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Peter Kurer
Das Loch im Donut
Zur angeblich hoffnungslosen Lage der Schweiz
1.Teil:
Ranking-Weltmeister
Analyse

Keck und etwas unbedarft schaut er aus, der Botschafter der Vereinigten Staaten in der Schweiz, Scott C. Miller. Unlängst hat er einige Duftmarken in der Schweizer Öffentlichkeit hinterlassen, die als undiplomatisch eingestuft wurden.

Der Chef des NZZ Feuilletons, Benedict Neff, hat ihn danach der Liga der Krawalldiplomaten zugeordnet, einer Sorte von Gesandten, die sich ohne Hemmungen und entgegen den diplomatischen Regeln in die Innenpolitik eines Gastlandes einmischen – wie etwa auch der frühere amerikanische Botschafter in Berlin, Richard Grenell, der Ukrainer Andri Melnik, der Olaf Scholz einmal als beleidigte Leberwurst betitelte. Oder auch wie die chinesischen Wolfskriegerdiplomaten, die sich um ihren Aussenminister Qin Gang scharen.

Scott Miller hat in einem Interview mit der NZZ festgehalten, dass sich die Schweiz in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg befindet. Er adressierte insbesondere die schweizerische Handhabung der Sanktionen, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden. Er verstieg sich zwar nicht zur Behauptung, die Schweiz würde die Sanktionen nicht umsetzen, hielt aber fest, dass die Ausführung gelegentlich zögerlich erfolge.

Dann kam er auf den Punkt zu sprechen, der wohl den Kern seines Anliegens bildete: Die Schweiz habe zwar 7,75 Milliarden Franken an russischen Vermögenswerten eingefroren, könnte aber 50 bis 100 Milliarden mehr blockieren.

Die USA verfolgt eine Politik, die, weit über die Sanktionen hinausreichend, eine generelle Konfiszierung russischer Vermögenswerte anstrebt, die man dann für den Wiederaufbau der Ukraine verwenden könne. Miller drängte darauf, dass sich die Schweiz der für diesen Zweck von den USA gesponserten Task Force Russian Elites, Proxies and Oligarchs anschliesst.

Der Bundesrat hält umgekehrt die eigentliche Konfiszierung, also die endgültige Einziehung von Vermögenswerten für rechtsstaatlich problematisch und hat bis anhin den Beitritt zu dieser Arbeitsgruppe abgelehnt.

Der Botschafter kritisierte zudem das schweizerische Waffenausfuhrverbot, das die indirekte Lieferung von Munition und Panzern an die Ukraine verhindert, und beschrieb das Land als eine Lücke in der europäischen Sicherheitsarchitektur:

Die Nato ist gewissermassen ein Donut – und die Schweiz das Loch in der Mitte. 

Seitdem ist die Schweiz kollektiv empört, man will partout kein Loch im Donut sein. Aber man könnte sich doch einmal analytisch die Frage stellen: warum eigentlich nicht?

Bevor wir der Frage, ob die Schweiz ein Loch in einem grässlichen amerikanischen Süßgebäck darstellt, etwas genauer nachgehen, müssen wir zuerst auf die wirtschaftliche und politische Substanz des Landes eingehen, da man sonst die realen Tatsachen und den Kontext schnell übersieht.

Die Schweiz ist ein kleines Land mit nur gerade 8,8 mio. Einwohnern, es liegt in der Mitte Europas und ist von Ländern umgeben, die historisch öfters seine Feinde als seine Freunde waren. Das Land hat keine Rohstoffe. Es konnte sich seit fünfhundert Jahren aus den europäischen Kriegen heraushalten, es gehört weder der EU noch der Nato an, hat aber ein Netz von Handelsverträgen und einen diplomatischen Dienst, die beide weit grösser sind als diejenigen vergleichbarer Staaten.

Das Land ist Gastgeber u.a. eines europäischen Sitzes der UNO, der WTO, der WHO, der WIPO, des IKRK, zahlreicher Sportsverbände und vieler anderer Institutionen. Einige der grössten und gleichzeitig globalsten Unternehmen Europas wie Nestlé, Roche, Novartis, UBS, Zurich Insurance Group, Swiss Re, Lonza und Holcim sowie zahlreiche Giganten des internationalen Rohstoffhandels einschliesslich Seeschifffahrt, Logistik und Spedition haben ihren Sitz in der Schweiz.

Die Wirtschaft ist hochgradig diversifiziert, bestehend aus Landwirtschaft, Tourismus, Finanz, Handel, Pharmazeutik und Chemie, verarbeitender Industrie, Feinmechanik, Medizinaltechnik, Dienstleistungen, Technologie und Uhren, und sie ist als Folge dieser Vielfalt resilient in Krisen.

Dank alldem ist die Schweiz heute eines der reichsten Länder Europas. Sie steht in vielen internationalen Rankings an der Spitze: die Schweiz führt den Human Development Index der UNO an, gemäss dem Cato Institute ist sie das freiste Land der Welt, worin nach dem World Happiness Report überdurchschnittlich viele glückliche Menschen wohnen. Laut WIPO ist die Schweiz das innovativste Land der Welt, für das WEF war es in seinem letzten einschlägigen Bericht the most competitive country, und Insead führt es an der Spitze des Global Talent Competitiveness Index.

Die Schweiz beherbergt die besten Universitäten des europäischen Festlands. Aus aller Welt wollen die Leute hier leben, wir setzen deshalb Rekordmarken in Sachen Immigration, rund 40 Prozent der Bevölkerung haben zwischenzeitlich einen Migrationshintergrund. Inflation wie Arbeitslosigkeit und Verschuldungsgrad sind trotz weltweiter Krise tief, die politische Stabilität hoch, das Gesundheitssystem, die Verkehrsinfrastruktur und die Bildungsinstitutionen funktionieren besser als anderswo.

Auch wenn man all diese Indikatoren in der einen oder anderen Art relativieren kann und sollte: Was will man mehr? Und trotzdem fühlt sich die Schweiz unter Druck und belagert wie das letzte gallische Dorf.

Gewisse Teile der Medien und der Politik übertreffen sich in Untergangsstimmung. Selbst im privaten Kreis hört man viel Kümmernis. Diese plötzlich ausgebrochene Malaise hat im wesentlichen drei Komponenten: Erstens die bereits erwähnte sicherheitspolitische Lage einschliesslich der Ingredienzien Sanktionen, Waffenausfuhr und Neutralität; zweitens das ungelöste Verhältnis zur EU; und schliesslich, seit kurzem, der plötzliche Kollaps der zweitgrössten Bank des Landes, der Credit Suisse.

Die Schweiz ist ein neutrales Land, und das zumindest in Ansätzen seit Jahrhunderten. Bis zum Ende des Mittelalters betrieb es eine aggressive Aussen-, ja Grossmachtpolitik, die ständige Kriegszüge über die Grenzen miteinschloss. Um 1515 erlitt ein schweizerisches Expeditionscorps bei Marignano in der Nähe von Mailand eine vernichtende Niederlage gegen den französischen König Franz I. In der Folge zog sich die Eidgenossenschaft auf ihr angestammtes Gebiet zurück und hielt sich hinfort aus den europäischen Kriegen heraus.

Bereits im Dreissigjährigen Krieg blieb das Land verschont, und dies bis zur kurzen und relativ unblutigen napoleonischen Eroberung. Im Wiener Kongress wurde schliesslich die Neutralität der Schweiz auch völkerrechtlich anerkannt. Die Eidgenossenschaft war weder in den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg involviert und damit endgültig eine Insel im umkämpften europäischen Kontinent.

Die Neutralität ist die weltweit bekannteste, letzten Endes aber nicht die wichtigste Maxime der schweizerischen Aussenpolitik, sondern eher Mittel zum Zweck, um Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes zu wahren, was als die oberste Leitlinie gilt.

Das Konzept der Neutralität hat einen harten rechtlichen Kern, wonach sich die Schweiz im Kriegsfall weder mit eigenen Truppen noch mit Waffen an einem ausländischen Konflikt beteiligen darf und sich von Militärbündnissen fernhalten muss. Um diesen harten Kern schmiegt sich das generellere Konzept der Neutralitätspolitik, die für die Friedenszeit gilt; diese Neutralitätspolitik ist bis dato rechtlich nicht verpflichtend und kann sich deshalb flexibel den jeweiligen Bedingungen, z.B. in Fragen von Sanktionen und Embargos, anpassen.

Christoph Blocher, der Anführer der nationalkonservativen SVP hat vor kurzem eine Verfassungsinitiative angestossen, bei deren Annahme die Regierung strikt eine allgemeingültige, d.h. unflexible Neutralitätspolitik verfolgen müsste. Für Diskussion ist gesorgt.

Ein Ausfluss der Neutralitätspolitik war traditionell, dass sich das Land ausländischen Sanktionen nur dann anschloss, wenn diese von der UNO dekretiert wurden. Im Ukrainekrieg hat die Schweiz nun aber die Sanktionspolitik der EU mit kleinsten Nuancen vollständig übernommen und setzt diese auch konsequent um.

Umgekehrt beharrt die Schweiz auf einem strikten Waffenausfuhrverbot, obwohl sich dieses nicht direkt aus dem Neutralitätsrecht ableiten lässt, sondern vielmehr auf pazifistisch motivierte Volksinitiativen zurückgeht.

Auf der Basis einer relativ jungen Gesetzesbestimmung verhindert die Schweiz die Weitergabe von Munition an die Ukraine, die ursprünglich in der Schweiz produziert wurde, heute aber in anderen europäischen Staaten lagert und mit einem schweizerischen Wiederausfuhrverbot behaftet ist.

Ebenso hat sie sich bis anhin geweigert, Leopard Panzer aus eigenen Reservebeständen in einem sogenannten Ringgeschäft an Polen oder Deutschland zu verkaufen, die damit eigene Bestandeslücken füllen könnten, welche durch die Lieferungen solcher Panzer an die Ukraine entstanden.

Zahlreiche ausländische Staaten, Politiker und Medien kritisierten die Schweiz dafür offen. Vielfach haben ausländische Stellen und Medien die Neutralität überhaupt in Frage gestellt, da sie unzeitgemäss geworden sei.

Fortsetzung folgt am 25.04.2023


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Peter Kurer

Peter Kurer wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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