Ronald Weinberger
Alles alte Knacker!
Erinnerung

War in Wien sehr nett mit der alten Bande schrieb er. Er, dem ich den Ausdruck Bande nicht zugetraut hatte, jüngst in einem E-Mail an uns andere drei Banden(?)mitglieder. So schreibt, derart spricht, doch kein bald 80-Jähriger aus gutem Hause! Hätte er auch, falls mich mein Gedächtnis nicht trügt, nie für angebracht gefunden – in all den Jahrzehnten. Ach, die Erinnerungen, selbst die vermeintlichen…

Rare Zusammenkünfte namhaft alter Männer, die einstens beruflich zusammengeschweißt schienen, womöglich sogar waren, haben es in sich. Wehmütig könnte man(n), sollte man(n), werden! Ist indes, für mich, vielleicht noch zu früh dafür. War ja erst anfangs Oktober gewesen, dass sich unser Quartett zusammengefunden hatte. Zum ersten Mal, nach Jahrzehnten. Etwa 3 ½ Jahrzehnten. Eine halbe Ewigkeit. Freilich nicht so ausgeprägt ewig für unsereins. Denn die Verinnerlichung immenser Zeiträume zählte gewissermaßen beinahe zu unserem täglichen (beruflichen) Brot. Damals.

Treffen in Wien. In einem unweit des Stephansdoms gelegenen urgemütlichen Stadtheurigen. Am Abend. Auf Klappstühlen. Im Freien, versteht sich. Man(n) bedarf ja noch längst keines warmen Ofenbankerls!

Da saßen sie nun: Der 80-jährige Gerhard (Initiator und Organisator unseres Treffens) – bereits seinerzeit Besitzer umfangreichen naturkundlichen Wissens, mit der Fähigkeit zu hoher Konzentration und dem Hang zu einer gewissen Alltagsentrücktheit. Sodann der eingangs zitierte Bald-80er Herbert – ein Paradebeispiel für Kultiviertheit, soziale Empathie und herausragendes Organisationstalent. Weiters der in wenigen Monaten volle 79 Jahre alt werdende Hans – Prototyp eines mit rascher Auffassungsgabe und dazu passendem Intellekt gesegneten, indes eher mundfaulen Homo sapiens. Und der mitten im 76. Lebensjahr befindliche und damit im Vergleich zu den anderen ein junges Früchtchen seiende Ronald – der zur Schwatzhaftigkeit neigende, aber vermutlich nicht gänzlich unkreative Schreiberling dieser Zeilen.

 

Kurzum: Alles alte Knacker. 

Wir waren aber einmal jung und sogar tatkräftig gewesen! Alle viere. Und wir hatten 5 Tage die Woche miteinander zu tun. In der geschilderten Zusammensetzung seit Anfang 1977, für etwa 7 Jahre, bis wir umziehen durften. Ins räumlich großzügige Institut am westlichen Stadtrand. In den 8. Stock eines neu errichteten Gebäudes. Da hieß es raus aus den drei jahrhundertealten Souterrain-Kammern (mit Blick nach Süden auf einen weiträumigen parkähnlichen Platz), in denen wir zugange waren. 

Herbert in der östlichsten Kammer, Gerhard und ich in der mittleren, und Hans in der westlichsten. Stets standen unsere Türen offen – nicht bloß in übertragenem Sinne – und gleichermaßen Ohren plus Augen.

Kennen Sie die relativ kurze Gasse, welche unmittelbar östlich des Tiroler Volkskundemuseums bei der Hofkirche die Universitätsstraße mit der Museumstraße verbindet? Wir reden von Innsbruck, by the way. Von der Angerzellgasse. Und von dem langen und wuchtigen Uraltgebäude entlang der aus gutem Grunde so genannten Universitätsstraße, das seinerzeit, bis vor gut 40 Jahren, eine Reihe von Universitätsinstituten beherbergte. Darunter das Institut für Astronomie, dem bis heute eine im Botanischen Garten zur (besuchenswerten!) Historischen Sternwarte mutierte Außenstelle zugehört. 

Wir hausten (forschten!) tagsüber in einem Seitentrakt unseres Instituts. Die drei maßgeblichen Fenster, eines pro Kammer, sind am Ende dieses Beitrags abgebildet. Die gibt es immerhin noch. Die Räume sind jetzt voll mit Gerümpel.

Kurzum: Wir waren ein Quartett, das dem Himmlischen zugetan war. Drei promovierte Uni-Assistenten für Astronomie – und einer (Hans), der intensiv der Elektronik zugetan war. Was zugleich erklärt, weshalb uns, als Astronomen, die obgenannten immensen Zeiträume nicht einmal zu einem leichten Ohrenschlackern hätten veranlassen können.

Der oben erwähnte Umzug an den westlichen Stadtrand Innsbrucks hatte diverse (zumeist durchaus angenehme) Folgen. Aber es kam auch, wie es früher oder später zumeist zu kommen pflegt: Unser ursprünglich enges räumliches, nebstbei erstaunlicherweise auch über all die Jahre gänzlich friktionsfreies Zusammensein endete – und mehr noch: Einer von uns, Gerhard, trat bald an der Uni Wien eine Stelle an. Und derjenige, der wie ich oben anmerkte, der Elektronik zugetan war, nämlich Hans, entschloss sich, trotz oder eher weil er ihn intellektuell spielend leicht hätte erwerben können, auf einen Doktorgrad sozusagen zu pfeifen und sich fürderhin ein Leben am Wörthersee als Privatier zu gönnen. Offenbar konnte er sich das leisten.

Letzteres veranlasst mich zum Abschluss dieses Kapitels noch dazu, zu erwähnen, dass meine drei Kollegen allesamt aus wohlbestallten Akademikerfamilien stammen. Die Familie von Hans aus dem Lechtal: Vater Jurist; und zu nennen ist zudem eine bis heute gerühmte, nämlich zumindest in Innsbruck und Hall durch Straßennamen geehrte Tante – einer Ärztin, Ordensgründerin und Schöpferin Dutzender weltweit verstreuter Spitäler.

Der Älteste unseres Quartetts, Gerhard, ein Ostösterreicher, entstammt einer angesehenen Apothekerfamilie. Herbert, ein Salzburger, hatte einen Gymnasialdirektor als Vater. Ich, Oberösterreicher, hingegen brachte mit väterlicherseits einem Eisenbahner und mütterlicherseits einer Sekretärin eine andere Gesellschaftsschicht ein. Von irgendwelchen Standesdünkeln meiner allesamt einem akademischen Umfeld entsprossenen Kollegen war freilich nie das Geringste zu spüren, wenngleich ich selbst sehr wohl reichlich Veranlassung hatte, mir immer wieder mal meiner A-priori-Bildungsdefizite gewärtig zu sein.

 

Wien, 6.10.2023, ab 18 Uhr, im Stadtheurigen Gigerl

Unser Privatier ist der Letzte, circa 15 Minuten verspätet. Ist ja eh wurscht. Ich erblicke ihn aus gut 15 Metern Entfernung in der schmalen, gekrümmt verlaufenden Gasse. Das muss er vermutlich sein. Aber kleiner als früher! Geschrumpft, oder geht er leicht gebeugt? Da kommt er, rufe ich Gerhard und Herbert zu. Wir springen auf und wacheln mit unseren Armen. Ich, als Längster, bin von ihm nicht zu übersehen. Kräftiges Händedrücken und Schulterklopfen. Sofort zu erkennen! schwindle ich. Gut schaust aus! wird der seit Jahrzehnten nicht mehr Gesehene, mit so mancher Alterswarze inklusive nicht eben weniger Falten Verzierte und tatsächlich mit etwas gekrümmtem Rücken Versehene begrüßt. Falten waren ja zu erwarten gewesen. Weiße Haare auch. Aber dennoch …

Was wird wohl ER über uns, über mich, denken? Er schaut mich kurz an – ist es ein leicht spöttischer oder eher von Mitleid umflorter Blick auf den Oberteil meines Kopfes, den eine große, von einem Haarkranz begrenzte kahle, früher mit nie allzu reichlichen, aber ausreichend vielen Haaren bestandene Fläche ziert. Aha! sagt er. Vornehm. Ein Freund vieler Worte war er ohnehin nie gewesen. Man konnte indes so gut wie alles von ihm haben. Das geht dann schon war sein Stehsatz gewesen. Und es ging, sprich, klappte.

Wir reden mit- und durcheinander. Nur kurze Zeit nimmt der Austausch über die höchsteigenen diversen Krankheiten in Anspruch. Operierter Grauer Star bei dreien von uns. Noch nicht bei mir. Prostataprobleme existieren (MEIN Prostatazustand geht SIE nichts an). Zwei von uns haben Herzschrittmacher implantiert, mich inklusive. Nehmen diese und jene Medikamente. Logisch. Aber einer von uns, Gerhard, der Älteste, vielfacher Staatsmeister in seiner Altersklasse und weiterhin aktiver Marathonläufer, sagt, er brauche keinerlei Medikamente. Klopft dabei auf den hölzernen Tisch. Ist aber, soweit ich weiß, jeglichem Aberglauben abhold.

Du bist überhaupt ein Phänomen! sage ich zu ihm. Bist 80 und siehst aus wie 60! Ein bisserl lügen schadet ja nicht, oder? Notlügen oder welche, die man für solche hält, sind ja Schmiermittel für gute Laune, wie wir wissen. Notlügen haben keine kurzen Beine … aber er sieht tatsächlich jünger aus, als man es einem 80-Jährigen zubilligen würde. Wie 70, denke ich mal.

Vorher, in den wenigen Minuten, bevor Hans auftauchte, hatten wir uns wechselseitig wegen unseres angeblich auffallend guten Aussehens beschwindelt. Indes sagte mir heimlich der eine über den anderen, dass … Aber lassen wir das. Und insgeheim sei festgestellt, dass wir in Wirklichkeit, für unser Alter, eigentlich gut drauf sind. Immerhin: wir leben ja noch! Alle viere. Brauchen keinen Stock. Sind offenkundig (noch) nicht dement. NICHT dement? Nicht dement, hoffe ich. Momentchen …

Wir essen und trinken. Es schmeckt. Ist schließlich ein Heuriger! Unsere Zungen lockern sich – und die Erinnerungen werden lebhafter. Wisst Ihr noch, wie… Erinnert Ihr Euch noch, dass … und Co bilden zahllose Satzeinleitungen. Wir fallen uns geistig in die Arme. Auch ins Wort. Die Gaudi wächst. Der Weinkonsum dito, aber keineswegs exzessiv. Nun wird sogar Hans gesprächig. Erzählt, wie er einstens unseren Chef angeblich unter den Tisch gesoffen hat. Beinahe wortwörtlich sei das zu verstehen. Hat er uns aber seinerzeit nicht gestanden. Zumindest mir nicht. Übertreibung von ihm? Demenz von mir?

Die Stunden verfliegen. Gegen Ende, nach einem Blick auf die Zeitmesser, die knapp 22.00 Uhr anzeigen, werden wir beinahe melancholisch – und wollen uns zum Abschluss rasch noch an Wesentliches erinnern. Da ist zum Beispiel die Sache mit der Sekretärin, die längere Zeit hindurch, von Westen kommend, an unseren Fenstern vorbeistöckelte. Eine mit einer umwerfend tollen Figur (indes einem nicht ganz dazu passenden Antlitz, was ich aber deswegen nicht erwähne, weil sich das heutzutage nicht ziemt). Also, die vom Institut für … (habe ich doch glatt vergessen – und dabei lüge ich selbstverständlich!), die damals, mit ausnehmend gutem Recht, zuweilen einen Minirock trug. Was heißt Minirock, einen Microrock trug sie! Und nicht vergessen: Unsere Räume lagen doch im Souterrain! Vom jeweiligen Fenster aus konnten wir schräg aufwärts blicken!

Jetzt kommt sie! erscholl Hans‘ Stimme das eine oder andere Mal. Er saß ja im westlichsten Raum. Und wir stürzten zu den Fenstern – und blickten, von der Unterkante derselben, schräg aufwärts. Wir waren doch Himmelsgucker, wie erwähnt.

Zu allerletzt (es wird schon kühl!) kommen wir vom Sinnlichen zum Kosmischen. Ihr wisst doch hoffentlich … sage ich zu Herbert und Hans gewandt (den Gerhard muss ich da außen vor lassen, denn er war damals in das, was gleich geschildert wird, nicht eingebunden, sondern war stets in seine astrophysikalisch mathematischen Modelle vertieft) … dass wir nicht gerade selten am Himmel verewigt sind?

Herbert nickt, Hans brummt bloß Mmh. Womöglich weiß er tatsächlich nicht (oder es war und ist ihm schnurzegal), dass eine Reihe von uns damals im Rahmen eines mehrjährigen Durchmusterungsprogramms (mit Lupe und Mikroskop!) auf seinerzeit hochqualitativen, von unserem Institut um eine ordentliche Stange Geld aus den USA erworbenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Himmels mühsam entdeckten Nebeln um sterbende Sterne dann später breite Aufmerksamkeit von Profi- und Amateurastronomen gewinnen konnten.

Da es alter Usus ist – jetzt wende ich mich an Sie, werte Leserschaft, um etwas Angeberei zu zelebrieren – dass derartige Himmelsobjekte dauerhaft auch nach ihren Entdeckern benannt werden (bei EINEM Entdecker nach dessen vollem Familiennamen, bei MEHREREN mittels deren Initialen). Und da wir über hundert dieser astrophysikalisch hochinteressanten und noch dazu farbenprächtigen Himmelsobjekte entdecken konnten, nimmt es nicht wunder, dass wir de facto namentlich am Himmel verewigt sind. Falls Sie wollen, können Sie ein paar unserer einschlägigen Entdeckungen (damals von uns freilich in Schwarz-Weiß gefunden, aber, wie gesagt, dann mittels hochentwickelter Techniken von anderen gewürdigt) gleich weiter unten beäugen ([1], [2], [3], [4]).

Finito! Wir erheben uns und versichern uns wechselseitig, uns am nächsten Tag um 13.00 Uhr im von Gerhard (völlig zu Recht!) empfohlenen Gasthof Großes Schutzhaus Rosental auf den im äußersten Westen Wiens gelegenen Steinhofgründen noch einmal zu treffen. Diesmal allerdings zu acht, also mit unseren Gemahlinnen! War in dieser Reihenfolge – erst zu viert, dann zu acht – höchst sinnvoll, obwohl unser lieber Gerhard (hatte ich nicht ganz oben geschrieben, dass er zu einer gewissen Alltagsentrücktheit, die sich übrigens nicht gelegt zu haben scheint, neigt(e)?) ursprünglich die Meinung vertrat, wir sollten uns überhaupt nur zusammen mit unseren Gattinnen treffen? Was hätten wir da alles NICHT bereden können! Ergodessen war dieses Gerhard‘sche Ansinnen von uns anderen als unpassend erachtet worden.

Auch das war eine überaus nette Zusammenkunft. Gerhard plus Ehegespons, sowie meine Frau und ich spazierten ganz am Ende noch zu der auf den Steinhofgründen befindlichen eindrucksvollen Otto Wagner Kirche, einem innen wie außen prächtigen Jugendstil-Bauwerk.

Und das Fazit des Treffens von uns alten Arbeitskollegen nach Jahrzehnten? Um es mit einem leicht abgewandelten, aber berühmt gewordenen Satz von Kaiser Franz Joseph I. auszudrücken: Es war sehr schön, es hat uns sehr gefreut.

Alles andere wäre gelogen.


[1] https://noirlab.edu/public/images/noaoann13006a/
[2] https://www.imagingdeepspace.com/hdw-2-bearclaw-nebula-cassiopeia.html
[3] https://pbase.com/dsantiago/image/160784048
[4] https://www.aapod2.com/blog/Weinberger%203-1/

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Ronald Weinberger

Ronald Weinberger, Astronom und Schriftsteller, 1948 im oberösterreichischen Bad Schallerbach geboren, war von 1973 bis 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Von 1977 bis zum Pensionsantritt im Dezember 2011 war Weinberger an der Universität Innsbruck am Institut für Astronomie (heute Institut für Astro- und Teilchenphysik) als Fachastronom tätig. Als Schriftsteller verfasst Weinberger humorvolle Kurzgedichte und Aphorismen, aber auch mehrere Sachbücher hat er in seinem literarischen Gepäck: Seine beiden letzten Bücher erschienen 2022 im Verlag Hannes Hofinger, im Februar das mit schrägem Humor punktende Werk "Irrlichternde Gedichte" und im September das Sachbuch „Die Astronomie und der liebe Gott“ mit dem ironischen, aber womöglich zutreffenden, Untertitel „Sündige Gedanken eines vormaligen Naturwissenschaftlers“.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Margit Jordan

    Margit Jordan: Zum Beitrag von Ronald Weinberger: Alles alte Knacker!
    Alte Herren finden sich nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Arbeit bei einem Treffen mit ehemaligen Studienkollegen zusammen, tauschen Erinnerungen aus und stellen fest, dass die Zeit weder an ihrer Person noch am Umfeld spurlos vorübergegangen ist. Wie bei anderen „Klassentreffen“ sind die Erinnerungen an Jugenderlebnisse nicht nur von der schulischen oder wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch von Ausblicken bzw. Anblicken auf das andere Geschlecht geprägt. Eine zum Schmunzeln anregende Geschichte, die menschliche Erlebniswelten mit wissenschaftlichen Mühen und Erfolgen auf eine Stufe stellt: eine gelungene Schilderung der Rückblicke einer Generation, die das Glück hatte, in der Aufbruchstimmung der Nachkriegsjahre ihre Ziele zu verwirklichen.

  2. c. h. huber

    ein amüsanter und sternheller einblick in ein altherrentreffen wurde uns liebenswerterweise gewährt – die schwarzen löcher in diesen leben hat man natürlich ausgelassen, vermute ich. doch vielleicht gabs keine? naja … wer weiß ,,, danke jedenfalls!

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