Regina Hilber
Ungefragt
Verloren im Titeldschungel
Planriesen und Schnittmusterbögen waren gestern, das Schreiben kam dazwischen, wenn auch, streng der Chronologie folgend, erst hinterher.
Aber welche Autorin, welcher Autor kann das schon für sich auseinanderdividieren? Wo genau beginnt Autorenschaft, wo die Verschriftlichung, wo lässt sich ein solcher Marker explizit ansetzen? Ist nicht auch frühe, übermäßige, einschlägige Lektüre etwa bereits Indiz für eine (noch unbewusste) Schriftstellerintention, ohne dass sie/er das wahrnimmt?
Und sind diese Kopfwelten in den Tuschekreisen eines Bewehrungsplans nicht erste Anbahnungen an ein (späteres) Schreibertum? Oder sitze ich der Versuchung auf, vom anderen Ende der Lebensschnur aus betrachtet, jeden noch so dünnen Strang mir plausibel zurechtzuknüpfen, Chronologien und Signifikanzen dabei aufdröselnd?
Als Schriftstellerin sollte ich mich hüten, dieser allzu eindimensionalen Einbahnschneise zu folgen.
SCHNITT.
Woran genau mag es liegen, dass sich während meiner Ausgänge vornehmlich, aber auch während einer längeren Zugfahrt, sich ungefragt mir Buchtitel aufdrängen für Werke, die noch gar nicht geschrieben sind, denen nicht einmal ansatzweise eine Schreibintention vorausginge.
An Titelfindungen zeigt sich meine Kreativität nie verlegen, wenn auch ohne konkreten Anlass, denn das Werk dazu will gar nicht verfasst werden. Wie durch einen Murenabgang ungewollt vor das Haus geschoben, stapeln sich diese Titelungetüme ungefragt, unintendiert und ohne jegliche Werkzugehörigkeit: Triviale, pathetische, ja geradezu lächerlich anmutende Buchtitel drängen sich da auf.
Wie dicke Baumstämme im dichten Nadelwald schießen sie vor meinen Füßen aus dem Boden, sinnbefreit, jedoch beachtlich an Durchmesser, dabei jeglicher Logik entbehrend. Wie hundertjährige Riesen, gewaltig, mächtig, poppen sie aus der Erde. Hier bin ich! Hier stehe ich im Wald! Manch ein Titel (Baumstamm) wird sogleich niedergetreten, noch bevor er in Gedanken gänzlich ausformuliert wird, andere wiederum poppen dicht nebeneinander auf der vor mir liegenden Lichtung auf.
Hat sich der ungefragt in Erscheinung tretende Titelmechanismus erst einmal aktiviert, in Gang gesetzt, ist er kaum zu stoppen. Einem Dschungeldickicht gleich, stellt sich eine grüne, braune Wand meinem Fortschreiten in den Weg, Lianen müssen mit der Machete zerhackt, Gesträuch niedergetreten und Zweige mit den Armen beiseite geschoben werden. Trotzdem blitzt so ein Titelmonster, einem Aphorismus gleich, vor mir auf, nimmt Aufstellung, will niedergeschrieben, zumindest im schlauen Smartphone verstaut werden:
Der Löffelverkäufer von Triest
Und als Fortsetzungsroman, oder wie Film und TV-Serien es seit einigen Jahren vormachen: das Prequel, das Sequel, das Konterfei zum Prequel, das Konterfei zum Konterfei, in Filmtrilogien und deren endlosen Fortsetzungen wie Startrek, Star Wars, Marvel`s The Avengers oder in den Tolkien-Verfilmungen mit dem Herr der Ringe I, II und III, dem Hobbit, den Gefährten. Längst den Überblick verloren über Plot und Protagonisten-Sequels.
Wehe dem, der dem Chronologiegestrüpp nicht mehr folgen kann. Wenn die verwilderte Chronologie nicht mehr passt, wird sie eben passend gemacht. Hänsel und Gretel, abermals auf den Plan tretend, verliefen sich im Wald: Ob Batman, Green Lantern, Superman Returns, Gotham City, ursprünglich schlicht als Comic namens Superman konzipiert (1933), dann höchst erfolgreich auf den Kinoleinwänden sämtlicher Kontinente zu sehen, werden die Vor-, Vorvor- und Nachgeschichten der Hauptprotagonisten nebst Superman (alias Clark Kent) und Nebenprotagonisten (z.B. Luis Lane) gnadenlos ausgeschlachtet im Superman-Universum.
Dem folgt noch Joker, auch ihm bereits eine vierte Kinoverfilmung gewidmet, zuletzt mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle.
Von einem wirren Wald in den nächsten tappend, Finsterland, Herzstück, Nebenpfad, Baumwipfelperspektive, Erdlochtheorien, alles dabei. Die Liste der Pre- und Sequels (Vorfolgen bzw. Fortsetzungen) ist nicht enden wollend, wird es auch bleiben in naher Zukunft. Hier aber der (imaginären) Tradition und Semantik meines Löffelverkäufers von Triest folgend:
Die Schwestern des Löffelverkäufers
Der flanierende Schriftsteller seit jeher ein Beobachter (ein Gaffer vielmehr), ein auf der Lauer liegender Tiger im heimischen Dschungel, eine opportunistische Dampfwalze, trabt er, relevante Begebenheiten schamlos ignorierend, traumwandlerisch und doch Gedanken-permutiert durch Wald und über Wiese, durch urbanes Geflecht, oder über Karst und Küste, konkret: Triest. Im Moment.
Dem Löffelverkäufer von Triest wird ein Schnellplot attestiert. Geschrieben wird diese Geschichte, dieser Roman, oder sein Fortsetzungskonterfei – Die Schwestern des Löffelverkäufers – nie.
Travniceks Rache (Ein Krimi vielleicht?)
Werde ich nie zu Papier bringen. Oder eher Einhornliebe? Die Assoziationskette setzt sich weiter ungeniert in Gang. Einhornliebe, ungeahnten Spielraum bietend, maliziös Verkommenes bis Verwegenes, wird notiert. Man kann ja nie wissen. Ist das Brainstorming erst einmal angezupft, lässt es sich nicht mehr stoppen:
FUN (bleibt ohne Signifikanz)
Konsum (immer brauchbar, notiert während eines Aufenthalts im Landkreis Teltow/Fläming, Brandenburg)
Aufsteigen (der neue Heimatroman)
Eishockeyroman (der Titel ist Programm und zugleich ein vollkommen neues Roman-Genre)
Das Betreten des Spielplatzes ist an Sonntagen verboten (Titel für einen Gedichtband!)
Und zuletzt: Auch ein Pferd braucht manchmal Trost
Auch ein Pferd braucht manchmal Trost ist kein Western, kein Groschenroman oder Revolverheft – dieser Aphorismus darf in eine Hipstermilieustudie über das neue Spießbürgertum münden. Überbordende Political Correctness (also dort, wo sie sich selbst zuwiderläuft, totläuft), Achtsamkeitssprech und Gender-Verballhornung – der Hipster gibt sich geschlechtstolerant, ein Allesversteher, überkorrekt, der in Wahrheit ein versteckter Rassist ist, und der der gegenwärtigen Männlichkeit nichts anderes als den obligatorischen Bartwuchs voranzustellen weiß, dabei die neue brave Häuslichkeit zelebriert, als hätte die Gesellschaftsrevolution in den 60er und 70er-Jahren nie existiert. Befreiung aus dem Elterndiktat? Emanzipation? Feminismus? What the f***!
Ampak
Ampak ist nicht neu auf meiner Titelliste und das slowenische Wort für aber. Ampak klingt für mich aber wie eine Verheißung, wie ein Zauberwort. Obwohl nur aus zwei Silben bestehend, evoziert das kurze Wort in mir weit mehr als ein simples Bindewort.
Stärke, Kraft geht von diesem Ampak aus, führt weiter hinaus, als bloß zur slowenischen Sprachgrenze. Ampak ist seit einem Schreibaufenthalt in Slowenien als Titel für meinen nächsten Gedichtband reserviert. Amtrak. Anorak. Armagnac. Lautähnlichkeiten werden abgeklopft.
Ohne eine Begründung dafür finden zu können, denke ich bei den Lauten Am-Pak an eine Automarke, ob fiktive bzw. reale sei dahingestellt. Genau so könnte der Name für eine russische (eher sowjetische?) Automarke lauten. Robustes Gefährt, reparaturresistent, unkaputtbar, einem Wezdehod (der sog. Tundraraupe) gleich.
Der Wezdehod, einst von der Sowjetischen Armee konzipiert, ist das einzige Fahrzeug, das vor allem der langen Tauphase in Sibiriens Weiten trotzen kann. Wenn die meterhohe Schneedecke zu tauen beginnt, versinkt jedes herkömmliche Gefährt im tiefsten Morast, wird unbrauchbar. Zudem verfügt das Wageninnere über einen Ofen, der sibirische Winter dauert bekanntlich länger als jede andere Jahreszeit. Ampak und Wezdehod, das geht für mich übergangslos zusammen.
Was will die Titelflut mir sagen? Dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe? Oder gilt vielmehr die antagonistische Version: Den Baum vor lauter Wald nicht sehen?
Will ein Roman geschrieben werden, ausschließlich aus Buchtiteln bestehend? Roman der Hundert Überschriften, Roman der Kontinente, Roman der Hundert ersten Zeilen, Roman ohne dem Selbstlaut „e“ und so fort.
George Perec machte 1969 aus letzterem das sehr populär gewordene Buch Anton Voyls Fortgang, das ganz ohne den Buchstaben e auskommt und Raymond Queneau hatte eine ganze Liste an Romanprojekten erstellt, die niemals geschrieben werden würden. Ihm und unzähligen Autorinnen und Autoren vor wie nach ihm, stellte sich ein großflächiger Wald einem einzigen Baum vor (in?) den Weg.
Einer konkreten poetologischen Aufgabe gehorchend, sich dem stringenten Diktat unterwerfend, kann nicht nur Erlösung, sondern des Autors Rettung sein. Die Bäume sind die Buchtitel, der Wald das Werk, das nie erarbeitet werden wird. Oder doch? Bündelung, Regulierung, Streichung. Den wild wuchernden Wald roden. Tod dem Gehölz! Wie lautet die Prämisse nun? Wenn ich das bloß wüsste. Knacks.
Apropos Regina Hilber – Ankündigung einer Veranstaltung
Lesung und Diskussion:
LITERATUR.MACHT.MEDIEN
>Zur Schau gestellt. Zur documenta fifteen in Kassel<
Keynote: „Muss Antisemitismus bzw. Antizionismus neu verhandelt werden? Wie gefährlich ist eine solche Fragestellung? Warum ist propagandistisches Filmmaterial zur Anti-Israel-Politik auf der documenta in Deutschland aufgetaucht? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Ist die Kunst frei? Frei von Moralität? Oder ist Kunst (mitunter) eben doch sehr politisch?“ (Regina Hilber in der aktuellen Ausgabe der Zwischenwelt)
Regina Hilber,
freie Autorin, aufgewachsen in Tirol, lebt als Essayistin und Lyrikerin in Wien.
Ort: Turmbund-Literaturzentrum Innsbruck, Müllerstr. 3/I.
Zeit: Freitag, 24. März 2023, 19:00 h
Moderation: Josef Paul Beneder
Anschließend Diskussion
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