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Peter Kurer
Das Rahmenabkommen Schweiz-EU scheiterte auf der Tonspur.
Oder:
Vom Behagen im Kleinstaat
Essay

Das Rahmenabkommen Schweiz-EU ist gestorben, so sagt man. Vielleicht sind die entsprechenden Berichte stark übertrieben, aber dennoch: wir stehen vor einem Scherbenhaufen, darin sind sich alle einig. Es lohnt sich wohl, diesen Scherbenhaufen etwas genauer zu inspizieren, um daraus zu lernen.

In der offiziellen Darstellung scheiterte das Rahmenabkommen an drei Sachfragen, bei denen sich die Schweiz und die EU nicht finden konnten: Staatsbeihilfen, Unionsbürgerrichtlinie und Lohnschutz.

Darüber hinaus kritisierten die Gegner des Abkommens die dynamische Rechtsübernahme sowie die Modalitäten der Streitschlichtung durch das Schiedsgericht. Im Entwurf des Rahmenabkommens finden die entsprechenden Bestimmungen nur Anwendung auf fünf ausgewählte Marktzugangsabkommen (Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Luftverkehr, Landverkehr). Weiter gehen sie nur, wenn die Schweiz und die EU zusätzliche Verträge abschliessen.

Nun würde ein objektiver Beobachter meinen, dass man für diese überschaubaren Bereiche vernünftige politische Kompromisse finden sollte, wenn beide Parteien wirklich glauben, das Abkommen sei wichtig und anderweitig gut. Dies ist aber nicht geschehen, nicht zuletzt, weil der Bundesrat am Schluss das Verhandlungsresultat als nicht mehrheitsfähig erachtete.

Meine Grundthese ist deshalb, dass das Rahmenabkommen nicht an diesen fünf Sachfragen scheiterte. Vielmehr entwickelte sich in der Schweiz im Laufe der langen Diskussion eine kollektive Grundstimmung, wonach einfach die ganze Richtung nicht mehr stimmte.

Die konstituierenden Elemente dieser Grundstimmung standen nie im Zentrum der Diskussion, liefen aber immer im nebenbei Ausgesprochenen mit, sozusagen auf der Tonspur.

Ein solches Element ist die Vorstellung, dass das Rahmenabkommen uns, sobald man es nicht nur statisch, sondern in der weiteren Entwicklung sieht, immer näher an die EU heranbringt. So betrachtet wäre das Rahmenabkommen so etwas wie ein finaler Schritt, der unweigerlich früher oder später zum Vollbeitritt in die EU führt. Genau dies wurde am Rande der Diskussion von gewichtigen Stimmen vertreten, beispielsweise von Paul Widmer oder Karl Baudenbacher. Letzterer sprach von einem «point of no return».

Diese Furcht von der finalen Annäherung an die EU ist tief in der Übungsanlage verankert, und zwar mehrfach. So gibt es in der Schweiz ein nicht unbedeutendes progressives Lager, das eine solche Annäherung an die EU anstrebt, beispielsweise die Sozialdemokratische Partei, die NEBS und eine breite akademische, diplomatische und publizistische Schule, die in der EU ein aufklärerisches Fortschrittsprojekt sieht. Auch die EU selbst möchte aus naheliegenden Gründen unser kleines und reiches Land inmitten Europas immer näher an sich binden.

Dies hat sich auch im Rahmenabkommen selbst niedergeschlagen: In der sogenannten «Gemeinsamen Erklärung EU-Schweiz zu den Handelsabkommen» nehmen die Vertragsparteien ein breites Programm der «Modernisierung der Abkommen» in Aussicht, das vom verbesserten Marktzugang in allen Bereichen, einem neuen Freihandelsabkommen, der Verbesserung des Zollwesens bis in die soziale und ökologische Dimension der Nachhaltigkeit hineinreicht.

Nun gibt es in der Schweiz ein starkes nationalkonservatives Lager, das über Jahre hinweg genau diese Art der Annäherung an die EU bekämpfte, weil diese aus seiner Sicht das Ende der souveränen Schweiz bedeuten würde. Dieses Lager, so zeigt die Abstimmungsgeschichte der letzten dreissig Jahre, ist stark genug, um einen Beitritt in die EU oder den EWR zu verhindern, aber zu schwach, um die Bilateralen zu blockieren.

Zwischen diesen beiden ideologisch ausgerichteten Lagern gibt es das grosse Feld der meist wirtschaftsnahen Pragmatiker. Ich glaube, dass genau in diesem Lager der Pragmatiker die Unterstützung für das Rahmenabkommen zunächst bröckelte und dann ganz zusammenbrach. Ich habe keine harten Daten, die das belegen würden, aber die anekdotischen reichen: Die Parteien in der Mitte, die zuerst ziemlich geschlossen hinter dem Rahmenabkommen standen, wurden unschlüssig; die Wirtschaft, die ursprünglich eine einheitliche Phalanx dafür bildete, zerfledderte sich in Befürworter und Gegner; es entstanden neue, starke Interessensgruppen für eine Nein-Kampagne; und zuletzt zersetzte sich der publizistische Mainstream, der anfänglich unisono hinter dem Rahmenabkommen stand.

Anders als Ideologen machen Pragmatiker Kosten-Nutzen-Analysen. Bei den vielen Anhängern des mittleren Lagers, die sich einer nach dem anderen von den Befürwortern des Rahmenabkommens verabschiedeten, spielte die Finalität des «point of no return» mit der Zeit zumindest sotto voce eine grössere Rolle als einzelne isolierte Fragen.

Es gibt in diesem Lager viele, die das bilaterale Konzept als einen klugen Mittelweg zwischen EU-Beitritt und blossem Freihandel sehen, mit der zunehmenden Beschäftigung mit dem Rahmenabkommen aber zum Schluss kamen, dass die finale Andockung an die Institutionen der EU zu weit gehe.

Hinter dieser kleinen Finalität steht aber eine grössere, und man muss die erstere vor dem Hintergrund dieser zweiten sehen. Die EU ist heute ein blosser Staatenverbund mit eigener Rechtspersönlichkeit. Zumindest von den harten Europa-Ideologen wird aber eine immer engere Union angestrebt, an deren Ende die Vereinigten Staaten von Europa stehen. Dies wäre zwar immer noch keine einheitliche Nation, aber zumindest eine Willensnation, die durch eine Art Verfassungspatriotismus zusammengehalten würde.

Diesem Verfassungspatriotismus soll die Unionsbürgerrichtlinie den Weg bereiten, die man als Klammer zwischen der kleinen und der grossen Finalität sehen kann: die Schweiz soll aus der Sicht der EU und ihren schweizerischen Befürwortern durchaus Teil der immer engeren Union werden.

Die EU bzw. ihre Vorgängerorganisationen wurden ursprünglich als ein Projekt gegründet, um den Frieden in Europa zu sichern. In der Zwischenzeit stellt sie sich aber als eine aufklärerisch wirkende Fortschrittsmaschine dar, mit welcher man gemeinsam alle grossen Probleme der Gegenwart anpackt, vom Klimawandel über ESG bis zur Gesundheit. Hand in Hand mit diesem Fortschrittsmythos geht die Vorstellung, dass Europa mit den Weltmächten USA und China nur mithalten könne, wenn es vereint marschiere.

Für die Schweiz war das Verhältnis zur EU immer eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft und ein reines Wohlstandsprojekt. Beim Friedensprojekt sehen wir uns nicht in der Schuld, und der politischen Fortschritts- und Machtidee können wir nicht viel abgewinnen. Genau hier liegt der springende Punkt: Im grossen Lager der schweizerischen Pragmatiker setzte sich die Vorstellung durch, dass der Kleinstaat ein gutes Haus sei, um darin zu wohnen; und dass es sich nicht lohne, diesen durch den schrittweisen Beitritt zu einer europäischen Grossnation zu opfern.

Diese Haltung spielte bei der Absatzbewegung im Lager der Pragmatiker zunehmend eine Rolle. Dies aus guten Gründen. In einer kürzlichen Studie über die Frage, wo die Leute glücklich sind, finden sich unter den zehn erstplatzierten Ländern mit einer Ausnahme alles kleine Staaten. Der Durchschnittsmensch fühlt sich im kleinen Verband wohler, weil dieser mehr Wohlstand und weniger Probleme schafft. Die Entwicklungsökonomen Alberto Alesina und Enrico Spolaore haben in ihrer grossartigen Studie The Size of Nations bereits 2005 nachgewiesen, dass diese kleineren Staaten durchaus erfolgreicher sind als grössere – zumindest solange Friede und Freihandel herrscht.

Nun gibt es ein weiteres, sehr wichtiges Element auf der Tonspur, das zum Tod des Rahmenabkommens beitrug: Die Befürworter konnten nie wirklich dessen ökonomischen Vorteile nachweisen. Es gibt zwar Studien über den Wert der Bilateralen und die möglichen Auswirkungen, falls diese wegfallen. Der Nutzen des Rahmenabkommens per se wurde aber m.W. nie berechnet.

In Ermangelung dessen standen Argumente im Vordergrund, die kaum über das Ideologische und selbstevidente Tatbestände («wir haben grosse Handelsströme mit der EU») hinausgingen und im Anekdotischen stecken blieben: fehlende Zertifizierung für Medizintechnologie, Ausschluss von Forschungsprogrammen, Nichtteilnahme am Erasmusprojekt. Die Anekdote reicht aber nicht, weil man für jedes dieser Beispiele ein Gegenbeispiel findet, bei dem das Rahmenabkommen keine Vor- und höchstens Nachteile brächte: Software, Publizistik und Telekommunikation.

Und genau diese Gegenanekdoten haben im Diskurs um das Rahmenabkommen faktisch obsiegt: vergleicht man die Mitgliedschaft von Kompass/Europa und autonomiesuisse, den beiden neuen Allianzen von Gegnern, auf der einen mit derjenigen von progresuisse, die das Rahmenabkommen unterstützt, auf der anderen Seite, sieht man unschwer, dass in den beiden ersten Organisationen alles zusammen weit mehr aktive Unternehmer und Wirtschaftsführer vertreten sind als bei den Befürwortern, wo Politiker, Akademiker, Anwälte und andere Berater die Überhand haben.

Die abschliessende Antwort der politisch entscheidenden Mitte der Schweiz war, so scheint es: das heutige Konzept der bilateralen Abkommen mit der EU ist eine vernünftige Lösung, dies durchaus mit den jeweils notwendigen Weiterentwicklungen. Es behagt uns aber im Kleinstaat und wir wollen in der finalen Entwicklung nicht Teil des europäischen Grossprojekts oder gar einer europäischen Willensnation sein, komme dies nun über einen offiziellen Beitritt oder auch nur schleichend.

Wenn wir nun über eine Reanimation des Rahmenabkommens oder über Alternativen dazu debattieren, sollten wir nicht nur vordergründige Sachfragen diskutieren, sondern auch über tiefer liegende Prinzipen nachdenken. Dazu gehört die längerfristige Entwicklung der EU und unsere Rolle darin – wohin des Weges?

Zudem müssten die Anhänger des Rahmenabkommens ihren oftmals nonchalanten Argumentationsstil ändern. Sie können nicht einfach den Nutzen des Rahmenabkommens als selbstevident und dessen Gegner als nationalkonservative Abschotter darstellen. Sie müssen den Eidgenossen die Angst von der finalen Annäherung an die EU nehmen und zugleich den ökonomischen Nutzen des Rahmenabkommens stringenter darlegen. Am Ende müssen sie die Mitte der Gesellschaft und all jene Unternehmer überzeugen, die so viel vom Schaffen des Wohlstands verstehen und sich dennoch von diesem Wohlstandsprojekt verabschiedet haben.


Peter Kurer publizierte diesen Artikel in der NZZ kurz bevor der schweizerische Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein sogenanntes Rahmenabkommen (auch Institutionelles Abkommen genannt) als gescheitert erklärte. Der Artikel behandelt die Situation der Schweiz, enthält aber auch allgemein gültige Ausführungen über die Entwicklung der EU und die Rolle eines Kleinstaates darin.

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Peter Kurer

Peter Kurer wuchs in Zürich auf und besuchte das Gymnasium Stella Matutina in Feldkirch. Die Matura machte er am Kollegium Appenzell im Jahre 1969. Er studierte Rechts-, Staats- und Politikwissenschaften an den Universitäten Zürich (Dr. iur.) und Chicago (LL.M). Danach war er Anwalt und Partner bei der internationalen Anwaltssozietät Baker & McKenzie. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Er praktizierte hauptsächlich im Bereich M&A und war gleichzeitig Mitglied mehrerer Verwaltungsräte wie Holcim, Kraft Jacobs Suchard, Danzas, und Rothschild Continuation Holdings. 2001 wechselte Peter Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS. Im Jahre 2008 übernahm er während der Finanzkrise für ein Jahr das Präsidium der Bank. Von 2016 bis 2020 war er Präsident des Telekommunikationsunternehmens Sunrise. Heute ist Peter Kurer Verwaltungsratspräsident des Verlages „Kein & Aber“ sowie Mitglied des Verwaltungsrates von SoftwareOne. Daneben ist er publizistisch tätig. Sein Buch “Legal and Compliance Risk: A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business” erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.

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