Alois Schöpf
Der gerechte Lohn
Lebensmittelpreise sind über den Markt allein nicht zu regeln.
Essay
Wahrscheinlich wird die Debatte über die erpresserischen Praktiken der Supermarktketten bald wieder sanft entschlummern, denn potentielle Inserenten könnten verärgert werden, weshalb die Medien, wenn es nicht unbedingt sein muss, lieber einen Bogen um das heikle Thema schlagen.
Tatsächlich sprach Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger dieser Tage jedoch einen schon lange schwelenden Skandal an, der nicht nur die Einkommen der Bauern schmälert, sondern sie auch dazu zwingt, immer noch brutaler mit ihren natürlichen Ressourcen, und hier vor allem mit ihrem Tierbestand umzugehen, um durch die immer industriellere Durchorganisation ihrer Betriebe und trotz aller Zuschüsse aus öffentlichen Haushalten über die Runden zu kommen.
Die wenigen Handelsketten, welche die österreichische Bevölkerung heute über ihre Supermärkte versorgen, bilden nämlich im Zeitalter weltweiter Informationsflüsse längst, obgleich auf voneinander unabhängige Unternehmen verteilt, ein kompaktes Monopol, eigentlich Oligopol, demgegenüber die Produzenten jede Macht verloren haben. Zugleich profitieren die Konsumenten von niedrigen Preisen.
Der Anteil des Haushaltsbudgets, der für Lebensmittel aufgewendet werden muss, ist in den letzten Jahrzehnten auf ein Minimum von ca. 10 % geschrumpft, wohingegen etwa um 1900 noch 57 % dafür ausgegeben werden mussten. Ein zu großes Verständnis der Konsumenten den Problemen der bäuerlichen Bevölkerung gegenüber würde somit unweigerlich zu Preissteigerungen führen, weshalb man sich schon aus diesem Grund lieber in Schweigen hüllt und den Akt – auf gut altösterreichisch – lieber in Verstoß geraten lässt.
Die Kritik, welche die Landwirtschaftsministerin äußerte, geht jedoch weit über die Probleme der bäuerlichen Produzenten hinaus und bezieht sich auf eine der sozialpolitisch virulentesten Fragen der Gegenwart überhaupt: auf die Frage des gerechten bzw. fairen Lohns, ein Problem, das vor allem immer dann Thema der öffentlichen Debatte wird, wenn es um die Bonuszahlungen und Gehälter von Managern großer Industrieunternehmen oder Banken geht. Dabei ist die Problematik des gerechten Lohns etwa in Zusammenhang mit dem staatlich verordneten Mindestlohn längst in der breiten Bevölkerung angekommen. Dass darüber kaum auf breiter Basis debattiert wird, hängt leider auch mit der volkskulturellen Unsitte der Österreicher zusammen, auf die Frage nach dem Einkommen nachdenklich mit dem Kopf zu wackeln und zu behaupten, man wisse nicht genau, wie viel man wirklich verdiene. Hierzulande sind intimste Sexualpraktiken leichter in Erfahrung zu bringen als die Geheimnisse des monatlichen Einkommens.
Diese kollektive Auskunftsverweigerung hat längst dazu geführt, dass nicht nur im Bereich der Leiharbeit oder, wie aktuell angesprochen, im Bereich der Landwirtschaft, Zustände neuer Ausbeutung, die in einer reichen Gesellschaft wie der unseren als absolut inakzeptabel zu betrachten sind, zur allgemein akzeptierten Norm gehören.
Dabei könnte die Frage, was unter einem gerechten bzw. fairen Lohn zu verstehen ist, auch wenn die Ökonomen das Problem großzügigerweise den sogenannten Marktmechanismen überlassen, um nicht in Verlegenheit zu kommen, sich selbst etwas einfallen lassen zu müssen, durchaus auf Basis betriebswirtschaftlicher Daten nach dem Gedankenexperiment „vom unbeteiligten Beobachter“ des amerikanischen Philosophen John Rawls im Sinne seines „Schleiers des Nichtwissens“ (veil of ignorance) ziemlich präzis beantwortet werden.
Danach hätten etwa in der von Köstinger angesprochenen Konstellation vier Personen, von denen keiner weiß, ob er in Zukunft ein Bauer, ein Vertreter des Supermarkts, ein Konsument oder ein Politiker sein wird, darüber zu befinden, welcher Preis für den Produzenten von Lebensmitteln, für den Supermarkt, für den Konsumenten und für den für ein geordnetes gesellschaftliches Leben zuständigen Politiker als fair einzustufen ist. Zusätzlich, und genau darin besteht die Problematik einer Preisbildung in der Landwirtschaft, hätten jedoch in der Schar der durch den „Schleier des Nichtwissens“ Verbundenen auch jeweils ein Vertreter der Tiere, ein Vertreter der genutzten Landschaft und ein Vertreter zukünftiger Generationen im Sinne der drohenden Klimaerwärmung am Tisch Platz zu nehmen. Ihre Rolle bestünde getreu dem Rawls´schen Experiment nicht darin, in einem späteren Leben als Tier-, Naturschutz- oder Klimabeauftragter im Range eines hohen Beamten erneut zum Leben zu erwachen, sondern als Tier, als Schwein, Rind oder Pute, bzw. als von der industriellen Landwirtschaft malträtierte Landschaft und natürlich als ein etwa in 100 Jahren Lebender zu fungieren.
„A Theory of Justice“ (Eine Theorie der Gerechtigkeit) von John Rawls gilt als eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und sollte für jeden, den eine genaue Analyse des vor allem die amerikanische Lebenskultur prägenden Fairnessgedankens interessiert, zur Pflichtlektüre gehören. Grundlage der im Sinne von Rawls geführten ethischen Debatte auf der Suche nach einem fairen Lohn wären dabei von Betriebswirten leicht zu errechnende Mindestpreise, die sich aus einer biologischen, den Klimawandel, die Tierrechte und den Naturschutz berücksichtigenden Produktion landwirtschaftlicher Güter errechnen lassen und die den Bauern, in der Folge aber auch unter Einberechnung fairer Margen dem Handel ein gedeihliches Auskommen zu sichern hätten.
Dass dieser merklich an Planwirtschaft erinnernde und daher von vielen wahrscheinlich äußerst skeptisch betrachtete Vorschlag nicht so weit hergeholt ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, ergibt sich aus der österreichischen Nachkriegsgeschichte. Es ist noch nicht lange her, dass hierzulande von 1957-1994 eine Paritätische Kommission (PKPL) existierte, die, den Zeitläuften angepasst, wie schon angedeutet, nunmehr nicht nur aus Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch aus Vertretern des Tier-, Natur-und Klimaschutzes zu bestehen hätte.
Über die Tätigkeit der paritätischen Kommission schreibt Max Hohenecker in seinem Überblick: „Der Unterausschuß für Preisfragen (teilweise auch die Paritätische Kommission selbst) haben im untersuchten Zeitraum 1071 Anträge auf Preiserhöhungen behandelt und in der Regel (wenn auch häufig mit größerer zeitlicher Verzögerung und nicht in vollem Umfang) genehmigt. Ferner wurden in der zweiten Hälfte 1962 im Zusammenhang mit dem Stabilisierungsprogramm 64 Preissenkungen zur Kenntnis genommen. Die meisten Preiserhöhungsanträge wurden von einzelnen Firmen oder Firmengruppen gestellt. 57 Fälle bezogen sich auf Branchenregelungen. Pro Jahr wurden 150 bis 250 Anträge behandelt. Die „Antragshäufigkeit“ schwankte von Monat zu Monat und läßt keinen eindeutigen Zusammenhang mit der Konjunktur und den Entwicklungstendenzen des Preisniveaus erkennen. Nur 1957, als das Verfahren erst anlief, in der Rezession 1958 und während der Stillhaltevereinbarung in der zweiten Hälfte 1962 war die Zahl der Anträge merklich niedriger als in den übrigen Perioden.“
(https://www.wifo.ac.at/bibliothek/archiv/MOBE/1964Heft05_173_178.pdf)
Bei aller Begeisterung über die innovatorische Kraft der Marktwirtschaft: dass die Preise landwirtschaftlicher Produkte, welche mit Mitteln hergestellt werden, die, wie eine Landschaft oder das Klima, nicht den Produzenten alleine gehören, und die ebenso Leidens-und Glücksfaktoren einzuberechnen haben, sofern sogenannte Nutztiere im Spiel sind, niemals monopolistischen Vertreibern und deren trügerischer Neutralität im Hinblick auf das freie Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen werden dürfen, liegt jedenfalls auf der Hand.
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