Print Friendly, PDF & Email

Reinhard Kocznar
Hymne an die Nacht
Essay

Bei Novalis sind es gleich sechs Hymnen, allerdings ging es ihm dabei nicht um die Dunkelheit, auch nicht um die Angst vor ihr. Edgar Allan Poe übergeht Letztere in seinem berühmten Gedicht Der Rabe. Schaudervoll wird die Dunkelheit erst in den Übersetzungen, etwa bei Hedwig Lachmann, deren Übertragung mir besser gefällt als die von Wollschläger.

Hiemit öffnet’ ich die Thüre – nichts als schaudervolle Leere,
Schwarze, schaudervolle Leere.

Doch die Nacht blieb ungelichtet, tiefes Schwarz auf Schwarz geschichtet…

Poe kommt ohne das aus:

—here I opened wide the door; —
Darkness there, and nothing more.


But the silence was unbroken, and the darkness gave no token…

Es ist dunkel, nur der der Rabe spaziert herein, um nie mehr fortzugehen. Quoth the raven, Nevermore. Die Aufmerksamkeit des Protagonisten galt dem nächtlichen Gast, den unendlichen Sternenhimmel anzusehen fand er deshalb nicht die Zeit. Er kannte ihn wie seine Zeitgenossen ohnehin.

Wer heute in der Stadt aufwächst, kennt ihn nicht. Ich bestaunte ihn vor vielen Jahren zum ersten Mal an einem nächtlichen Strand in Korsika, allein in dunkler Nacht. Der Zufall hatte es ermöglicht. Mit dem Wunsch, endlich etwas vom Gefühl der zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alten Eagles-Nummer Hotel California zu spüren, hatte ich spät am Abend den Campingplatz bei Calvi verlassen, um auf meiner Ténéré die schmale Küstenstraße nach Süden zu fahren; ohne bestimmtes Ziel. Beim Motorradfahren ist der Weg das Ziel.

On a dark desert highway, cool wind in my hair, warm smell of colitas rising up through the air…

Den Duft von colitas kenne ich noch immer nicht, dafür erlebte ich, wie die Macchia, die Buschlandschaft Korsikas, riecht – unvergleichlich. Cool wind in my hair, dazu war der Helm hinten am Sitz festgemacht. An einer Stelle nahe dem Strand hielt ich an. Licht aus, Motor aus, absteigen.

Das Auge gewöhnt sich schnell an die Dunkelheit. Die schmale Fahrbahn verlor sich nach einer Kurve in der nächtlichen Landschaft, in der Ferne glitzerte die endlose Fläche des Meers, dazwischen dunkles Gebüsch. Ein Pfad zum Strand ließ sich finden. Dort legte ich mich auf die noch warmen Kiesel, die mir vom Tag als dunkelrot in Erinnerung waren.

Über mir breitete sich der Sternenhimmel in einer Pracht aus, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Woher die Milchstraße ihren Namen hat, erklärte sich von selbst. Noch etwas erklärte sich mir: Mit der Kraft, die die Einsamkeit gibt. Ich hatte diese Formulierung über das freiwillige Exil von Glenn Gould im Norden Kanadas gelesen. In dessen Konsequenz brauche ich das nicht, aber gelegentlich ist es sehr angenehm.

Abwesenheit von Zivilisation, besonders von deren Umweltverschmutzung durch Licht, kann schöne Augen- wie auch Anblicke verschaffen. Lange lag ich am Rücken, hörte das Rauschen der Wellen und schaute zu den funkelnden Sternen am nachtschwarzen Himmel empor.

Bald darauf, Anfang der 90er, wiederholte sich der Anblick in einer Light-Version am nächtlichen Lanser See. An diesem Abend war ich mit meiner Frau zum ersten Mal ausgegangen und wir beendeten den Abend mit einem Bad im Lanser See um Mitternacht. Man konnte einfach hingehen, Kleidung am Wegrand ablegen und hinaus schwimmen. Gelegentlich trabte ein Jogger vorbei, der den Weg ohne Stirnlampe fand.

Light war die Version in zweifacher Hinsicht. Der Sternenhimmel prangte nicht über den Waldrändern, den großen Wagen zu erkennen war schon alles. Der Grund dafür war das immense Streulicht der nahen Stadt.

Den kümmerlichen Anblick hat nun auch niemand mehr. Seeräuber, die es auch am Festland gibt, haben den See geraubt. Der Weg wurde verlegt und der See eingezäunt.

Vor zwei Jahren, an einem kalten Abend im Herbst, hatte ich am Mittelgebirgsplateau einen vortrefflichen Kamerastandort gefunden, um den aufgehenden Mond zu fotografieren. Geeignete Augenblicke sind selten, der Mond soll dafür tief stehen und groß sein, was von seiner jeweiligen Entfernung zur Erde abhängt, Landschaft unter ihm bieten und vor allem – keinen wolkenverhangenen Himmel. Trifft das zu, dann hat man den Mond so gut wie ohne Sternenhimmel, mehr gibt’s hier nicht mehr.

All das hätte gepasst, die Szene war eingerichtet, Mond und Landschaft ausgemessen, eine weite Wiese mit dunklem Wald dahinter, nur ein tanzendes Licht am Waldrand ruinierte alles. Es stammte vom Stirnlicht eines Läufers, der bald vom nächsten abgelöst wurde. Nach einer Weile packte ich zusammen und zog unverrichteter Dinge ab.

Hin und wieder stehen Rehe in dieser Wiese, an diesem Abend natürlich nicht. Sie hatten sich in Sicherheit gebracht.
Kurz vor Corona hatten Einfallsreiche geplant, die Serles zu beleuchten, um wandernden Touristen die Nacht zum Tag zu machen. Dieser Schwachsinn fand dann doch nicht statt. Was das allein für die Tierwelt bedeutet, deren Lebensraum immer kleiner wird, hatten die Schlaumeier nicht bedacht. Es reicht ihnen nicht, in der Stadt die Nacht zum Tag zu machen.

Als Jugendliche fuhren wir gern mit der Stubaitalbahn nach Mutters, mit der letzten Gondel auf die Mutterer Alm, dann weiter zu Fuß hinüber zur Raitiser Alm. Nach einem Würstel und Bier fuhren wird in der Dunkelheit die Rodelbahn hinunter bis Mutters. Hätte es damals Stirnlampen gegeben, keiner hätte so ein Ding aufgesetzt. Damit hätte es keinen Spaß gemacht. Von Mutters zogen wir die Rodeln nach Natters, durch den Wald bis zum Sonnenburgerhof, eine letzte Abfahrt über den Ferrarigletscher; Rodeln auf die Schulter und nach Hause gehen. Um diese Zeit war alles hochgeklappt.

Heute muss jeder Winkel ausgeleuchtet sein. Von der Raumstation aus sieht man auf der Erdoberfläche mit freiem Auge zwei Dinge, tagsüber die chinesische Mauer und nächtens die beleuchteten Autobahnen in Holland und Belgien.
Sagenhafter Schwachsinn, der aber die üblichen Umweltbewussten nicht beschäftigt. So wurde auch in Innsbruck das Feuerwerk zu Silvester von den Grünen verteufelt, dafür eine wirklich sinnlose Lasershow empfohlen. Lichtspiele dieser Art sind mittlerweile wenigstens hinterfragt. Die Licht-Kitschorgie im Hofgarten ist auch sehr ökologisch. Nichtmenschliche Lebewesen, bitte rasch abfliegen.

Tröstlich ist, dass die Umweltverschmutzung durch Licht endlich zaghaft thematisiert wird, wenngleich dafür mannigfaches in Stellung gebracht wird. Bei der unsinnigen Beleuchtung von Gebäuden wäre eine zeitliche Einschränkung ein guter Anfang, mit den Sicherheitsbedenken wird es wohl schwieriger. Wer im Dunkeln Angst hat, könnte einfach zu Hause bleiben, denn Shakespeare hatte dafür schon einen Rat: Nun seid getrost! So lang ist keine Nacht, dass nicht auch ihr zuletzt ein Tag erwacht.

Nach dem Begriff Lichtverschmutzung zu googeln bringt eine lange Liste von Auswirkungen, die das Abschaffen der Nacht zur Folge hat. Es gibt praktisch kein lebendes Wesen auf der Erdoberfläche, dem die Dauerbeleuchtung nicht schadet, es aus der Bahn wirft oder überhaupt die Lebensgrundlage entzieht. Dazu passt, dass der Mensch begonnen hat, seine Nahrung künstlich herzustellen – totes Material.

Ein Einzelschicksal, wenn zudem ein kleines, trifft die Leuchtkäfer. Wenn meine Frau und ich abends auf der Terrasse sitzen und der Juni fortschreitet, freuen wir uns schon auf sie. Auf einer Seite des Gartens schirmt die hohe Hecke das Licht der Straße ab, auf der anderen steht der Wald. Mit fortschreitender Dämmerung wird es dunkel, keine Gartenbeleuchtung stört sie. Nach und nach verblassen die Farben der Insektenhotels, die in Form echter Büsche überall stehen, zu verschiedenen Zeiten blühen und dabei jederzeit hunderte von lebenden Flugobjekten nähren.

Die Umrisse des Gartens sind noch erkennbar, da löst sich der erste kleine, leuchtende Punkt aus einem Busch, fliegt ein Stück und verschwindet. Bald folgt der zweite, dann schwebt ein anderer Lichtpunkt in einer Kurve über der Wiese und erlöscht wieder.

Sie strahlen in kaltem Tageslicht, weiß. Es dauert nicht lange, da ziehen an die zehn dieser Lichter ihre Bahnen und verschwinden im Dunkel. Wenn es endgültig Nacht geworden ist, kommen sie aus dem Wald herunter. Bald sind es an die hundert leuchtende Punkte, die plötzlich erscheinen, ein Stück weit fliegen und nach einigen Sekunden wieder ausgehen.

Ein faszinierendes Schauspiel in stiller Nacht, der Wind raschelt manchmal in den Blättern. Nur die Sterne blicken herab.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Reinhard Kocznar

Reinhard Kocznar ist Versicherungsmakler und lebt in Birgitz. Seit 30 Jahren selbständig, während 25 Jahren zweiter Beruf als Leiter eines Softwareentwicklungsteams und Systemadministrator. Als Schriftsteller hat er bisher 7 Bücher veröffentlicht, Krimis, Thriller, Erzählungen und Essays. Literarisch betreibt er den Online-Buchshop: Hardboiled Krimis. Leidenschaftlicher Fotograf, Sportschütze und Motorradfahrer.

Schreibe einen Kommentar