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Regina Hilber
Call Russia
Was ich sagen will über weniger Worte
und als Autorin
doch nicht kann.
Essay

Call Russia. Prägnante Evokation mit erweitertem Echoraum, Nachwellen, Fragezeichen. Auf den Punkt. Auf den Punkt „gebracht“ ist zu ausschmückend formuliert. Gesättigt, ich (nicht satt). Müde. Erschöpft, ausgelaugt. Nicht wegen Überarbeitung, sondern des Geweses wegen rundherum, weil Substantielles rar bleibt, seltener gepflegt wird. Intellektuelle Unterforderung. Microcoughs überall.

Im Stimmfenster der Zeit die endlosen Worte.

Nichts will ich weiter absorbieren an Dahingesagtem, an Prophetischem, gehe über in den Abwehrmodus: Abweisung, Distanzierung, nonverbaler Rückzug. Nicht schaukeln, nicht Echo evozieren, nicht schwingen, sondern Resonanzen stoppen.

Call Russia. Nichts erklären, nichts weismachen, nicht ausholen. Den Ritualismus kappen, indem ich ihm entsage.

Denkt selbst nach!

Wer über die Aktion Call Russia noch nicht Bescheid weiß, sich nichts darunter vorstellen kann, soll mich nicht weiter behelligen, sondern sich informieren.

Handelt eigenständig, recherchiert selbständig, zählt eins und eins zusammen. Ich bin keine Erklärungsmaschine. Blickt um euch. „Bildet“ euch eine Meinung. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. (1)

Draußen schwirren die Trolle aus. Putinbots (2) als Agitprop. Bezahlte Fake News-Produktion und deren Streuung in nie dagewesener Quantität, eine Troll-Armee aus meist sehr jungen StudentInnen, die in St. Petersburg und Moskau in unscheinbaren Hochhäusern am Rande der Stadt sitzen und Streubomben von ungeheuerlichem Ausmaß im Internet platzieren.

Auch auf der Gegenseite. Agitatorische Wortsalven. Lügen. Call Russia als Versuch von Mensch zu Mensch, hält leise dagegen.

Das Individuum hierzulande fordert im allgemeinen Diskurs das Mitreden, Mitdiskutieren, Mitschwingen ein, ohne sich vorab zu informieren, Fakten zu prüfen, Zusammenhänge zu hinterfragen. Es mimt den Experten, Virologen, es denunziert, es richtet – bewegt sich dabei schamresistent auf Subebenen und Metaebenen, schleust eigene Idiosynkrasien mit ein in den dünnen Diskurs.

So viel Gerede, Gemauschel, Halbwissen, so viel Lärm, Echogewese sowie Befindlichkeiten stehen zu wenig fundierter Reflexion, Haltung oder intellektueller Resonanz auf der anderen Seite gegenüber.

Social Media? Selbstdegradierung als Massenphänomen. Ein obsoleter Kommentar auf den anderen gestapelt. Lass die Gans los – lose unter den Kirschbäumen.

Kürzlich der Beschluss der Verlage, Romanen Triggerwarnungen im Klappentext beizufügen. Wie die obligate Petersilien-Zitronenscheiben-Garnitur vergangener Jahrzehnte.

Wann genau hat unsere flächendeckende Entmündigung bzw. Verzärtelung eingesetzt, bei einer zeitgleich omnigrassierenden Narzissmustendenz und ansteigender Gewaltbereitschaft?

Dieser Widerspruch/Gegensatz könnte nicht eklatanter sein. Auf der einen Seite pocht Individualist, pochen Mini-Me´s und Ich-AG´s darauf Experte zu sein, ein Fachmann, ein Gelehrter, ein Weltgewandter, ein Bekehrer, ein stolzer Faun, eine selbstgerechte Perfektionistin.

Aber parallel zur Narzissisierung will Leser angeblich (wer genau führte die Triggerdringlichkeit innerhalb der Literatur ins Tagesgeschehen?) vorgewarnt werden in Klappentexten oder auf Buchrückseiten: Achtung, Liebe! Achtung, Schmerz! Achtung, Gewalt! Achtung, wahre Geschichte! Achtung, bloß Fiktion! Achtung, bitte nicht nachmachen!

Für diesen Essay: Achtung, Meinung!

Mag ich die Menschen nicht mehr?

Ich erlebe diese krasse Ambivalenz als Perversion innerhalb unserer westlichen privilegierten Gesellschaft. Krieg in Europa. Triggerwarnungen an Büchern sind ein Hohn, jede einzelne davon ist eine zu viel. Was folgt als nächstes? Eine Betriebsanleitung inklusive Warnhinweise bez. der Inhalte der Bücher, zudem Prolog, Epilog samt einer Einweisung zur Anweisung? Aber stunden, sogar tagelang (ohne Unterbrechung) schlachten sich Gamer, international connected, gegenseitig über ihre Hochleistungscomputer ab, besitzen US-Bürger pro Kopf mehr Waffen als die USA Einwohner hat.

Less noise: Nichts empfand ich so erfüllend wie die Lockdowns während der zweijährigen Pandemiechose. Zwangsbeglückung auf Zeit. Herrlich. Fraulich. Endlich. Ein Kissen zum Ausruhen. Gebettet im selbstgewählten inneren Exil auf isländischer Eiderdaune. Nie erhoffter Luxus. Alle weg. Alles zu. Alles zugedeckt. Alle weggesperrt. Verordnete Pause, ohne ins Hintertreffen zu geraten sowohl als Privatperson als auch als Autorin. Nirgendwo sein müssen, sich nicht zeigen müssen, nicht Gefahr laufen, Smalltalkern oder Vielrednern mit deren Unwissen bzw. Halbwissen (noch schmerzhafter!) in die Fänge zu geraten. Entschleunigung. Weniger Worte.

Für mich als Privatperson ein Luxusgut, ein Geschenk, während für die meisten Wirtschaftstreibenden ein Desaster. Wie viele meiner Künstlerkolleginnen und Kollegen empfand ich die Lockdowns mehr als Privileg denn als existenzgefährdende Bürde: Atmen, Sortieren. Selbstbestimmtes Vakuum.

Auch wenn dieser Umstand während einer von Restriktionen geprägten Zeit für mich ein Zugewinn war, fühlte ich, sah ich, hörte ich die existenzbedrohliche Situation der vor allem kleinen und mittelständischen Wirtschaftstreibenden. Weniger oder mehr. Die Pandemie hat uns in brutaler Manier vor Augen geführt, wie schnell (aber auch divergierend) Systeme ins Wanken geraten. Kaum ein Verlust, ohne Nutzen an anderer Stelle.

Less talk oder: fewer words

Letzteres zu diffizil, zu weitführend, denn fewer words ist bereits Poesie, tief schürfend und vielfältig interpretierbar. A fewer words – ein Gedicht, oder Gedichttitel, eine Überschrift für einen enigmatischen Roman.

Achtung: Triggerwarnung! Less talk hingegen: konzise, klar begrenzt, punktgenau. Mund halten, Klappe zu, je weniger desto besser. Keep it short and simple. Weniger Befindlichkeit. Weniger Emotion. Kein Impulsverhalten. So wenig wie möglich, so viel als nötig. „Kurz“-Ansage. Wir erinnern uns.

Als Schriftsteller jedoch befinden wir uns im klar divergierenden Feld: Hier, in der Schreibwerkstatt, sind wir Be-Schreiber, Ausschmücker, Gaukler, Claquere, Einpeitscher, Sprachbesessene, Wahrheitssuchende und/oder Übertreiber, Dompteure einer Protagonistenriege. Aktiv Produktive sind wir Schaffende – mal Suchende, mal Hedonisten, politisch Sensibilisierte, Exzentriker, Egomanen, Misogynisten (wenn es darum geht, dem anderen Geschlecht Bedeutung abzugraben), Misandristen (wenn es darum geht, den Misogynisten das Handwerk zu legen), theoretische Abenteurer (3) , zum Diminutiv Neigende (4) , Schachtelsatzfetischisten (5), deren ganze absatz- und seitenfüllende Nebensatzkonstruktionen ins Nichts führen, und Zahnlose.

Call Russia. Eine aphoristische Proklamierung, ein Denkanstoß.

Vor Gericht gilt ebenso: je weniger gesprochen wird, desto besser. Anwälte wiederholen es immer wieder: „Je weniger Sie sprechen, desto besser.“

Dies gilt in Österreichs Strafgerichten vor allem dann, wenn man nicht Angeklagter, sondern Geschädigter ist, denn Angeklagte einer Straftat dürfen hierzulande anders als Opfer (sie stehen unter Wahrheitspflicht), lügen und täuschen.
„Nur mit ja oder nein, oder ich kann mich nicht erinnern, antworten“, trichtern Anwälte ihren Mandanten deshalb ein. Weniger Worte = weniger Angriffsfläche.

So machen es auch die heimischen Politiker, die sich seit zwei Jahren reihenweise in Ermittlungsverfahren befinden (bzw. in der Zwischenzeit: „befanden“).
Call Russia!“, würde man einem Richter gerne antworten.
„Just call Russia!“, würde ich persönlich ergänzen, aber jenes „just“ wäre schon wieder des einen Wortes zu viel.

Der Essayband Der Spaß an der Sache sowie der Roman Unendlicher Spaß (wobei der englische Originaltitel Infinite Jest dies noch archaischer zum Ausdruck bringt) von David Foster Wallace geben Beispiele der Lustmaximierung eines Autors an der Fülle des Wortes.

Umgekehrt die Streichung: Keine literarische Gattung hat die Verknappung der Sprache besser hervorgebracht als der Dadaismus, kurz: Dada. Dabei stand für die Dadaisten das Unkonventionelle im Vordergrund, die Lautmalerei, die Sinnentfremdung von Sprache. Köstliche Dada-Sprachdestillate haben uns die in Vergessenheit geratene Elsa von Freytag-Loringhoven und Beatrice Wood hinterlassen.

Einer Verknappung im Sinne eines Experiments bedienten sich auch Romanciers im vorigen Jahrhundert: Georges Perec beispielsweise mit seinem Roman La Disparition (6) , der gänzlich ohne dem (im Französischen häufig vorkommenden) Buchstaben „e“ (7) auskommen muss. Mit der sog. Verfremdung als Stilmittel erreichte auch der Dramatiker Bertolt Brecht eine Sprachreduziertheit.

Lyrik im Allgemeinen sowie Konkrete Poesie im Besonderen führen per se zur komprimierten Form bzw. Aussage, während die Sentenz, der Aphorismus, als echter Solitär aus dem Literaturkosmos herausstechen darf: Weniger Worte! Die seltene Gattung des Aphorismus wird durch Peter Sloterdijk hervorragend besetzt. Der Philosoph (besser ist er als Autor) macht jedoch seine scharfsinnige Prosa allzu oft mit seiner Geschwätzigkeit  (8) (ganz Alter Weißer Mann) zunichte. Wie ein zartes knuspriges Wiener Schnitzel, das in der Tunke (9) ersäuft.

Too much.

Wir koexistieren gegenwärtig in einer von Trollen und Gewäsch-Kommentatoren bevölkerten Welt. Schafft Facebook & Co ab und ruft stattdessen Russland an! Die Evokation ist universell platzierbar, eine Aufforderung, die Aufmerksamkeit evoziert und ansteckt. Ein Spezialmanöver. Call Russia! Sogleich ist das Individuum ganz im gegenwärtigen Diskurs angelangt ohne viele Worte zu verlieren.

Nichts wird sich ändern, wenn nicht von innen heraus.

Wir alle, einzeln und im Ganzen, sind dieses Innen. Das ist erschreckend und ermutigend zugleich.


1 Aus Ludwig Wittgensteins Tractatus.
2 Russisch: „кремлеботы“ – Kreml-Bots.
3 Karl May wurde vor Gericht geladen wegen „Fiktionalität“ seiner Winnetou-Bücher.
4 Witold Gombrowicz´s Ferdydurke.
5 Michel Houllebecq in Serotonin.
6 Der wenig gelungene deutsche Titel lautet Anton Voyls Fortgang.
7 In der spanischen Übersetzung wurde der dort häufige Vokal „a“, weggelassen, im
 Russischen der Buchstabe „o“.
8. In Zeilen und Tage: Notizen, Suhrkamp Verlag 2012
9. In Deutschland wird das Wiener Schnitzel sinnentfremdet in Brauner Soße schwimmend serviert.

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Regina Hilber

    Danke, liebe Christine,
    just CALL RUSSIA_________xo Regina

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