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Ronald Weinberger
Die Äonenbrücke
Lange Zeiträume sind Hürden
für den Hausverstand.
Essay

Der sich als Homo sapiens dünkende, indes längst als Homo destructans agierende Mensch ist in vor Jahrzehntausenden beginnenden Migrationswellen von Afrika aus in praktisch alle besiedelbaren Regionen unseres Planeten vorgedrungen. 

Landbrücken, wie die vor etwa vierzig- bis zehntausend Jahren bestehende zwischen Ostsibirien und Alaska dienten dem zügigen Weiterkommen. Das Überbrücken weiträumiger Entfernungen zur See durch die Austronesier, die Ureinwohner der Pazifikwelt, führte den Menschen bis in die entferntesten Winkel der Erde: Vor circa 1.000 Jahren gelangte er derart bis Neuseeland.

Dort traf er unter anderem auf Tiere, die einzig ebenda existieren und hinsichtlich ihrer zeitlichen Abstammung eine spezifische Rolle einnehmen: Brückenechsen. Sie gelten als lebende Fossilien, als Überlebende einer Spezies, deren Blütezeit, mit damals weltweiter Verbreitung, sich vor äonenhaften 200 Millionen Jahren zu entfalten begann. Die Anfangsphase der Entwicklung der Gattung Homo vor 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren nimmt sich zeitlich dagegen mehr als bescheiden aus.


Blicke in kosmische Weiten und Zeiten

In einem winzigen Abschnitt des Sternbilds Jungfrau befindet sich, in 200 Millionen Lichtjahren Entfernung, ein Galaxien-Duo, das mit den heutzutage leistungsfähigsten Teleskopen bildlich gut darstellbar und messtechnisch passabel untersuchbar ist. Es firmiert unter der Bezeichnung Arp 248, wobei Arp für den früheren Astronomen Halton Arp steht und die Zahl eine Katalognummer in einem seiner Galaxienkataloge darstellt.

Bemühen wir nun mehrfach unsere Fantasie und überbrücken – in Nullzeit! – Raum und Zeit. Wir versetzen uns damit in die Nähe dieser 2 Galaxien, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Dies wäre nicht bloß ein plötzlicher 200 Millionen Lichtjahre langer Distanzschritt, sondern zugleich ein Zeitschritt in genau diesem Ausmaß, denn der Anblick des Galaxien-Duos, das sich uns dort bietet, würde mit Lichtgeschwindigkeit 200 Millionen Jahre unterwegs sein, um von uns genauso in der Jetztzeit wahrgenommen zu werden.

Da wir angenehmerweise über eine überbordende Fantasie verfügen, setzen wir noch eins drauf und springen zudem zeitlich jeweils maximal Dutzende Millionen Jahre vor und zurück, und studieren dabei andauernd das Aussehen dieses Gebildes, um festzustellen: es ändert sich markant! Mal stehen sich die 2 Galaxien näher, schrammen sogar knapp aneinander vorbei und formen sich dabei etwas um, mal sind sie weit voneinander entfernt. Und zur von uns ursprünglich gewählten Ankunftszeit, 200 Millionen Jahre vor unserer Gegenwart, haben sie einen auffallend weiten Abstand. Was wir da sehen, verschlägt uns den Atem.


Wie stets obsiegt die Zeit

Wir dürfen nunmehr getrost in das Hier und Heute zurückkehren, da wir Folgendes verstanden haben: Das, was wir in 200 Millionen Lichtjahren, sprich vor 200 Millionen Jahren in unserer den Raum und die Zeit überwindenden Fantasiereise wahrnehmen konnten, entspricht exakt dem, was wir heutzutage sehen beziehungsweise messen. 

Das wechselseitige Aneinandervorbeifliegen der beiden Galaxien, eine Art galaktisches Pas de deux, forderte offenbar seinen Tribut durch eine der Grundkräfte der Natur, nämlich der Gravitation. 

Sie zupft und zerrt beim Vorbeifliegen der beiden, reißt wechselseitig Material aus den Galaxien – und bildet im gegenständlichen Fall von Arp 248 ein kosmisches Wunder: Zwischen beiden Galaxien spannt sich nämlich eine gigantische Brücke aus Licht!

Es handelt sich um eine Verbindung, eine gut 200.000 Lichtjahre (etwa 2 Trillionen km!) lange Brücke aus unzähligen strahlenden Sternen, denen leuchtende Gas- und Staubwolken beigemengt sind. Die wohl längste Brücke im Universum! Erbaut von der Gravitation.

Sie ist außerordentlich langlebig, wird hunderte Millionen Jahre existieren, dabei aber zunehmend an Länge einbüßen. Das Galaxien-Paar – die beiden Brückenendpfeiler -, so zeigen wissenschaftliche Einschätzungen, wird sich nach ungefähr 1 Milliarde Jahren gravitativ vereinen und künftig eine einzige große Galaxie bilden. 

Das Material, aus dem die Brücke besteht, mithin all die schier unzähligen Sterne, wird sich größtenteils in den Tiefen des Alls verlieren.

Wir dürften folglich versucht sein zu resümieren: Tand, Tand, ist alles Gebilde selbst im Sternenland. Obgleich es immerhin Äonen lang Bestand hat. Wie die Brückenechsen.

Sollten Sie diese wundersame Brücke ansehen wollen: https://www.nasa.gov/sites/default/files/thumbnails/image/hubble_arp248_potw2244a.jpg

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Reinhard Walcher

    Wunderbare Geschichte, wunderbarer Kosmos, wunderbar beschrieben, wundervolles Foto! Dazu noch die Brückensymbolik … hoffentlich nicht religiös gemeint! Natürlich nicht, weiß ich ja.

  2. Helmut Schiestl

    Und ob es da ein paar liebe Menschlein gibt? Nie werden wir’s erfahren! Schöner Text!

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