Ronald Weinberger
Zackige Ernüchterung
Astropoesie

Viele von uns kennen sie kaum noch. Haben sie, genauer gesagt, ohnehin nie wertgeschätzt. Haben sie geradezu missachtet. Obwohl sie dies keineswegs verdienen. Sehen ihre Bedeutung nicht, erfreuen sich selten oder nie an ihrem Anblick. Sind zu träge, zu unwissend oder schlichtweg zu ungebildet, zu beschränkt – beschränkt ist der passende Ausdruck! Momentchen. Ist beschränkt wirklich eine angemessene Charakterisierung? Ich zögere. Na ja, vielleicht doch nicht zu beschränkt, sondern zu blind dafür.

Blind, weil man sie doch häufig genug nicht mehr findet. Weil sie versunken sind angesichts der Konkurrenz. Versunken in ihrer Umgebung. Weil man ja genau hinsehen muss, um sie zu erspähen. Hinstarren. Anstrengen muss man sich, sie gezielt suchen. Dann, bisweilen, werden und sind sie erkennbar, werden vom Hinschauen anschaulich. Bloß: Wer möchte sich wegen so etwas schon anstrengen? Heutzutage? Insbesondere die Städter doch nicht, haben bekanntlich so unendlich viel Ablenkung um die Ohren, vor den Augen.

Die Landpomeranzen hatten und haben derlei Einschränkungen nie. Sind gewissermaßen privilegiert. Je landpomeranziger, umso besser. Soll heißen: Je außerstädtischer man wohnt, desto leichter ansichtig werden sie. Eine einsame Örtlichkeit, weitab von den sündenpfuhligen Städten – und schon erhellen, geradezu erleuchten sie Ratio und Gemüt, profitieren davon, dass man sich an ihnen kein Mütchen kühlen kann, tragen zur Erbauung bei.

Zugegeben: ich übertreibe, beschönige. Aber, sage mir: Habe ich nicht doch, zumindest teilweise, recht mit meinem Eintreten für sie? Sind denn ihre zahlreichen, nein zahllosen, Pendants in den Städten wahrhaft nichts anderes als nur ein schwacher, blasser, im Grunde erbärmlicher, ernüchternder Abklatsch der Wirklichkeit? Du blickst fragend, verständnislos?

Bist womöglich ein von der Flut ihrer oftmals lächerlichen Ersatzstücke in den Städten ge- und verblendetes Wesen? Bist zweifelsohne beeinflusst, ab und zu womöglich gar beeindruckt davon, dass Du sie überall vorfindest, an oder neben Hoteleingängen, in zahlreichen Auslagen, wo sie symbolhaft für Qualität und Reinheit werben.

Und erst im Advent und zu Weihnachten! Da werden sie, diese zackigen Dinger, teils mit Schweifen versehen, sind er- oder werden beleuchtet, werden in essbarer Form angeboten. Kurz: Sind ubiquitär.

Ich räume ein: Ich habe mich etwas im Ton vergriffen. Mir gefallen diese „Pendants“ ja ebenfalls. Meistens. Und schmecken tun etliche davon auch mir. Bewundere sie, falls beispielsweise auf schmucken Uniformen aufgebracht, erfreue mich an ihnen im Fernsehen, beäuge sie im Internet. Anerkenne, bisweilen beneide, die Werbefritzen, welche sie so reichlich, raffiniert und in offenbar noch zunehmendem Ausmaße verwenden.

Eigentlich, gebe ich nolens volens zu, bin ich ausdrücklich froh, dass sie in ihrer irdischen Form, als Ersatz, als Symbole, dazu beitragen, dass man sie nicht mehr vergisst. Sie dadurch im Erinnerungspool der Menschheit fest verankert sind und bleiben. Wo sie doch stetig unsichtbarer werden. Die wahren, echten. Abge- und verdunkelt wurden und werden. Wegen der Luft- und insbesondere Lichtverschmutzung, die das ernüchternde, beklagenswerte, glücklicherweise „nur“ scheinbare, Verschwinden der Originale aus der Natur bewirken.

Es tut mir ungemein leid um Euch, ihr Sterne! Habt in unzähligen Jahrtausenden die Nächte unserer Vorfahren regiert, zusammen mit dem Mond, habt das Himmelszelt zu etwas Bestaunenswertem, Vertrautem, Verstehenswürdigem gemacht. Habt unsere Altvorderen dazu verleitet, ihn begreifen zu wollen, den Sternenhimmel. Eine Handvoll von ihnen hat ihn sodann seit mehreren Jahrhunderten zunehmend gut vermessen, durchdacht, sogar weitgehend verstanden. Ihn dadurch geadelt.

Und Du, lieber Leser, geschätzte Rezipientin? Bist Du eine Hinguckerin, ein Betrachter? Hast Du schon außerhalb größerer, den Nachthimmel verstörend aufhellender, ihn zuschanden erhellenden Ansiedlungen den Sternenhimmel genossen? Sich an ihm erfreuen wollen? Ihn auf Dich einwirken lassen? Dich dadurch in Fantasie und Anschauung entführen lassen in die kosmischen Weiten, in denen bekanntermaßen unser Heimatplanet staubkorngleich vagabundiert?

Noch gibt es sie … nämlich Gegenden auf „unserem“ Himmelskörper, wo am Nachthimmel die Sterne prächtigst prangen. Noch findet man – auch bei uns! – verschwiegene Gebirgstäler, in denen jenseits der Silhouetten majestätischer Berggipfel und imponierender Höhenzüge die Milchstraße mit ihrer Vielzahl von Sternen von der Existenz einer Welt kündet, die mit den fast ausnahmslos fünf- und sechszackigen Sternsymbolen auf Flaggen, auf einer Unzahl von Produkten, Waffen und Uniformen nur scheinbar etwas gemein hat.

Eine Welt, die ungleich großartiger, erhabener, ist als unsere im Grunde oberflächliche und somit ernüchternde Kunstwelt.

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

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