Werner Schandor
"Toxische Männlichkeit"
Das Männerleid auf der Feminismus-Waage
Essay

Vor wenigen Wochen hatte ich ein Streitgespräch mit einer befreundeten Journalistin. Obwohl sie seit über 30 Jahren täglich die Zeitung liest, war es für sie etwas durchaus Neues, dass Männer in unserer Gesellschaft auch Benachteiligungen ausgesetzt sind bzw. sein sollen. Diese gewagte Behauptung hatte ich erst einmal mit Argumenten zu untermauern.

Die waren schnell gefunden: Abgesehen von der bekannten, im Schnitt fünf Jahre kürzeren Lebenserwartung von Männern gibt es unter anderem noch Selbstmord, Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Obdachlosigkeit als statistische Größen, in denen Männer den Frauen mit beachtlichem Abstand davonziehen: Circa drei Viertel bis vier Fünftel der Betroffenen sind Männer. 

Aber auch die schulische Benachteiligung von Jungen (schlag nach bei Jesper Juul) und die Benachteiligung von Männern vor Gericht fielen mir ein. (Letztere Aussage ist mit Vorsicht zu genießen, wie eine nachträgliche Recherche ergab: Die juristische Benachteiligung von Männern wurde in einer US-Studie des Jahres 2001 nachgewiesen, die Tausende US-Gerichtsurteile ausgewertet hatte. Das Ergebnis lässt sich aber nicht auf den deutschen Sprachraum übertragen.)

Wir hatten eine zunehmend heftige Diskussion, bei der die Freundin als mögliche Begründung für die kürzere Lebenserwartung der Männer die Zuschreibung der toxischen Männlichkeit in Stellung brachte: Wären die Männer nicht so aggressiv auch gegen sich selbst, dann … platzte mir der Kragen. Auf den Begriff toxische Männlichkeit reagiere ich mittlerweile, zugegeben, allergisch bis toxisch aggressiv, weil in meinen Augen schon die fixe Wortverbindung ein Mittel der Diffamierung ist. 

Wer toxische Männlichkeit ins Treffen führt, müsste sich auch überlegen, was analog dazu toxische Weiblichkeit und von mir aus auch toxische Nonbinarität bedeutet. Doch das passierte jahrelang nicht und jetzt erst zögerlich: Ein erstes Buch zur toxischen Weiblichkeit ist im Frühjahr 2024 im Hanser Verlag erschienen. Stattdessen dominiert medial der genderfeministische Glaubenssatz, ausschließlich sogenannte Cis-Männer (klingt schon verstimmt) seien zu sozial schädlichem Handeln fähig.


Verhärtete Männerklischees

Seit #MeToo hat sich in linksliberalen Medien ein Männerklischee etabliert, das Ausbeutung, Vergewaltigung und Morde an Frauen direkt mit einem ominösen männlichen Kerncharakter – der toxischen Männlichkeit – in Zusammenhang bringt. Der Schwanz ab-Radikalfeminismus der 1970er-Jahre ist damit im Mainstream angekommen.

Im progressiven Radio erhalten Songs Airplay, die Rachemorde an Männern herbeiphantasieren (Ich töte euch alle singt die Band Bipolar Feminin). Ebenso hat die eigenwillige Ansicht, dass die Heterosexualität in erster Linie ein sozial erwünschtes Verhalten und damit aufgezwungen sei (Stichwort Heteronormativität), sehr gute Chancen, verständnisvoll rezipiert zu werden. Den Frauen werde die Heterosexualität übrigens durch Männer aufgedrängt, um sie zu unterjochen, behaupten Feministinnen wie die Französin Pauline Harmange, Autorin des Buches Ich hasse Männer (2021), deren offen zur Schau gestellte Männerfeindlichkeit mittlerweile salonfähig ist. Keine Frau wolle in Wahrheit Sex mit Männern haben, daher sei der Beischlaf in jedem Fall eine Form der Vergewaltigung.

Derlei extravagante Behauptungen scheinen in Medien links der Mitte niemanden wirklich zu irritieren. Während rechtsidentitärer Stuss zu Recht unter medialer Beobachtung steht, wird linksidentitärer Stuss (der den Feminismus unterwandert hat) stillschweigend geduldet, so als ob die Männer es verdient hätten, dass sie mit künstlerischen Mordphantasien bedacht und immer wieder pauschal als Ausbeuter, Vergewaltiger und Unterdrücker hingestellt werden, die nichts unterlassen, um Frauen ins Unglück zu stürzen.

Wenn im Gegenzug statistische Daten auf den Tisch kommen, die belegen, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen Männer den Kürzeren ziehen, dann werden diese Zahlen entweder medial unter ebenselben Tisch fallen gelassen (meine journalistische Freundin war bass erstaunt, dass die Corona-Sterblichkeit von Männern in den ersten beiden Pandemiejahren doppelt so hoch war wie jene von Frauen – kein Wunder, in Österreich war das kaum ein Thema) oder so gedreht, dass, wann immer möglich, Frauen als noch größere Opfer dastehen.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Berichterstattung über die österreichische Selbstmordstatistik 2022, die im Herbst 2023 vorgelegt wurde. Erstmals seit 35 Jahren ist die Zahl der Selbstmorde in Österreich im Vergleich zum Vorjahr wieder deutlich gestiegen. 2022 haben sich 1.276 Menschen das Leben genommen, eine Steigerung gegenüber 2021 um 16 % (177 zusätzliche Suizide, darunter erstmals 54 assistierte Suizide im Rahmen der Sterbehilfe).Von den 1.276 Suiziden 2022 wurden 966 von Männern begangen (Anteil: 75 %) und 310 von Frauen. Verglichen mit 2021beträgt die Steigerung: 87 Männer und 90  Frauen.

Die absoluten Steigerungszahlen von 87 bzw. 90 sind fast identisch. Da aber die Ausgangsrate an Selbstmorden bei Männern deutlich höher ist als bei Frauen, fällt die relative Steigerung bei ihnen geringer aus: Die 87 zusätzlichen männlichen Selbstmörder bedeuten eine Zunahme von nur 10 %; die 90 zusätzlichen Selbstmörderinnen aber einen Anstieg von 40 %. Die fette Schlagzeile im ORF lautete daher: Suizidstatistik: Deutlicher Anstieg bei Frauen – und schon war das Leid der Männer wegrelativiert und nur unter ferner liefen im dritten Absatz kurz erwähnt. (Wie immer, wenn der ORF Zahlen so drehen kann, dass sie der feministischen Weltsicht entgegenkommen.) https://orf.at/stories/3333035/


Opferstatus

Auch die befreundete Journalistin antwortete auf unseren schriftlich fortgeführten Disput mit einer Relativierung: Trotzdem kannst du nicht leugnen, dass es gesellschaftlich große Probleme gibt in Sachen Gewalt und Frauen, Altersarmut bei Frauen etc. Dagegen scheint mir das Leid gekränkter Männer IM DURCHSCHNITT geringer zu sein.

Männern, die auf diese Weise dialektisch argumentieren, wird gerne vorgeworfen, sie würden unfair mit Whataboutismen (also Verweisen auf andere Problemzonen) kontern, weil ihnen die Argumente ausgingen. Ja, man muss den Frauen ihren unangefochtenen Opferstatus schon lassen. Da kommen die Männer im Durchschnitt nicht mit, auch wenn sie, wie erwähnt, im Durchschnitt fünf Jahre kürzer zu leben haben, was, wenn es Frauen beträfe, sicherlich Anlass für eine nie endende mediale Aufregung wäre. Frauen haben seit Jahren einfach die bessere Presse.

Aber mir fiel vor allem auch der kleine Seitenhieb das Leid gekränkter Männer beim Einwand der Freundin auf. Diese Formulierung legt nahe, dass das männliche Leid in Form von Selbstmord, Alkoholismus, Drogenkrankheit, Obdachlosigkeit etc. in Wahrheit kein Grund zur Klage sein könne (wie kann es auch sein: es betrifft doch nur Männer), sondern übertrieben ist, eingebildet und auf dem Mist einer psychischen Verstimmung gewachsen. Wären Männer nicht gekränkt, so die Unterstellung, dann gäbe es gar keinen Grund zum Jammern oder auf die besagten Fakten hinzuweisen, denn das Leid der Frauen sei IM DURCHSCHNITT größer.

Eine Frage bleibt dabei offen: Wie berechnet man den Durchschnitt des Leids? Wiegt das Leid von Individuen einer Gruppe mehr als das einer anderen, auch wenn sie in mehreren Bereichen deutlich benachteiligt ist? (Ja sicher, sagt der Feminismus. Ihr Männer seid euch eurer Privilegien nur nicht bewusst.) Und: Leiden Männer weniger am Leben und den Umständen als Frauen, nur weil sie ihr Leid weniger oft an die große Glocke und dafür sich selbst öfter an den Glockenstrang hängen?

In welcher Statistik zeigt sich der Durchschnitt des Leids?
• Beim geringen Einkommen? – 2,8 % der Männer und 3,6 % der Frauen gelten in Österreich als arm.
• Bei der Besetzung von Führungspositionen? – In den Chefsesseln der 200 größten Unternehmen sitzen nur zu 20 % Frauen.
• Bei unbezahlter familiärer Arbeit? – Die wird zu ca. 65 % von Frauen verrichtet.
• Bei tödlichen Arbeitsunfällen? – Von 134 tödlich Verunglückten anno 2022 waren 126 Männer; Quote: 94 %.
• Bei den Mordopfern? – Österreich ist das einzige EU-Land, in dem seit Jahren mehr Frauen als Männer ermordet werden. 2022 waren es 39 Frauen und 33 Männer.
• Bei der allgemeinen Lebenserwartung? – Frauen leben im Schnitt in Österreich 84 Jahre lang, Männer 79 Jahre.
• In der Suchtstatistik? – Von 248 Drogentoten anno 2022 waren knapp 80 % Männer.
• In der Obdachlosenstatistik? – 2021 gab es rund 19.500 Wohnungslose in Österreich, davon fast 70 % Männer.

Lässt sich der Strick, den das Leid den Menschen dreht, mit Statistik durchschneiden? Oder ist das Leid der Männer nicht ohnehin, wie es der Einwand der Freundin nahelegt, gewissermaßen eine Vater morgana: die Einbildung gekränkter Luschen, die echten Männern (den toxischen) in Wahrheit gar nicht zusteht? (Irgendwann ist mir aufgefallen, dass die progressive Genderphilosophie ein in Beton gegossenes Männerbild ihr eigen nennt.)
Sei kein Schlappschwanz, Junge, sei ein Mann, schau Tod und Verderben deiner Leidensgenossen mutig ins Auge, aber reagiere nicht aufgebracht, wenn ihr Leid unter den Teppich gekehrt wird, und wenn doch: dann nur zulasten des eigenen Geschlechts.

Stoppt Gewalt an Frauen, wie eine aktuelle Kampagne fordert, kann, im Kehrschluss gelesen, auch bedeuten: Gewalt an Männern ist weiterhin OK. Denn Gewalt geht, wie kolportiert wird, ausschließlich von Männern aus (zumindest die körperliche, heißt es). 

Zwar sind ca. 70 % der statistisch belegten Gewaltopfer Männer. Aber Mann gegen Mann, das ist ein fairer Kampf, nicht wahr? Oder, um im Durchschnitt zu bleiben: Mann durch Mann, das ergibt: null Aufmerksamkeit für jedes männliche Opfer. Ein Nullsummenspiel der Geschlechtergerechtigkeit.

Daher beenden wir jetzt diesen sprachspielerischen Exkurs, der auf nichts hinausläuft außer den gekränkten Mann in seinem Leidwesen. Sein Elend liegt auf der feministischen Opferwaage und wird für zu leicht befunden. Dieser toxische Loser ist der medialen Beachtung nicht Wert. Weder im Durchschnitt seiner nur unwesentlich gestiegenen Selbstmordrate noch in absoluten Zahlen.

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Werner Schandor

Werner Schandor ist Texter, Autor und Hochschuldozent in Graz. Er studierte Germanistik und Sozialpädagogik an der Uni Graz und ist seit 1995 in der PR tätig. Er hat Lehraufträge am Department „Medien & Design“ der FH Joanneum sowie am Institut für Germanistik der Uni Graz. 2020 erschien sein Buch „Wie ich ein schlechter Buddhist wurde. Essays, Glossen und Polemiken“ in der Edition Keiper. Weitere Infos: www.textbox.at

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