Johannes Sprenger
Warum Manès Sperber ein großer Schriftsteller ist
und warum uns das heute noch,
nein wieder,
interessieren sollte.
Essay
Als im Frühjahr 1970 der mehrteilige Fernsehfilm Wie eine Träne im Ozean nach der gleichnamigen Romantrilogie von Manès Sperber (1905 – 1984) gezeigt wurde, war ich gerade 12 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass mir zwar wesentliches Wissen über die politische Rahmenhandlung fehlte, ich aber instinktiv die menschlichen Abgründe erkannte, die sich auftaten, und dass ich regen Anteil nahm an den ethischen Fragen, die, wenn auch einerseits möglicherweise beantwortbar, doch andererseits erneut andere ethische Fragen aufwarfen.
All dies hinterließ in mir ein Gefühl hoffnungsloser Trauer, nicht etwa von der Art, wie irgendeine traurige Geschichte zwischen Menschen sie bewirkt, sondern von ganz allgemeiner, beinahe metaphysischer Natur, wenn mir dieses Vokabel damals zur Verfügung gestanden wäre. Ich hatte unvermutet erfahren, wie schwer, ja vielleicht unmöglich es ist, auf Erden so etwas wie Gerechtigkeit herzustellen, und dass jene, die sich dieser Aufgabe widmen, trotz ehrlicher Hingabe und bester Absichten Gefahr laufen, zu scheitern, wenn sie sich einer Organisation anschließen, die die Herstellung der Gerechtigkeit auf politischem Wege zum Ziel hat.
Von Marx und Hegel verstand ich damals noch nichts, doch der allumfassende Verrat, den diese Menschen an ihrer Idee, an sich selbst und aneinander begingen, hat mich unabweisbar gefesselt und nachhaltig beschäftigt.
Fünfundzwanzig Jahre und nocheinmal zwanzig Jahre später habe ich den tausendseitigen Roman und einige der wichtigsten anderen Bücher Sperbers gelesen, die vor allem davon erzählen, was in Europa von 1914 bis 1945 geschah – und was das mit dem Leben eines galizischen Juden machte, der 1916 nach Wien geflohen war, Psychologe und Kommunist wurde, nach Frankreich und in die Schweiz emigrierte und sich zunehmend von der Partei entfremdete und sie endgültig 1937 verließ, angewidert von den Moskauer Prozessen, in denen praktisch die gesamte revolutionäre Elite Russlands unter fadenscheinigen Anklagen, begleitet von erpressten, aber auch freiwilligen Schuldeingeständnissen, liquidiert wurde.
Im Roman wird detailliert beschrieben, wie die Komintern auch gegen weniger prominente Kommunisten vorging, die es sich nicht nehmen lassen wollten, in gewissen Punkten der Parteilinie zu widersprechen. Die Art und Weise, wie man sich, um sich der Abweichler zu entledigen, z.B. der Gestapo bediente (deren Ehre hieß Treue, der Kommunisten Treue aber hieß Linie), ist von einer derart abstoßenden Verlogenheit und schlauen Brutalität, dass es einem den Magen umdreht.
In seinen Essays Zur Analyse der Tyrannis (1937) und Der totale Staat (1939) stellt Sperber Nationalsozialismus und Stalinismus einander gegenüber und identifiziert beide, ein Jahrzehnt vor Hannah Arendt, als totalitär. Es ist überaus lohnend, sich mit den analytischen Texten des Autors zu beschäftigen, nicht nur, weil sie von einem Psychologen, sondern auch von einem Abtrünnigen, der sich nicht verbieten lassen wollte, zu denken, geschrieben wurden.
Warum aber heute noch Sperber lesen? Ist der Stalinismus nicht Geschichte? Drohen heute nicht ganz andere Gefahren, wie der allgemein um sich greifende Nationalismus in der EU, der uns weismachen will, dass es nationale Lösungen für globale Probeme gibt, während wir schon lange wieder vergessen haben, dass sich die nationalen Eliten über die Leichenberge ihrer Völker hinweg immer schon die Hände gereicht haben (dazu gibt es einen brillianten, aktuellen Essay von Robert Menasse Die Welt von Morgen).
Sperber schreibt über seine Zeit, es sei das Jahrhundert der Erpresser, die Herrschaft der falschen Alternative – das gilt auch für uns. Wer mit der EU oder einfach überhaupt mit den bestehenden Verhältnissen, begründet oder unbegründet, unzufrieden ist, sieht im Nationalismus, oder, und das gehört zusammen, in einem Putin’schen National-Imperialismus oder in einem Trump’schen National-Narzissmus eine Alternative.
Anstatt das Eigene in Freiheit weiterzuentwickeln, zu verändern und zu verbessern, schlüpft man lieber einem Großkotz unter den Rock, der das Blaue vom Himmel verspricht. Ein Trump denkt doch gar nicht daran, von seinen Milliarden irgendetwas in die marode amerikanische Infrastruktur zu investieren. Russland kann doch gar nicht anders, als seine Nachbarn zu bedrohen und sich selbst vergangene Größe vorzuspielen.
Und warum die EU so wenig zustande bringt, liegt doch zu einem erheblichen Teil daran, dass sie von den nationalen Regierungen blockiert wird. Ein EU-Wahlkampf, in dem mit Plakaten geworben wird wie Vorhang auf für Österreich oder Ihre Stimme für Tirol zeigt doch deutlich genug, dass es gar nicht um Europa geht.
Von dem unsäglichen Schmusebild mit Selenskyj und Von der Leyen kann man, ohne sich zu schämen, gar nicht reden – als hätten Europa und die Ukraine Russland überfallen. Die hiesigen Kommunisten plakatierten für die Gemeinderatswahl Wohnen statt Kanonen – auch wenn sich etwas reimt, garantiert dies noch keinen wirklichen Zusammenhang. Ich meine, wenn ich die letzten Monate an jeder Straßenecke über eine Kanone gestolpert wäre, würde ich ja noch nichts sagen, aber so habe ich ein Gefühl, als wäre Putin der Wohnbauverantwortliche für Innsbruck – oder wie? Oder: Friede jetzt! Ja, schön, aber an wen richtet sich das? Wer hat denn den Frieden gebrochen? Und: Wissen sie, was mit Leuten passiert, die in Moskau solch ein Plakat aufstellen?
Und jetzt sind wir endlich beim Thema: Es gibt in Österreich, eben auch in Innsbruck, eine Art Comeback der Kommunisten, in Graz stellen sie die Bürgermeisterin. Zu einem sehr sympathischen, engagierten jungen Mann sagte ich kürzlich, dass ich mir von einem Kommunisten in der heutigen Zeit eine klare Distanzierung vom totalitären Stalinismus, aber auch vom Leninismus, der, trotz allem, dem Stalinismus Vorarbeit geleistet hat, erwarte. Und ob es nicht klüger wäre, diesen Namen gar nicht zu gebrauchen – wenn man doch auch als Linkspartei seine Ziele verfolgen könne.
Der junge Mann wusste erstaunlich gut Bescheid, z.B. über die Denunziation der Sozialdemokraten als Sozialfaschisten oder über die Moskauer Prozesse, über Sinowjew, Rykow, Bucharin, Radek, Kirow oder Tuchatschewski. Und er meinte, die Bolschewiki hätten eine starke Bürokratie aufbauen müssen, um die Errungenschaften der Revolution zu erhalten, aber vor allem, um das Entstehen einer relevanten Arbeiterklasse, durch Industrialisierung, überhaupt erst zu ermöglichen, denn Russland sei ja bis dahin agrarisch und feudal geprägt gewesen…
In diesem Moment hat sich in meinem Gehirn etwas verschoben: Ist es möglich, dass sich Revolutionäre, die angetreten waren, um einer bestimmten, großen, unterprivilegierten Gruppe von Menschen – einer Klasse – Gerechtigkeit und Befreiung zu verschaffen, dass sich also diese Revolutionäre das Objekt ihres Handelns erst nachträglich schaffen mussten, dass also jene Klasse von Menschen, die die Errungenschaften der Revolution, die für sie gemacht worden waren, genießen hätten können, noch gar nicht existierte?
Ich staunte, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. In Sperbers Roman ist die Rede vom Messianismus der Kommunisten, von einer weltlichen Erlösungsidee, nachdem die transzendente Erlösung im aufklärerischen Europa immer mehr an Bedeutung verloren hatte. Die Bolschewiki handelten in dem Bewusstsein, die Gesetze der Geschichte zu erfüllen. Das ist, wenn man Hegel und Marx einmal beiseite lässt, das Verhalten von selbstverliebten Theoretikern, aber immerhin noch eine Art von Idealismus. Daraus ist im Stalinismus eine brutale Diktatur der Phrasen geworden, Phrasen, die sich jede Woche ändern konnten, so dass man zu tun hatte, auf Linie zu bleiben, Phrasen, die das letzte verkommene Überbleibsel der Lenin’schen Gelehrtenrepublik waren. Mit dem Proletariat, den Bauern und Soldaten hatte das alles wenig zu tun.
Weiters dachte ich mir, wenn junge Leute, Mitte Zwanzig, heute solches Wissen haben, aber auch solche Schlüsse ziehen, heißt das, dass die kommunistische Erzählung noch existiert, denn in der Schule lernt man das nicht. In der KPÖ wird die Parteigeschichte also durchaus kritisch betrachtet, aber nicht kritisch genug. Es gibt also immer noch gute Gründe, Sperber zu lesen. Oder, bei dieser Gelegenheit, einen anderen großen Abtrünnigen: Albert Camus. Aber dazu ein andermal.
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