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Regina Hilber
Nomadland - No more shit!
Rezension

Gleich zu Beginn ein Appell an sämtliche DrehbuchautorInnen und FilmemacherInnen: No more shit! Gebt uns künstlerischen Anspruch, spannende filmische Umsetzungen, Innuendos und Rätsel, oder frenetische Formen wie Fragen zurück und befreit uns vom Diktat des Belanglosen!

Als die filmische Adaption Nomadland ihren Weg in die Kinoankünder fand, war ich überrascht. Mehr als ein Jahr zuvor hatte ich das gleichnamige Buch von Jessica Bruder (deutscher Titel Nomaden der Arbeit) gelesen und war verwundert, dass aus diesem Text, der weder Roman noch Erzählung ist, sondern eine sozialkritische Reportage, ein Spielfilm gemacht wurde. Immerhin handelt es sich bei der Originalfassung um eine Recherche- und Studienarbeit, die sich mit den Arbeitsnomaden Nordamerikas im Rentenalter, den sog. Workampers beschäftigt.

Sie alle haben das Pensionsalter erreicht, leben aber unter prekären bis prekärsten Bedingungen in ihren Vans und Campern, ziehen von Bundesstaat zu Bundesstaat, stets auf der Suche nach dem nächsten saisonalen Job, weil die Rente nicht zum Überleben reicht, oder keine Vorsorge getroffen wurde, eine solche zu erhalten.
Noch erstaunter machte mich anschließend die diesjährige Oscarverleihung. Gleich in drei Kategorien konnte Nomadland punkten: Bester Film, beste Regie und beste Hauptdarstellerin. Obwohl ich die Buchvorlage nur zu 2/3 gelesen hatte, weil ich einzelne Passagen journalistisch wie literarisch sehr spröde fand, war ich ob des Preisregens nun noch neugieriger geworden.

Ein erster Versuch, den Film Nomadland im Kino zu bestaunen, war jüngst in Udine gescheitert. Das Kino machte zum angekündigten Vorführungszeitpunkt nachmittags um vier erst gar nicht auf. Wenige Tage später wagte ich einen zweiten Versuch in Triest, jedoch ebenso vergeblich. Die für 22:00 sehr spät geplante Vorführung wurde kurzerhand abgesagt, für die einzige Kinokarte, die ich an jenem Abend lösen wollte, blieb der Kinosaal verschlossen. Zurück in Wien konnte ich immerhin zwischen synchronisierter bzw. englischer Originalfassung auswählen. Ich entschied mich für Letzteres. Mit Spannung betrat ich den Kinosaal (nach mehr als einem Jahr der Kinoabstinenz), um der filmischen Umsetzung einer journalistischen Sozialstudie beizuwohnen.


Nach dem Film ist vor dem Film.

Die Filmadaption Nomadland, von der chinesisch-amerikanischen Regisseurin Chloé Zhao umgesetzt, lässt mich in einem Niemandsland zurück. Ein bisschen fühle ich mich wie auf dem schmalen Landstreifen zwischen zwei Staaten, der Niemandszone, die zu betreten gefährlich erscheint: Wo fängt das eine Land an, wo hört das andere auf? Verschwimmende Grenzen, undefiniertes Terrain, Genresprünge.

Was will Nomadland sein? Und bin ich bereit, neuen Boden zu betreten? Ein Film und welche Subform davon? Dokumentation, Reality-TV? Ich fürchte, von allem ein bisschen. Chloé Zhaos Adaption ist viel mehr Reality-TV in Langform mit Laiendarstellern (die einen guten Job gemacht haben mit ihren Performances!) als ein Spielfilm oder ein episches Werk. Als subtiles Sozialdrama wurde der Film bislang oft betitelt. Subtilität kann ich in Chloé Zhaos neuester Arbeit nicht erkennen, eher knallharte Realität. Natürlich ist die Intention, das Instrument Film als Sozialdokumentary aufzuarbeiten, legitim, gefallen muss mir diese Herangehensweise aber nicht unbedingt. Vielleicht schaffen Regisseure wie Chloé Zhao damit neue Filmgenres, die des Reality-Films zum Beispiel.

Weshalb es die Regisseurin für notwendig erachtet, die ohnehin überbeleuchtete wie überpräsente (und wahrlich uneitle) Frances McDormand alias Fern ständig bei der „Verrichtung ihrer kleinen wie großen Geschäfte“ in Echtzeit darzustellen, darf hier hinterfragt werden. Dieses ständige Verrichten der Notdurft fand ich schon in der TV-Serie Jerks zum Beispiel obsolet. Seit der norwegische Autor Karl Ove Knausgård in seinen autobiografischen „Hier kommt das echte Leben“– Wälzern dem Leser nicht nur minutiös, sondern in Zeitlupenmanier mit seinen großen Sitzungen am stillen Örtchen den letzten Nerv raubte, finden Pinkeln (dieses filmische Privileg ist der Frau vorbehalten!) und große Sitzungen (hier wiederum eher ein Männerding, gemessen an der Quantität in Filmen) immer öfter in Buch, Film und Fernsehen unnötigerweise viel Platz und Raum. Die Geruchsentwicklung ist, im Kinosessel sitzend, imaginär riechbar. We got it!

Diesen abstoßenden Fingerzeig auf das sog. echte Leben finde ich entbehrlich. Für die sämtlichen Zähneputz-Sequenzen in Film und Fernsehen appelliere ich, eine No-Insignificance-Polizei zu installieren, um solches von den Kinoleinwänden und Bildschirmen nachhaltig zu verbannen. Eine Kack- und Pinkelzensur, wenn man so will. Fehlte nur noch, dass uns in Zukunft jede dritte weibliche Darstellerin ihre roten Menstruationsspuren am Bildschirm hinterlässt.

Chloé Zhao muss mir mit sämtlichen Close up´s auf die kackende Fern nicht zeigen, dass ich mir ein authentisches Bild vom Alltag im klapprigen, rostigen Mini-Van ohne Heizung und Toilette vorstellen kann. Weshalb, frage ich mich, liegt RegisseurInnen und AutorInnen neuerdings so viel daran, das Publikum nicht nur für phantasielos, sondern auch für unmündig zu halten? Denn als nichts anderes als Klugscheißerei kann ich all diese Kack- und Pinkelszenen interpretieren. Auf die österreichische Literaturszene gemünzt sind diesbezüglich Stefanie Sargnagel (in all ihren Texten) und David Schalko (Bad Regina) als Fäkalsprachebeispiele anzuführen. Mein Appell an alle (Drehbuch)autorInnen: We don´t need that shit. Schreibt es euch hinter die Ohren, wenn schon nicht ins nächste Drehbuch.

Als Kompensationsszenen biete ich folgende filmische Lebensalltagsalternativen an, ebenso belanglos wie unberauschend: Blumen gießen! Ob Singlehaushalt, Arbeitsloft oder Familienhäuschen – allerorts gäbe es doch zumindest ein Pflänzchen zu betreuen. Selbst in futuristischen Scifi-Serien werden Erdbeerplantagen in Phiolen (sie dienen als Trennwände und Sauerstofferzeuger zugleich) gezüchtet. Macht doch ein close up mit der gießenden Gal Gadot! In Zeitlupe.


Oder: Müll raustragen: Trash, trash, trash.

Als Szenenübergangsfüller fand das Auflegen eines schwarzen oder elfenbeinfarbenen robusten Telefonhörers bis zum Antritt des Handyzeitalters in zahlreichen Filmen Platz. Das Handy kann in puncto Telefongespräch-Beenden nicht mithalten mit dem dramatischen Draufknallen bzw. sanft zögerlichen Ablegen eines schweren Telefonhörers auf die Telefongabel. Immer öfter findet auch das Händeeincremen (ja, wir Frauen bekommen wahrlich die spannendsten Alltagsfüller-Szenen auf den Leib geschrieben) vor dem Schlafengehen in das Skript und somit auf die Leinwand. Wie wäre es stattdessen mit spielerischem Sextalk der weiblichen Darstellerin, wenn Mann bereits bis zum Hals die Decke hochgezogen hat (erstaunlich, dass Mann immer schon im Bett liegt, bevor Frau das Schlafzimmer betritt und sich demonstrativ die Hände eincremen darf), bevor auch sie die Bettdecke lüftet, um darunter in den Schlaf zu driften. Einer von beiden knipst das Licht der Nachttischlampe aus und es passiert: nichts.

So ähnlich fühlt sich dieses Nichts in meinem persönlichen Nachbetrachtungs-Niemandsland an nach der Filmerfahrung von Nomadland. 104 Minuten lang durfte ich Fern und ihren Kumpanen zusehen beim Workampen in den endlosen Weiten Nordamerikas und dabei karge Landschaften bestaunen. Ein dringliches Thema, durchaus. Die rauen Landschaften, die Chloé Zhao eingefangen hat, spiegeln exakt die Lebensumstände ihrer Protagonisten wider: frei sind sie und doch gebunden, berückend, aber nicht schön im Sinne von ästhetischen Ansprüchen. Diese Abbildung ist der Regisseurin trefflich gelungen. Nothing more, nothing less. Oder als Formel ausgedrückt: Nomadland ≠ Kinoereignis.

Muss man dafür 3 Oscars verleihen? Verdeckt ausgezeichnet von der Jury wurde eher die Buchfassung von Jessica Bruder mit ihrem Engagement, diese Subkultur der nomadisierenden älteren Arbeiterschaft abzubilden und zur Gesellschaftsdebatte zu machen.

Mein Oscar geht also ganz direkt und ohne Umwege an die Journalistin Jessica Bruder, nicht aber an eine der Oscar-Kategorien für künstlerische Leistungen im Film. Wie sehr viel verdienter hat da Quentin Tarantino letztes Jahr mit Once Upon a Time in Hollywood abgeräumt.

Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

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