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Regina Hilber
Abfahrt TRIEST
Korrespondenz zwischen Bahnhofsbar
und WhatsApp-Universum

21.11.23, 12:08 an Gruppo Ultimo: Bin in der Triester Bahnhofsnähe in der schlimmsten Bar gelandet, um die Wartezeit bis zur Busabfahrt nach Wien zu überbrücken: Eine Prostituierte, die sitzend an ihren Freier angelehnt, stumm und insistierend von unten in seine Augen stiert, so über alle Maße abstoßend, dass ich mich fast übergeben muss. 

Direkt am benachbarten Tischchen ein Senior neben seinem zusammengefalteten Rollator, 1 unsauberes Steh-WC für beiderlei Geschlechter (dass diese Ungetüme noch erlaubt sind) in der hinteren Ecke der Bar, der Geruch von zu warmer, angeranzter Mortadella schwebt aus der Glasvitrine heraus und über den Bartresen hinweg, eine Gruppe Straßenarbeiter in breitem Friauler Dialekt bellt Unverständliches. 

Ob ich die Salzgürkchen, die mir zum Tonic gereicht wurden, lieber nicht anfassen soll?

Bloß nicht, textet Karina sofort zurück. Auch M. schließt sich dieser Meinung an. G. dazu etwas insistierender: Keinesfalls anfassen! Und Martha: Fass die Gürkchen nicht an, Gott ich hoffe, du hast sie nicht angefasst, oder?!!!!!

Margret schreibt von Fieberblasen oder Schlimmerem, das garantiert sei. Nur Peter ist davon überzeugt, dass Gürkchen sehr lange haltbar und ergo unproblematisch seien. Draußen stürmt die Bora. Die ganze Woche kein Wind, aber ausgerechnet seit heute Morgen tost sie durch die Straßen. Sono maledetta oggi. Veramente maledetta.

Obwohl ich mich topographisch noch mitten im Triester Stadtgebiet befinde, haben Körper und Geist die Stadt bereits verlassen, befinden sich nicht nur im Aufbruchsmodus, sondern schlimmer, haben auf Niemandsland umgeschaltet, auf diesen Streifen des Nirgendwo zwischen zwei Territorien: Ich bin nicht mehr hier, aber auch noch nicht dort, ja nicht einmal im rettenden Flixbus, um mich aus diesem Stillstand zu retten. 

An Unorten wie diesen wird nicht Zeit umgewälzt, sondern totgeschlagen, poppen die ureigenen Idiosynkrasien auf, die in guten Tagen in Schach gehalten, hier groß auf die Bühne stürmen. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Nichts ist erfunden, dazugedichtet, aufgebauscht. Es ist was ist. Den Rest erledigt Sprache.


21.11.23, 12:27 an Gruppo Ultimo: Um noch einmal auf besagtes Setting zurückzukommen, als dass es sich vor meinem Auge endlich verflüchtigen möge, im Sinne von geteiltes Leid ist halbes Leid. Von Berufs wegen zusammengeschweißt: Prostituierte und Freier, beide mittelalt, er glatzköpfig, Anzug, sie ausgedünnt vom jahrelangen Drogenkonsum, kauern auf der kunstlederbezogenen Bank nebeneinander als seien sie gegenseitig in den anderen hineingeschlüpft, wortlos, regungslos, er den Kopf fast bis zu seiner Brust gesenkt als wäre er sehr betrunken, aber er ist nüchtern. Schämt er sich? Versteckt er sich? 

Sie den Kopf tief geneigt, um wiederum sein Gesicht zu suchen von unten nach oben blickend, die Augen nach oben verdrehend und tonlos in selbiges hineinstarrend, hineinstierend, geradezu einer stillen, bewegungslosen Kopulation gleich sind sie fest aneinander angedockt. Triest ist schließlich eine Hafenstadt, die wichtigste in ganz Italien mittlerweile und auch europaweit reiht sich die Stadt am Karst unter die zehn größten Häfen.

Hat der Freier, Typ Beamter in der Mittagspause, versagt? Sucht sie ihn zu trösten nach einer erektilen Dysfunktion, ihn aufzumuntern, um das Geschäft zu Ende zu bringen? Oder ist alles schon vorher vonstatten gegangen? Gar im StehWC, das ich vorhin in Ermangelung einer Alternative mit großem Widerwillen aufgesucht hatte?

Mir ist richtig schlecht, was immer sich da zwischen den beiden gerade still überträgt, zieht seine Schwingungen bis zu mir herüber, ist physisch spürbar. Das Stieren der Prostituierten dauert lange. Ewigkeiten, eine ganze Tonic-Länge, während der ich abwechselnd auf die Salzgürkchen und die nach unten verbogenen Köpfe der beiden schiele. 

Es ist ein Hundeblick, ein treuherziger Hundeblick, der da von der Prostituierten mit sehr glasigen, weit aufgerissenen Augen sich in seine zu bohren versucht, die aufgespritzten Lippen geschürzt. Sein Kinn ist jetzt ganz an seine Brust gesunken, dockt an der schlichten Krawatte über dem weißen Hemd. Das Wahrhaftige jedoch liegt in der vollkommen wortlosen Szenerie begründet.

Die Barista, Herrin ihres Caffé alla Stazione Excelsior, weiß, dass in ihrem Laden etwas atmosphärisch in der Luft hängt, das nicht von allen Gästen geschätzt wird. Wie ein Fremdkörper, der sich um die anderen integren Gäste, Wartende wie mich legt. Sie versucht mich abzulenken, indem sie zu den Salzgürkchen, die ich mich weigerte anzufassen, jetzt noch ein Schälchen Erdnussflips Größe XL auf das Marmortischchen vor mir platziert – als würde diese Geste die angeranzte Atmosphäre etwas aufsplitten und mich von der Untadeligkeit ihres Lokals überzeugen. Ich blicke auf die anderen Tischchen der Gäste, denen dieser spezielle Service nicht zuteilwurde.

Gott sei Dank bin ich zu overdressed, um hier jemanden auf dumme Gedanken zu bringen. Ich versuche mich abzulenken ob der Tristesse im Bahnhofcaffé Excelsior und endlich der rettende Anker:


Höttinger Brekzie!

Das runde, rostfarbene Kaffeehaustischchen vor mir ist wiederum aus Bozner Brekzie gefertigt, so meine Vermutung. Der Baumeister, für den ich vor Jahrzehnten in Innsbruck arbeitete, hatte u.a. das Hotel Europa, Innsbrucks damaliges einziges Fünfsternehaus, von Kopf bis Fuß mit Höttinger Brekzie ausgekleidet (Höttinger Brekzie: Kalk-Baustein aus dem Höttinger Steinbruch, rötlichbraun, porös; findet sich in zahlreichen Innsbrucker Hotels als Innenverkleidung für Bars, Saunaanlagen u.ä.). Den nötigen Ausgleich schafften die Zirbentäfelungen in den Stuben. Ich schwelge in Erinnungen, der Höttinger Brekzie sei Dank. Ob sie immer noch abgetragen wird im Steinbruch?

Plötzlich löst sich die Prostituierte stumm von ihrem Beamtenfreier im grauen Anzug, stakst in ihren viel zu hohen Blockabsätzen hinüber zur Toilette, wo sie das StehWC erwartet, das an Unhygiene nicht zu überbieten ist. 

Auch er erhebt sich, geht an den Tresen, um zu bezahlen. Aufgerichtet wirkt er sehr groß, Typ Stämmig.Fleischig, fleischig, aber eben nicht dick, eine beachtliche Körpermasse ohne jegliche Körperspannung, alles fließt von den Schultern abwärts in unsichtbaren Kaskaden hinab, der Beamte kommt nun ganz zum Vorschein, wie er da steht und nicht mehr zusammengekauert mit Kopf auf der Brust auf der kunstlederbezogenen Sitzbank versunken. Wie zwei konträre Wesen, in zwei sehr unterschiedlichen Welten, von der er die eine zwielichtige jetzt verlassen muss ob des Endes der Mittagspause.


21.11.23, 12:42 an Gruppo Ultimo: Endlich, ein Lichtblick: ich erspähe auf dem Tresen eine Flasche Desinfektionsmittel. In Erwartung der heilbringenden Säuberungsmaßnahme streife ich meine Ringe ab, dann erhebe ich mich vom Tischchen auf den Tresen zu, ich glaube, mich lächeln zu sehen. Ich pumpe und pumpe, aber das Desinfektionsfläschchen will partout nichts ausspucken. Verzweifelt pumpe ich wieder und wieder, die linke Hand erwartungsvoll vor dem Spender wie ein Schälchen untergehalten. Mit dem rechten Ellbogen bewege ich den Pumpmechanismus weiter nach unten, bloß den Spender nicht anfassen! 

Die Leute starren jetzt alle auf mich, richten ihre Aufmerksamkeit dankbar auf das neue Setting, das in der Bar alla Stazione Excelsior geboten wird. Wie frustrierend, erwartungsvoll die Hand aufzuhalten und nichts zu ernten als den stillen Hohn des Publikums. Gegen Keime wird man nur resistent, wenn man sich ihnen aussetzt, schreibt Annett zurück.


21.11.23, 13:38 an Gruppo Ultimo: Endlich im Bus! Vor mir sitzt das schwulste Pärchen, das dieser Flixbus je gesehen hat: der tuntigere von beiden, ein sehr kleiner Asiate, beide Mitte 30. Jetzt knabbern beide synchron an einem kleinen, roten Apfel, eher Äpfelchen, in der linken Hand jeweils eine winzige Sharon-Frucht haltend, die offensichtlich hernach verspeist werden soll. Kein Scherz. 

Geschichten wie diese schreibt das Leben, nicht der Autor. Die beiden schwulen Männer sitzen also direkt in der Sitzreihe vor mir, die rechte Hand zum Mund führend, um vom roten Äpfelchen zu beißen, während sie die linken Hände, auf denen die orange Sharon-Frucht thront, auf Brusthöhe halten, wie einen Reichsapfel bei der Krönungszeremonie. Könnte die in feudaler Warteposition platzierte Sharon aus sich heraus sprechen, sie würde einen weitaus besseren Roman liefern, als die Verlagswelt uns seit Jahren mit minderprächtiger Unterhaltungsliteratur zwangsbeglückt. Oh göttliche Sharon!

Das absolut symmetrische Schauspiel vor meiner Sitzbank hat geradezu eine narkotisierende Wirkung auf mich. Nichts beruhigt mich mehr als symmetrische Anordnungen, Parallelverläufe, synchrone Bewegungen. Vielleicht, weil ich ursprünglich von der Architektur komme und auf Linie getrimmt bin? Oder entspricht diese Fixierung auf Synchronität und Parallelismen eher meinem Autismus-Spektrum?

Ich wiederhole an alle Einheiten: Rechts rotes angebissenes Äpfelchen und links unversehrte orangefarbene Sharon, verteilt auf vier Hände, dupliziert auf zwei Sitze mit zwei Schwulen – nichts Beruhigenderes könnte mir diese lange Busfahrt bescheren. 

Um das Bild nicht in Schräglage, in Disharmonie zu bringen, setze ich mich auf den Spalt zwischen meinen beiden Sitzen um geradewegs, und absolut synchron mal rechts, mal links, dem Setting beiwohnen zu können. Versteht sich von selbst, dass Äpfelchen und Sharon jeweils exakt gleich groß sind.

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Regina Hilber

Regina Hilber, geb. 1970, lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Essays, Erzählungen sowie Lyrik. Sie ist auch als Publizistin und Herausgeberin tätig. Zuletzt erschienen ihre gesellschaftskritischen Essays in Lettre International, Literatur und Kritik und in der Zwischenwelt. Ihre Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet, ihre lyrischen Zyklen in mehrere Sprachen übersetzt. Zahlreiche Einladungen zu internationalen Poesiefestivals und geladenen Schreibaufenthalten in ganz Europa. 2017 war sie Burgschreiberin in Beeskow/Brandenburg. Buchpublikationen zuletzt: Palas (Edition Art Science, 2018) und Landaufnahmen (Limbus Verlag, 2016). 2018 gab sie die zweisprachige Anthologie Armenische Lyrik der Gegenwart — Von Jerewan nach Tsaghkadzor (Edition Art Science) heraus.

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