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Regina Hilber
Unter Dach und unter Wasser
Über die Unmöglichkeit,
einen Essay über Steyr zu schreiben.
Folge 5
Coronabedingte Zwangshäuslichkeit und Neobiedermeier

Aus dem städtischen Friedhof oben am Tabor leuchtet es rot aus Bodengräbern wie von Urnenwänden: Rote Eisbegonien und rote Geranien beherrschen in Geschlossenheit die Szenerie, halten die Raster farblich einheitlich zusammen.

Unten in Steyrdorf, im Zwickel zwischen Sierninger Straße und Gleinker Gasse, scheint die Zeit still zu stehen. Nur der städtische Linienbus, der sich durch die engen einspurigen Gassen zwängt, bricht die Idylle. Warum hier keine kleineren Busse eingesetzt werden? Der Wirt neben dem Roten Brunnen weiß auch keine Antwort.

Hier, an der Ecke Sierninger Straße/Kirchengasse, haben die SteyrerInnen ihr ganz persönliches Bermudadreieck. Ich folge dem Spaziergangsführer über den Dachsbergweg in schwülheißer Abendhitze, wir fühlen uns oben am Tabor mal wie in einem Dorf im nördlichsten Weinviertel, dann wie auf abendlicher Flaniermeile in Jesolo, bewegen uns mitten auf den Straßen und Gassen, sehen und werden gesehen (es ist natürlich niemand da), haben keine Eile.

In der feuchtschweren Luft am Dachsbergweg könnte ein blauer Morphofalter unseren Pfad kreuzen, aber es ist ein gepresstes Edelweiß, das der Spaziergangsführer aus der Tasche zieht, gepresst zwischen zwei Buchdeckeln. Beim Roten Brunnen endet die Dreierseilschaft, von drüben eine Ahnung vom Dunklhof. Im Schwarz blühen die schönsten Farben.

Noch einmal das kultige Röda. Die Steyrer Jugend hatte ihren Ausdrucksort erfolgreich eingefordert im Jahr 1997. Heute: Abendlicher Poetryslam als Nachschlag zum innenpolitischen Tagesgeschehen. Aktuelle Regierungsthemen stehen zwar nicht auf der Slam-Agenda, aber debattiert wird trotzdem.

Die jungen und jüngeren Slammer aus Steyr, Linz und Graz interessieren sich vornehmlich für vegane Ernährung, für Feminismus & Sexualität sowie Flüchtlingspolitik. Gleich drei SlammerInnen werben im Rap oder Reim für veganes Essen, die Wogen gehen nicht nur Backstage, sondern auch während der Performance hoch.

Zum Glück sitze ich als Gastjurorin auf einem geschützten Platz mit Beinfreiheit ganz vorne und nicht im Getümmel der einzelnen Slam-Cliquen. An der Front zwischen Fleischessern und veganen WeltbekehrerInnen wird mit harten Bandagen gekämpft. Starke Meinungen, starke Kontraste.

Amanda Gorman mit ihrer pathetischen wie eintönigen Erweckungspredigt zu Joe Bidens Inauguration hätte glatt einpacken können. Gemessen an Eloquenz und Dialektik gehen die lokalen SlammerInnen mit Herzblut an die Schmerzgrenzen heran, scheuen die Kritik nicht: Hier geht es ohne Umwege um Inhalte, um (performative) Authentizität. Die Auseinandersetzung wird nicht gescheut, sondern explizit gesucht. Man packt noch ein bisschen gespielte Agitation drauf für das einschlägig bekannte Drama auf der Slambühne. Übertreibung lautet die Devise.

Und dennoch: Vermissen wir nicht alle diesen Mut in dieser unaufhaltsam älter und müder werdenden Gesellschaft? Diese bedingungslose Angepasstheit wie Bravheit führte, verstärkt durch die coronabedingte Zwangshäuslichkeit in eine Neobiedermeier-Ära, die im ländlichen Raum noch drastischer zu Tage tritt als in der Großstadt.

Let it go go: Da war ja noch die Diskussion über die Piazza. Die klassische, unbestuhlte, unbeschirmte, unbeschilderte, nicht mit allerlei Plakatständern, Kundenstoppern und Pollern zugestellte Freifläche zwischen Häuserfront Ost und Häuserfront West. Steyrs Stadtplatz wird ausverkauft. Ganzjährig.

Wann darf der Stadtplatz bloß Platz sein, bloß er selbst sein, als ästhetisches Bindeglied dahinfließen zwischen zwei sich gegenüberliegenden Häuserfronten. Bald wird der schöne Steyrer Stadtplatz beeist und bechristkindelt. Der rigorose Ausverkauf des Stadtplatzes hat viel mit der Überalterung unserer Gesellschaft zu tun bzw. mit der Steyrer Stadtpolitik, die vorwiegend auf den Bustourismus setzt.

Dabei beweist Steyrs Stadtplanung durchaus zeitgemäße Tendenzen und bietet unkonventionelle Lösungen bei der adaptierten Wohnraumbeschaffung: Ehemalige Industriegebäude und Produktionsstätten werden unprätentiös in Wohnraum umfunktioniert. Keine Selbstverständlichkeit ist das im urbanen Raum. Hier schafft die Städteplanung neue Wege im Sinne von Nachhaltigkeit und Ressourcenausschöpfung. Ob ehemaliges Möbelhaus oder Werkstatt, bestehende Bausubstanz wird nachhaltig genutzt, um neuen Wohnraum zu schaffen.

Jener Wimpel, Fahnen- und Kundenstoppertristesse steht der neue heimliche Hauptplatz gegenüber: Das „Museumsinsel“ genannte Ensemble zwischen Museum, Arbeitswelt, FH und neu errichtetem Steg über die Steyr. Hier trifft sich das jüngere und jung gebliebene Steyr, vermischt sich auf homogene Weise mit Landesausstellungsbesuchern von außerhalb. Direkt am Wasser fühlt sich Steyr am authentischsten an.

Die spätsommerliche Abendsonne lädt nicht nur am Steg entlang des Museums zum Schaulaufen ein. Nur wenige Schritte weiter ein Film-Déjà-vu:
Luchino Visconti, Giuseppe Tomasi di Lampedusa, das sizilianische Dorf Donnafugata – die Fassade am Wasserberg erinnert prompt an all das. Perfekt ist jener mattrosa Fassadenanstrich, von einer sehr späten Nachmittagssonne in einen etwas helleren Glow getaucht. „Wie im Film Il Gattopardo“, hallt es aus uns unisono.

Dabei sind wir doch zu Fuß auf dem Weg ins Gasthaus Santa, um ebendort das Sonnenuntergangslicht auf der Aussichtsterrasse einzufangen. „Wie in Italien“, schwärmen dann auch die anderen Gäste beim Ausblick Richtung Christkindl hinüber. Das Orangerosa flirrt ein letztes Mal über die Tische, simmert zwischen den Kastanienblättern. Von wegen Castello di Donnafugata – vom Santa blickt man ganz formidabel Richtung Schloss Voglsang – eben wie im Film.

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    danke für die einfühlsame schilderung dieser stadt mit vielen facetten – und ja, „il gattopardo“ ist auch einer meiner allzeit-lieblingsfilme!

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