Regina Hilber
Unter Dach und unter Wasser
Über die Unmöglichkeit,
einen Essay über Steyr zu schreiben.
Folge 4
Die ganz großen Gefühle
Unlängst aus dem Fundus des lokalen medialen Zettelkastens: Junge Steyrin bestellte mehr als 50 Pizzen aus Liebeskummer.
Selbst Ernest Hemingway, einst Inbegriff von Männlichkeit (die neue Männlichkeit wird am Reißbrett des Gesellschaftsdiskurses gerade neu austariert), Draufgängertum und Abenteurer offenbarte die Qualen seines Liebeskummers in mehreren Interviews: die unerwiderte Liebe zur amerikanischen Krankenschwester Agnes von Kurowsky – sei schmerzhafter gewesen als seine schwere Kriegsverletzung am Bein, an der er beinahe verstorben wäre.
Vielleicht lag es auch ein wenig am Morphium, dass der junge Hemingway Krankenschwester Agnes 1918 in einem Mailänder Lazarett erlag. Aus einer Distanz von rund fünfzehn Jahren schrieb der Schriftsteller und Berichterstatter den Anti-Kriegsroman In einem anderen Land, der auf seine Erfahrung an der italienisch-österreichischen Front an der Piave beruht, wo er schwer verletzt worden war. Wahrscheinlich hatte eine Mörsergranate aus Steyrer Produktion Hemingways Bein zerfetzt.
Die ganz großen Gefühle. Egal, ob dieser alles umfassende Zustand der Muse, Verwirrtheit, Tollerei und Raserei als Liebe definiert wird oder sich aus Anregung und Resonanz evoziert bzw. auf einen biochemischen Prozess, ein Zusammenspiel aus Dopamin, Oxytocin und Serotonin zurückzuführen ist – auch Heimatgefühle und Identifikationsmuster folgen denselben Mechanismen von Sublimierung und Erhöhung.
Da ist sie wieder – jene Sublimierung und Erhöhung mit deren Hilfe die jungen Türkisen (die schon wieder Geschichte sind) und die FPÖ sich ein gruseliges Retro-Heimatbegriffspotpourri zurechtschnürten in den letzten Jahren: Von der christlichen Studentenverbindung bis zur Hüttengaudi, Slim Fit-Anzug tragende Männerbünde, Jungjagdschaften, omnipräsente kollektive Biergelage inkl. Lederhosen- und Dirndlkult, Retro-Machotum und ikonischer Werkzeugliebe.
Bundesweit offen fremdenfeindliche und frauendiskriminierende Produktbewerbungen waren die Folge. Diese Retro-Tendenz ist keineswegs nur in Steyr (oder Österreich) zu finden, sie wird nur da besonders sichtbar, wo all diese regionalen Bindungsmechanismen mit Lokalpatriotismus verschmelzen, das Terrain gleichzeitig ein begrenztes ist.
Kann ein BMW-Betriebsstandort in einer Industriestadt problematisch gesehen werden, wenn diese maßgeblich von Zwangsarbeiterschaft profitiert hatte während des NS-Regimes? In Steyrs Betrieben waren nicht nur KZ-Häftlinge eingesetzt worden und dabei umgekommen, sondern auch ArbeiterInnen aus anderen Teilen Europas (zum Beispiel aus Frankreich) wurden angelockt, um hier zu arbeiten.
Zeitungsinserate versprachen zu Kost und Logis auch Lohn, in Wahrheit wurden jene größtenteils jungen Menschen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Steyr gelockt: Sie wurden wie die KZ-Häftlinge in Baracken gesperrt und durften bei Bombenangriffen keine Schutzbunker aufsuchen. Gerade die Familie Quandt hatte sich lange Zeit gegen Zahlungen von Entschädigungsleistungen für Angehörige von Zwangsarbeitern gewehrt. Erst 2011 präsentierten die Erben von Günther Quandt einen Historikerbericht, der Ausmaße bzw. Auswirkungen auf die Zwangsarbeiterschaft in BMW-Werken während der NS-Zeit zusammenfasste.
Während meiner Zeit in Steyr habe ich nie (auch nur ansatzweise) einen Diskurs zu dieser Problematik erlebt. Jene Leerstelle schafft eine schiefe Optik. Die BMW-Prototypen, frisch vom Laufband der Werkshalle, kurven bedächtig die Ennsleite hinunter und rüber nach Christkindl. Go Albuquerque, not just around.
Einen Retrogefühlsfund der städtebaulichen Art mache ich auf einer meiner Erkundungsfahrten mit dem Fahrrad durch den westlichen Teil von Münichholz. Es ist die flirrende, aber stille Stunde zwischen Eins und Zwei.
Unten an der Enns schläft eine Sportstättensatelliteneinheit ihren ganz eigenen charmanten Dornröschenschlaf im Gewand der siebziger und achtziger Jahre: Eisstockplatz, Minigolfanlage, Tennisplatz, Campingzone und Ruderclub reihen sich aneinander.
Der Geruch von frisch gemähtem Rasen hängt in der noch einmal schwülwarmen Luft, der gefühlt letzten in diesem Jahr. Noch einmal das sommerliche Gras inhalieren. Sofort fühle ich mich in meine Kindheit und früheste Jugendzeit zurückversetzt. Das Ohr hat ein Gedächtnis, der Knall der Tennisbälle auf dem Sandplatz, der Wind, der den Schall beim Aufschlag bis an das Ennsufer auf der anderen Seite des Flusses trägt.
Unten im Fluss fischt ein alter Mann das letzte Totholz vom vorigen Hochwasser aus der Enns. Geduldig hantiert er mit seinem Seil im knietiefen Wasser. Daneben liegt still sein Kanu. Der alte Mann und die Enns.
Ein MAN-Arbeiter steigt vom Rad, hier im Schatten der feuchten Felswand ist es kühl. Wie viele seiner Kollegen befindet auch er sich im Betriebsurlaub. Wie es danach weitergehen wird, weiß er nicht, sagt er. Sie alle wüssten nicht, ob sie nach dem Betriebsurlaub in Kurzarbeit geschickt oder arbeitslos sein werden. Erst kürzlich wurde die MAN zu Steyr Automotive nach der Übernahme durch Investor Siegfried Wolf.
Fortsetzung folgt.
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Großen Dank an Alois Schöpf für die perfekte Stückelung des Textes!
AHOI nach Innsbruck
jeder deiner berichte aus/über steyr lehrt mich einiges, das ich nicht wusste – danke dafür und für die umfassende recherche zu dieser stadt und dem, was sie umtrieb und noch treibt.