Werner Schandor
Die St*rne sehen heut sehr anders aus.
Essay

Wo man hinsieht, sieht man Sterne: Immer mehr Gendersterne fluten die Texte von Universitäten, Institutionen und Unternehmen, die sich offen und fortschrittlich geben wollen. Doch sie bedenken nicht, dass der Genderstern unser Denken spaltet und letztlich den Humanismus dekonstruiert.

Als ich im Kindergartenalter war, saß ich in der Kirche manchmal im Chorgestühl im Altarraum, weil mein Bruder ministrierte und ich mit ihm durch die Sakristei in das Gotteshaus gehen durfte. Während der heiligen Messe kniff ich immer wieder die Augen zusammen und blickte in die Kronleuchter, die hoch über mir von der Decke hingen, weil ich, wenn ich die Lider fast, aber nicht ganz zumachte, die Lichter der kerzenförmigen Glühbirnen als strahlende Sterne wahrnahm. Das faszinierte mich. Der Pfarrer merkte es und redete mich mitten in der Messe an, ich solle das mit den Augen sein lassen. Das war mit sehr peinlich, und danach bin ich nicht mehr so gerne in die Kirche gegangen.

Sterne mag ich trotzdem: als Lichtreflexionen auf Fotografien, als Symbole und auch als Metaphern. David Bowie, von dem ich den Titel zu diesem Text geklaut habe, war besessen von der Stern-Metapher. Er posierte als Starman, Ziggy Stardust, Rock’n’Roll Star, the Prettiest Star und wurde ganz am Ende seiner Karriere, als der Krebs ihn schon fast zerfressen hatte, zum Black Star. Das gleichnamige Album, zwei Tage vor seinem Tod erschienen, ist auch sein künstlerisches Vermächtnis.

Für die Rolling Stones hingegen diente der Stern zur Verhüllung ihrer verbalen Schweinigeleien. Ihre Single „Star Star“ aus dem Jahr 1973 sollte eigentlich „Starfucker“ heißen, aber der Präsident ihrer Plattenfirma, der türkischstämmige Ahmet Ertegun, bestand darauf, den Titel zu ändern – nicht jedoch den Text, wo es im Refrain recht monoton zur Sache geht: „You’re a star f*cker, star f*cker, star f*cker star“, singt Mick Jagger im Duett mit Ron Wood.


Verkehrte Verwendung

Die längste Zeit kennzeichnete der Asterisk, wie das Sternchen als Typografiezeichen heißt, entweder Anmerkungen in Fußnoten oder zensurierte Wörter bzw. zensurierte Wortteile. Oft wurden in Texten Wörter, die Anstoß erregen könnten, mit Sternen keusch unkenntlich gemacht, und jeder wusste dennoch, was sich dahinter verbarg: „Sag deinem Hauptmann, er kann mich am Ar***e lecken!“

Mit dem Genderstern kehrt sich diese Verwendung um: In Anreden wie „Leser*innen“ kennzeichnet der Stern nicht etwas Obszönes, das verdeckt werden soll, sondern ihm wird vielmehr die Funktion zugewiesen, auf etwas hinzudeuten, das sich in der Sprache scheinbar nicht benennen lässt, nämlich Trans- und Intersexualität, die vom binären Schema der Biologie, männlich / weiblich, abweicht. Der Genderstern korrespondiert dabei mit dem Stern, den man am Computer bei einem Suchbegriff als Platzhalter setzen kann, wenn man das Ergebnis offen halten will.

In einigen Kulturen ist das sogenannte dritte Geschlecht historisch etabliert, etwa in Thailand. Dort werden Kathoyes als weibliche Männer zwar gesellschaftlich nicht umjubelt, aber in ihrer Besonderheit dennoch anerkannt. In Europa und den USA hingegen wird Intersexualität vor allem als Störung der Biologie wahrgenommen. Intersexuelle, Transsexuelle und andere Vertreter der Geschlechtsdiversität wurden und werden oft immer noch als pathologische Phänomene betrachtet und behandelt. Oder, wie es am Beginn von Jeffrey Eugenidis‘ Roman „Middlesex“ heißt: „Specialized readers may have come across me in Dr. Peter Luce’s study, ‘Gender Identity in 5-Alpha-Reductase Pseudohermaphrodites’, published in the Journal of Pediatric Endocrinology in 1975.“

Seit die Gender-Studies die Geschlechtereinteilung in männlich und weiblich gerne grundsätzlich als soziale Schimäre dekonstruiert hätten, wurde der Boden bereitet für eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz von jenen, die sich nicht ins Mann-Frau-Schema fügen können oder wollen bzw. die ihre Geschlechtsidentität im Lauf des Lebens wechseln.

Dieses Bemühen um Anerkennung ist aus meiner Sicht das einzig wirkliche Verdienst der akademischen Guerilla rund um Gender-Hohepriesterin Judith Butler. Ungleich höher ist jedoch der Schaden, der von ihrer Theorie der kulturellen Konstruktion biologischer Tatsachen ausgeht: Er lässt das universitäre Streben nach Rationalität langsam, aber sicher zerbröseln – zumindest in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die in schwachen Stunden immer wieder anfällig für Abstruses sind.


Penetrantes Signal

Vor lauter Begeisterung über diese Errungenschaft der Gender-Studies, und weil sich in Deutschland 0,0043 % der Bevölkerung (oder in absoluten Zahlen: 300 von 83,000.000 Einwohnern) offiziell als „divers“ bezeichnen und in der Sprache angemessen repräsentiert sehen wollen, wird mit zunehmendem Eifer der Genderstern in Anreden und in Berufsbezeichnungen gesetzt. Logisch, wir sind ja alle für die gute Sache, Daivörsiti und so. Und es hängen immer mehr Menschen (zumindest in vielen Redaktionen und Institutionen) dem weitverbreiteten Glauben an, wonach das grammatische Geschlecht in seiner generischen Form auch das biologische Geschlecht und erst recht das individuelle geschlechtliche Selbstverständnis zum Ausdruck bringe, abbilde und festschreibe.

Dort also, wo die Ansicht herrscht bzw. frauscht, die böse deutsche Muttersprache sei irre patriarchalisch, muss folgerichtig neben dem generischen Femininum auch das noch unbenannte Dritte benannt werden, wenn es um Berufsbezeichnungen oder die Anrede von Menschen (m/w/d) geht.

Auch wenn ich mit dieser Meinung in meinem politischen Umfeld auf der beargwöhnten Seite stehe (die Grün- und Linksparteien gendern wie die Blöden, ihre Wähler sind Umfragen zufolge von der Sinnhaftigkeit aber nur zur Hälfte überzeugt): Die Kennzeichnung aller möglichen Geschlechter in eine gendermäßig dekonstruierte Sprache hineinzutragen, birgt auch die Gefahr, den Humanismus selbst zu durchlöchern, bis nichts mehr davon übrig ist.

Bereits das konventionelle „Gendern“ mit Beidnennung oder Binnen-I geht implizit davon aus, dass man 24 Stunden am Tag sein Menschsein darüber definiert, welchem Geschlecht man (nicht) angehört. Und der Genderstern setzt dem Ganzen noch die Krone auf und lenkt den Blick unausweichlich auf die Frage der Geschlechterzugehörigkeit. Das macht die Sache ganz schön unlocker.


Die Wahrnehmung der Rassisten

Vielleicht verdeutlicht ein Blick in die Geschichte und auf eine frühere Form der sprachlichen Schubladisierung, warum die Aufspaltung der Menschen nach Kriterien der Gender-Studies in Männer und Frauen plus Transgender-Personen einen unguten Beigeschmack annehmen kann: Vor 100 Jahren war es in Deutschland und Österreich relevant, sich seines „Volkes“ und seiner „Rasse“ bewusst zu sein. Die Wahrnehmung konzentrierte sich nach und nach auf die Rassenfrage in ihrem nationalistischen und rassistischen Sinn. Das Augenmerk richtete sich auf die unterschiedlichen Phänotypen der Menschen, und die Unterschiede wurden immer stärker mit völkischen Fragen verknüpft.

Der Gedanke, der sich damals in weiten Teilen der Bevölkerung durchgesetzt hat bzw. offiziell vorgeschrieben wurde, war, dass es „Rassen“ gäbe, die wertvoller seien als andere – über allem die Arier germanischen Zuschnitts – und andere, die „minderwertig“ wären, allen voran die „jüdische Rasse“, die an allem Übel in der Welt schuld sei. Über Jahre und Jahrzehnte hinweg wurden die Leute darauf konditioniert, in ihren Mitmenschen nicht primär Menschen zu sehen, sondern Rassen- und Volksangehörige: Arier, Slawen, Juden … Herrenmenschen und Untermenschen. Der völkische Rassismus gab den Rahmen für das Denken vor, bis er schließlich in Paragraphen festgehalten und dadurch auch behördlich handlungsleitend wurde.


Abhängen mit Schindel

Am Beginn der goldenen 1990er-Jahre, als weder Genderthemen noch der nunmehr postkoloniale Rassismusdiskurs eine Rolle im öffentlichen Leben spielten, sprach ich nach einer Lesung den Dichter Robert Schindel an. Meine Freundin und ich unterhielten uns prächtig mit dem Autor und sackten in der Bar des Hotels, in dem er untergebracht war, mit ihm ab. Irgendwann zu sehr später Stunde kam das Gespräch auf sein Geburtsdatum – den 4.4.44 – und darauf, dass er während der verbleibenden 13 Monate der Naziherrschaft als Baby versteckt worden sei.

Ich, blauäugig: „Warum?“ Darauf Schindel: „Na, schau mich an!“ Und ich besah mir sein Gesicht, seine dunklen Locken, seine Nase, die ziemlich groß und leicht gebogen war, seine dunklen Augen und seinen olivenfarben grundierten Teint – und erst da fiel es mir auf: Schindels Gesicht entsprach fast klischeehaft dem Erscheinungsbild, das von der NS-Propaganda „typisch jüdisch“ genannt worden wäre.

Ich hatte mich stundenlang mit ihm unterhalten, ohne auch nur einen Augenblick über sein Aussehen nachzudenken. Es war mir völlig gleichgültig gewesen, einfach, weil es in meinem Denken keine Rolle spielte (und nach wie vor spielt), wer welchem Klischee entspricht und mit welchem Vorurteil das Klischee aufgeladen ist.

Die „Rassenkunde“, die Menschen nach ihrer Physiognomie einteilt und diese mit bestimmten charakterlichen Merkmalen in Verbindung bringt, ist totaler Nonsens. Dass diese Verirrung der Anthropologie vor 100 Jahren überhaupt zu akademischen Ehren gelangen konnte, kann einen dazu bringen, kulturwissenschaftlichen Fächern generell mit Skepsis zu begegnen: Zu leicht ist es, diese Disziplinen mit ideologischen Dogmen zu verbrämen und dies als objektive, stichhaltige Weltsicht zu verkaufen.

An das Erlebnis mit Robert Schindel muss ich denken, wenn ich einen mit besten Absichten platzierten Genderstern in einem Text sehe. Denn durch die Verwendung des Sterns wird man beim Lesen in ein Denkschema gedrängt, das an die Stelle einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen eine Kennzeichnung setzt, die einen Unterschied herauskehrt und die Geschlechter polarisiert. Und diese Wahrnehmung wird im Genderdiskurs ähnlich wie im rassistischen System des frühen 20. Jahrhunderts allmählich, aber doch mit Wertungen verbunden. Nur jetzt halt als volle Retourkutsche.

Man sieht das schon bei Judith Butler: In ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (Originaltitel: „Gender Trouble“) setzt sie den Ausdruck „die Frau(en)“ stets unter Anführungszeichen, um damit zu verdeutlichen, dass alle Bilder und Begriffe, die man sich vom Weiblichen macht, unter Vorbehalt zu verstehen sind. Im Gegenzug scheint für Butler alles, was mit dem Mann und dem Männlichen zu tun hat, in Beton gegossen, denn an keiner Stelle ist von einem „Mann“ unter Anführungszeichen die Rede.


A Star is born

Judith Butler kommt in ihrem Buch dennoch zum Schluss, dass es gar keine fixen Identitätsgruppen gäbe: Frauen, Männer, Transbinäre, Heteros, Schwule, Lesben, Dragqueens – die Grenzen seien fließend. Kann gut sein, dass niemand das sperrige Buch so weit gelesen hat, denn in jener Version des Genderfeminismus, die heutzutage den Diskurs beherrscht, steht eindeutig der Mann und insbesondere der „alte weiße Mann“ als Inbegriff allen Übels ganz unten auf der Stufe der moralischen Wertigkeit.

Der (alte, weiße) Mann ist schuld am zerstörerischen Patriarchat, an Rassismus, an Gewalt und Krieg, an der ökologischen und ökonomischen Ausbeutung der Welt. Und dies mit einer Ausschließlichkeit, die an die große jüdische Weltverschwörung erinnert. Der Fehlschluss der Gender-Feministinnen ist allerdings ein ähnlicher wie jener der Antisemiten: Aus der Tatsache, dass es die Familie Rothschild gibt, lässt sich nicht ableiten, dass jeder Jude reich und einflussreich wäre. Und schon gar nicht lässt sich aus dem Reichtum der Rothschilds ableiten, dass „die Juden“ am Elend der Welt schuld wären.

Ebensowenig lässt sich aus der Tatsache, dass die Machtzentralen weltweit von Männern dominiert werden, ableiten, dass „die Männer“ an der Macht sitzen. Im Gegenteil: Die überwiegende Zahl der Männer war und ist ebenso machtlos in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen verfangen wie alle anderen Menschen. In der europäischen Geschichte zum Beispiel diente die Mehrheit der Männer die längste Zeit als Kanonenfutter und Leibeigene, als Hackler und Untertanen. Aber das historisch und soziologisch differenzierte Denken ist nicht eben die Stärke der Gender-Studies, die alles erst einmal über den groben Kamm der Geschlechterzugehörigkeit scheren, von der sie paradoxerweise behaupten, sie dürfe keine Rolle spielen.


Das neue Kastendenken

Im neuem Kastendenken kommt als Nächstes die stets ausgebeutete Frau zu Ehren. Sie ist seit Jahrtausenden unterdrückt, benachteiligt und Leidtragende von physischer und sexueller Gewalt durch den Mann. Sie hat keine Verantwortung für den Zustand der Welt zu übernehmen, denn sie ist ja seit immer und ewig das Opfer, und kann dem Mann, den sie in allen Industrieländern trotz ihrer Ausbeutung jeweils um mehrere Jahre überlebt, moralisch jederzeit eine lange Nase drehen.

Eine ausreichend große Zahl von Machos, Grapschern, Traditionalisten und echten Arschlöchern macht es den Gender-Feministinnen leicht, die Opferrolle hochzuhalten. Daher wird auch gerne übersehen, dass die Gleichberechtigung gesetzlich längst festgeschrieben ist und das knöchern patriarchale Bild, das gerne von der Gesellschaft gezeichnet wird, der Realität in Österreich und Deutschland um ein bis zwei Generationen hinterherhinkt. Zumindest was die aufgeklärte europäische Bevölkerung betrifft.

An der Spitze der Geschlechterhierarchie der Gender-Studies steht neuerdings jedoch sternenhaft strahlend der inter- und transsexuelle Mensch, der als doppeltes Opfer einerseits der binären Biologie und andererseits der „heteronormativen“ Sexualität gilt und nun in den Genuss der besonderen Zuwendung und Huldigung kommen soll. Schließlich verkörpert kein anderes Wesen so sehr die Ideen von Judith Butler und ihren Kampfgenossinnen. Der neue Übermensch ist *****superior-mäßig.


Sind Intersexuelle Sternenwesen?

In manchen Kulturen werden intersexuellen Menschen engelhafte Züge zugesprochen. Sie gelten als Wesen aus einer anderen Welt – Sternenwesen wie David Bowies Kunstfigur Ziggy Stardust in ihrer ganzen androgynen Zwitterhaftigkeit. An dieses Thema knüpft der Sänger in seinem späten Musikvideo zum Song The Stars (Are out Tonight) aus dem Jahr 2013 an. Bowie und Tilda Swinton spielen darin ein alterndes Ehepaar, das von seltsamen Gestalten heimgesucht wird. Im Video löst Bowie nach und nach die binären Kategorien von Mann und Frau, Stars und Normalos, Erdenbewohnern und Außerirdischen, Alt und Jung auf und lässt die Rollen ineinander übergehen. Das wirkt anfangs unheimlich und befremdlich, deutet aber auch an, dass es jenseits der Dichotomien etwas gibt, das über der Zweiteilung unserer menschlichen Geschlechtszuordnung stehen könnte: eine Annäherung der vermeintlichen Gegensätze.

Meine Hoffnung als Humanist wäre, dass dieses transbinäre Etwas der Mensch an sich wäre – vor seiner Aufspaltung in Adam und Eva. Die Hardcoreversion der Gendertheorie aber lehnt den Humanismus als angeblich patriarchales Narrativ ab und hat offenbar eine andere Lösung parat: Anstatt die Menschheit auf ein menschliches Eines herunterbrechen zu wollen, soll sie in zwei konträre Lager aufgespaltet und das Heil einem übergeschlechtlichen Dritten zugeordnet werden – dem transgender-intersexuellen Wesen, das sich allen Kategorien entschlägt.

Es ist ein Wesen ohne eindeutige Geschlechtsorgane und vorab definierbare Geschlechtsrolle und unmöglich heterosexuell. Das neue Ideal ist genderfrei und rollenungebunden. Ein echter Star! Was dieses transbinäre Genderideal mit dem gewöhnlichen Volk gemein hat, sind sein Kopf, seine Gliedmaßen, seine inneren Organe – und zwischen den Beinen auf jeden Fall der Anus, ohne den wir Säugetiere vor aufgestauten Stoffwechselprodukten explodieren würden. Und das führt mich zur nächsten Lesart des Sternensymbols, das für das sogenannte dritte Geschlecht zum Einsatz kommt.


Im Sternbild des Anus

Im Jänner 2000 präsentierte ich als Herausgeber eine der ersten Ausgaben des Magazins „schreibkraft“ im Literaturhaus Wien. Unser literarischer Stargast war der Schriftsteller Franzobel. Bevor er aus seinen Texten las, stellte er auf dem Podium eine Betrachtung über den Stern an, den die Zeitschrift als i-Punkt in ihrem Logo führt. Franzobel sagte, er habe sich schon immer gefragt, wofür der Stern als Symbol stehe. Seine Erklärung fiel franzobelisch deftig aus: Der Stern sei seiner Ansicht nach ein Abbild des Schließmuskels, der sich sternförmig um den After ringt.

Auch an Franzobels Interpretation muss ich denken, wenn ich den Genderstern in einer Anrede sehe. Als Afterring gelesen, wäre der Genderstern tatsächlich nicht nur Verweis auf eine Ideologie, sondern auch eine anatomische Verortung der gegenwärtigen Bemühungen. Denn wie die Hunde beschnuppern wir uns am Gender. Und das immer öfter: Nicht mehr menschliche Werte, Interessen, Gedanken, Träume sind wesentlich für unser Sein, sondern was wir zwischen unseren Beinen tragen: unsere sexuelle Orientierung, unsere Zugehörigkeit zu einem Geschlecht und nicht zuletzt unseren moralischen Aufenthaltsort im Koordinatensystem der Gendergalaxie.

Mir ist das zu eindimensional, genitalfixiert und in den Auswirkungen zu psychotisch. Unser Leben in der wohlhabenden, urbanen Bobo-Blase ist bereits so overgendered, dass man verzweifelt ausrufen möchte: „Sag deinem Hauptmann/deiner* Hauptmänn*in, er/sie* soll mich am G**der l***n!“


Noch zwanghaft heterosexuell?

Die Schizophrenie an der Sache ist folgende: Da wird von Butlers Theorie der unterschiedliche Habitus von Männern und Frauen zu Mummenschanz erklärt („Geschlechterrollen sind lediglich performative Akte“), und dann schwelgt die Propaganda des Gender-Feminismus genüsslich in überkommenen Rollenbildern, wo es auf der einen Seite den aggressiven, dominanten Mann gibt und auf der anderen die in die Passivität gedrängte Frau, die sich ohne Förderung und Quoten gesellschaftlich nicht durchsetzen kann.

Dazwischen gibt es die kämpferische Frau, die zornig ihre Rechte einfordert, und zusätzlich die transsexuellen Idealmenschen, die als Zünglein an der Waage gegen die bösen „Cis-Männer“ (klingt schon dissonant!) herhalten müssen. Garniert wird das Ganze mit einer auffälligen Abwertung der Heterosexualität. Denn wo die auf das andere Geschlecht bezogene Liebe nicht als normal, sondern als „normativ“ erlebt und bezeichnet wird, dort wird einem der seit Millionen Jahren übliche Weg der biologischen Reproduktion ziemlich madig gemacht.

Kein Wunder, dass Männer und insbesondere „alte, weiße Männer“ ausschließlich als privilegierte, ausbeutende, potenziell vergewaltigende Subjekte beschrieben werden, aber selten als Menschen, denen frau – Gottseibeiuns – mit Zuwendung begegnen könnte (außer es sind fügsame homosexuelle Männer). Schwingt in der Beifügung „normativ“ nicht ein klein wenig mit, dass heterosexuelle Liebe von denen, die von „Heteronormativität“ sprechen, als irgendwie zwanghaft und irgendwie sozial bedenklich wahrgenommen wird? Ist das jetzt die Revanche für die jahrhundertelange Verteufelung der Homosexualität als krank und abartig? –

Zum Glück gibt es einen Ausweg aus dem sexuellen Dilemma. Und das sind technische Lösungen: künstliche Befruchtung, Retortenbabys, Adoptionen aus Schwellenländern und eben die jederzeit verfügbare Option, sein Geschlecht einfach zu wechseln.


Technoide Träume

Es sind letztlich tief technoide Träume, die die Heterosexualität als „normativ“ zu diskreditieren versuchen. In ihnen verlieren sich biologische Gegebenheiten aus den Augen, und es wird konsequent ignoriert, dass die kulturellen Geschlechterrollen von einer vermutlich sehr großen Mehrheit nicht als grausame Einschränkung erlebt werden.

Und das ist der zweite Aspekt, den ich an der Sprachpropaganda der Gender-Studies unheilvoll finde: Dass sie dazu tendiert, die Ausnahme der Intersexualität zur neuen Norm hochzustilisieren und dadurch zahlreiche junge, leicht zu beeindruckende Menschen potenziell ins Unglück stürzt.

Medienberichten zufolge fühlen sich immer mehr Jugendliche in Europa in ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit verunsichert. Wen wundert’s, wenn die an eine offene Gesellschaft gut angepassten Mann-Frau-Modelle der Gegenwart auf zwangsneurotische Weise dauerhinterfragt werden. Im 18. Jahrhundert reichte ein Buch – Goethes „Werther“ –, um eine neue Generation in ihrer Existenz so zu verunsichern, dass sie ihrem fiktiven Idol reihenweise nacheiferten. Heute weckt der androide Chique hübscher Transsexueller, denen derzeit eine steigende mediale Aufmerksamkeit gilt, die Sehnsüchte nach dem grüneren Gras am anderen Ufer.


Schweden wird transgender

Medial aufgebauscht und mit sprachlichen Kennzeichnungen in alle Schriftstücke getragen, strahlt die Gendersonne in immer mehr Lebensbereiche hinein. In diesem Sog entschließen sich auffällig viele Leute in ihrer jugendlichen Desorientierung dazu, ihr Geschlecht zu wechseln. Sehr massiv ist das anscheinend in Schweden der Fall. Zwischen 2008 und 2018 ist die Zahl der Mädchen zwischen 13 und 18, die sich in Jungs umwandeln lassen wollen, um sagenhafte 1.500 % gestiegen, wie der linke englische „Guardian“ im Februar 2020 berichtete – allerdings ohne die absoluten Zahlen zu nennen.

Ein Blick auf die statistischen Grafiken des Swedish National Board of Health and Welfare klärt auf: Wenn man die Kurven auf die 10 Mio. Einwohner von Schweden hochrechnet, kommt man auf folgende Zahlen: 2008 waren es ungefähr 500 Mädchen unter 18, bei denen „Störungen der Geschlechtsidentität“ diagnostiziert wurden, 2018 waren es rund 7.500. Aber auch bei den 18- bis 24-jährigen Frauen und in abgeschwächter Form bei den Jungs und Männern bis 29 gab es deutliche Steigerungen in der Diagnose F. 64 der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD-10).

Über die Gründe kann man einstweilen nur spekulieren. Im Land der gendergerechten Schneeräumung, wo 2015 das auf Intersexuelle abzielende, neutrale Personenpronomen „hen“ ins offizielle Wörterbuch aufgenommen wurde und 2018 die medizinisch nötigen Schritte für eine Geschlechtstransformation gesetzlich erleichtert wurden, soll sich anscheinend jeder frei aussuchen können, welche Geschlechtsidentität gerade cool genug für „hen“ ist. Es gibt seit 2018 keine verpflichtende Psychotherapie vor dem Eingriff mehr („Wir sind ja nicht krank!“), volle Unterstützung bei den Kosten für die Hormonbehandlung bzw. die chirurgische Verwandlung sowie Senkung des Alters, in dem man über sein Geschlecht bestimmen kann, auf 12 Jahre.


„Hätte ich es nur bei den homoerotischen Episoden belassen“

Was aber, wenn man die Schwelle zur Geschlechtsumwandlung zu leichtfertig gesenkt hat? Was, wenn 7.000 von den 7.500 pubertierenden Mädchen, die sich in Schweden 2018 in ihrem Körper schlecht aufgehoben fühlten, von sich aus gar nicht auf den Gedanken gekommen wären, es könnte mit ihrer Geschlechterrolle etwas nicht in Ordnung sein, wenn das Thema nicht medial hochgekocht werden würde? So wie sich beobachten lässt, dass Medienberichte über Selbstmorde weitere Selbstmorde nach sich ziehen („Werther-Effekt“), könnte auch der sprachliche und mediale Hype um die Transsexualität als kulturell begrüßte Genderoption kontraproduktiv wirken.

Wie viele von den Tausenden jungen Schwedinnen, die sich zu schwedischen Jungs umbauen lassen wollen, werden ihren Schritt in einigen Jahren bereut haben und sich in den Hintern beißen? Wie viele werden sich denken: Mensch, hätte ich es einfach bei den homoerotischen Episoden belassen – gleich wie meine Eltern, als sie jung waren!

Der „Guardian“ berichtet, dass schwedische Ärzte und Psychologen zunehmend Zweifel am eingeschlagenen Weg äußern; und im Artikel kommen Betroffene zu Wort, denen die operative Geschlechtsumwandlung massive psychische Probleme beschert hat, und die diesen Schritt jetzt zutiefst bedauern. Vorschnell und ohne psychologische Begleitung das Geschlecht operativ an die pubertären Eingebungen hormoneller Achterbahnfahrten anzupassen, ist vermutlich auch in der offensten aller Gesellschaften nicht für jeden so leicht zu verkraften, wie manche Hardcore-Transaktivisten glauben machen wollen. Im Gegensatz dazu empfiehlt der österreichische „Verein für Transgender-Personen“, TransX, auf seiner Homepage, den Weg langsam zu gehen: „Eine unserer Beraterinnen hat die Frage ‚wann soll ich operieren?‘ oft lakonisch beantwortet: ‚Dann, wenn’s nicht mehr anders geht.‘ Eine noch präzisere Einschätzung ist kaum möglich.“


Blindlings wohlmeinend

Die meisten Menschen, die den Genderstern in ihren Texten verwenden, wollen Offenheit, Verständnis und Liberalität signalisieren. Sie wollen etwas für die Rechte von Frauen und Anerkennung von Intersexuellen tun. Aber sie lenken das Denken durch die Verwendung des Symbols in eine vordefinierte Richtung, die alles Sein am Rahmen der sexuellen Zugehörigkeit ausrichtet. Ist es wirklich das, was unser Leben als Mensch bis ins Letzte ausmacht: Ob wir uns als Mann, Frau oder etwas Drittes begreifen?

Aus meiner Sicht ist der Genderstern, der jedes mit ihm gekrönte Wort in männlich/weiblich spaltet, die Männer verteufelt, die Frauen zu ewigen Opfern stilisiert und die Transsexualität über alles stellt, das postfaktische Kuckucksei der Gender-Studies, aus der eine neue Phase der Irrationalität und Inhumanität schlüpfen könnte wie vor 100 Jahren der völkische Rassismus aus der Rassentheorie.

Die Rassentheorie war zwar völlig gaga, aber zu ihrer Zeit an den Universitäten ebenso anerkannt wie heute die Gender-Studies. Sind diese nun der Vorbote für eine technoide puritanische Gesellschaft, für die eine auf das andere Geschlecht bezogene Sexualität, die wir Wirbeltiere seit Millionen Jahren pflegen, ein rein kulturelles Zwangsverhalten, ein klinisch-pathologisches Unding ist, das es zu unterbinden gilt?

Vernünftiger und weniger tourettehaft, als in Schriftstücken die sternförmigen Reviermarken obskurer Geschlechtsansichten zu platzieren, wäre es meines Erachtens, sich weiterhin mit aller Kraft politisch und gesellschaftlich für die Anliegen der Gleichberechtigung in allen Bereichen einzusetzen – gerne auch mit Quoten.

Es gibt so viele unqualifizierte Männer auf höheren Posten, warum soll man diese Positionen nicht anteilsmäßig mit unqualifizierten Frauen und Transgenderpersonen besetzen? Aber warum nur die höheren Posten? Warum nicht auch jene bei der Müllabfuhr, Kanalreinigung und als Asphaltarbeiter auf der Autobahn?

Quoten würden zwar nicht elementar zu einer besseren Welt beitragen, weil sie (analog zu den Gender-Studies) die fatale Steigerungslogik unseres Wirtschaftssystems in keinster Weise hinterfragen, aber sie würden vermutlich auch nichts weiter verschlechtern. Vielleicht könnte man sich dann wieder entspannt auf den guten, alten Humanismus besinnen, der Menschen in ihrer individuellen Würde wahrnimmt und sie als gleichwertig betrachtet – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Sprache, wie es in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ heißt.
Rassisten und oberflächliche Menschen bewerten andere nach ihren äußerlichen Merkmalen. Transaktivisten und blindlings Wohlmeinende dagegen starren wie geblendet auf das Gender und setzen den Stern.

So wie der Pfarrer mir als Kind vorgeschrieben hat, wie ich ins Licht zu sehen hätte, so sagt nun ein Teil der akademischen Elite den Deutschsprechenden, nach welchen Kriterien sie einander sprachlich zu rastern hätten. Nur dass mir der Pfarrer die Sterne verboten hat, und die Genderist*innen wollen sie einem reindrücken. Beides ist eine Zumutung.



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Werner Schandor

Werner Schandor ist Texter, Autor und Hochschuldozent in Graz. Er studierte Germanistik und Sozialpädagogik an der Uni Graz und ist seit 1995 in der PR tätig. Er hat Lehraufträge am Department „Medien & Design“ der FH Joanneum sowie am Institut für Germanistik der Uni Graz. 2020 erschien sein Buch „Wie ich ein schlechter Buddhist wurde. Essays, Glossen und Polemiken“ in der Edition Keiper. Weitere Infos: www.textbox.at

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