (Sopran), James Hall (Altus), Chiyuki Okamura (1. Magd, Frau des Pilatus) und Magdalena Podkościelna (2. Magd) ergänzten das Ensemble bestens.

Bildrechte: © Victor Malyshev

Die vorliegende Besprechung erscheint auch im Online-MERKER (www.onlinemerker.com).

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Thomas Nußbaumer

Thomas Nußbaumer ( geb.1966 in Hall in Tirol) ist ein österreichischer Musikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Volksmusikforschung / Ethnomusikologie. Nußbaumer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Innsbrucker Sitz der Universität Mozarteum Salzburg, Abteilung für Musikwissenschaft, Abteilungsbereich Musikalische Volkskunde, seit 2010 als Universitätsdozent für Volksmusikforschung. Daneben arbeitet er als freier Kulturjournalist.

Schreibe einen Kommentar