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Paul Dietl
Sicher sein, was wirkt.
Wie unterscheiden wir in der Medizin
Glauben von Wissen?
Essay

Bevor wir uns damit auseinandersetzen, wie die Medizin zu ihren Erkenntnissen kommt, sollten wir vielleicht vorher ein paar allgemeine Aspekte zum Erkenntnisgewinn rekapitulieren.

Wie Sie ja alle aus dem Philosophieunterricht wissen, unterschied bereits Aristoteles zwischen induktiven und deduktiven Schlussfolgerungen. Als Induktion bezeichnete er den Schluss vom Einzelnen auf das Allgemeine, und als Deduktion den Schluss vom Allgemeinen auf das Einzelne. Wir kennen vermutlich alle das Beispiel aus dem Philosophieunterricht im Gymnasium:

Für Induktion:
1. Prämisse: Sokrates ist ein Mensch
2. Prämisse: Sokrates ist sterblich
Induktiver Schluss: Alle Menschen sind sterblich.

Für Deduktion:
1. Prämisse: Alle Menschen sind sterblich
2. Prämisse: Sokrates ist ein Mensch
Deduktiver Schluss: Sokrates ist sterblich

Induktive Schlussfolgerungen sind also im wesentlichen Verallgemeinerungen. Sie spielten in der Medizingeschichte schon immer eine eminente Rolle. Beispiel: Obwohl nur ganz wenige Hautkrankheiten wie z.B. Lepra ansteckend sind, hat man früher auch Leute mit Schuppenflechte wie Aussätzige behandelt. Die Verallgemeinerung war eben, dass Hautveränderungen generell ansteckend sind und den Tod bringen können. Wir machen heute übrigens das gleiche: Wir schickten zeitweise alle, die vom Ausland kommen, in Quarantäne, weil wir verallgemeinern, dass sich alle im Ausland leichter anstecken.

Diese induktiven Schlussfolgerung bezeichnete der Philosoph David Hume im 18. Jahrhundert als Eigenschaft menschlicher Natur mit praktischem Nutzen. Wenn mein Nachbar von einer Schlange gebissen wird und tot umfällt, so wird meine Überlebenswahrscheinlichkeit dadurch erhöht, dass ich alle Schlangen als giftig betrachte und deshalb vorsichtig bin.


Fehleranfällig

Ich denke, wir kennen alle das Problem der induktiven Schlussfolgerung: Sie ist extrem fehleranfällig.

Karl Popper hat im vorigen Jahrhundert mit seinem in der Zeitschrift Nature publizierten Artikel: „A proof of the impossibility of inductive probability“ mit der Induktion abgerechnet. Er hielt fest, dass man durch Induktion niemals zu sicheren Aussagen, sondern höchstens zu Hypothesen kommt, deren Wahrheitsgehalt man keine Wahrscheinlichkeit zuordnen kann. Man kann also nicht wissenschaftlich akurat feststellen, dass diese oder jene Hypothese zu 90% wahr ist, oder eben nur zu 80%.

Induktive Schlussfolgerungen sind also nur Hypothesen, die auf deduktivem Weg getestet werden müssen. Die allgemeine Aussage muss auf jeden einzelnen Fall anwendbar sein. Grundsätzlich kann man Hypothesen durch Verifikation oder Falsifikation testen.

Verifikationen wären weitere Beobachtungen, die meine Hypothese unterstützen. Nach Popper ist das aber ein unbrauchbares Mittel, denn selbst wenn 1000 weitere Beobachtungen meine Hypothese stützen, kann ich sie nicht beweisen.

Umgekehrt reicht u.U. ein einziges Experiment aus, um eine Hypothese zu falsifizieren. Die Falsifikation ist also die wesentlich aussagekräftigere Methode, mit der Hypothesen getestet werden sollten. Je mehr Falsifikationsversuche fehlschlagen, desto mehr wird die Hypothese irgendwann als Faktum akzeptiert.

Das Experiment, durch das ich die Hypothese zu falsifizieren versuche, nennt man Experimentum crucis. Dieser Begriff kommt aber nicht von Popper, sondern von Francis Bacon im Jahr 1672.


Experimentum crucis

Warum erwähne ich all das? Weil die naturwissenschaftliche Denkweise im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Medizin übernommen wurde. Am eindrücklichsten zeigt sich diese neue Sichtweise vielleicht in den Henle-Koch-Postulaten in der Bakteriologie. Hier wurde erstmals gefordert, die Hypothese von Mikroorganismen als Kranheitsauslöser durch ein crucial experiment zu testen.

„Die Organismen ….. müssen isolirt und rein gezüchtet werden. Mit den Reinculturen muss die Krankheit experimentell wieder erzeugt werden können.“ Wenn dieses crucial experiment gelingt, dann wäre die Hypothese, dass Tuberkulose nicht übertragen werden kann, zu verwerfen.

Man erkennt jetzt vielleicht, wie elementar das Tierexperiment für den Erkenntnisprozess in der Medizin war und ist. Erstens natürlich, weil so ein Experiment eigentlich niemals aus ethischen Gründen am Menschen gemacht werden dürfte.

Zweitens, weil das Experiment planbar ist, und unter definierten experimentellen Bedingungen durchgeführt werden kann. Dabei kann eine Kontrollgruppe und eine experimentelle Gruppe gegenübergestellt werden. Das Kontrollexperiment, beispielsweise eine Injektion von Kochsalzlösung, ist genauso wichtig wie das Experiment selbst. Der Zweck des Kontrollexperiments ist einerseits, die Anzahl an Variablen zu minimieren. Zum anderen ist die Kontrolle die Referenz, gegen die ich mein Experiment messe. Von der Wahl der Kontrollgruppe hängen auch meine Schlussfolgerungen ab.

Das Experiment muss natürlich reproduzierbar sein. Was wir hier für Bakterien gesagt haben, gilt grundsätzlich für jeden Stoff, jedes Medikament, und für Versuche an Zellen, Zellkulturen, Geweben, Organoiden, Organen, Versuchstieren, was auch immer. Für Medikamente ist diese Art von Experimenten Teil der sog. „präklinischen Testung“, wo natürlich auch auf Toxizität, Teratogenität, Kanzerogenität etc. geprüft wird.


Paradigmenwechsel

Ich möchte aber auch noch kurz auf Thomas Kuhn eingehen, Physiker und Wissenschaftstheoretiker des vorigen Jahrhunderts: Kuhn beschreibt die Wissenschaft als eine Folge von Phasen der Normalwissenschaft, unterbrochen von wissenschaftlichen Revolutionen. Ein zentrales Konzept ist hierbei das Paradigma; ein Paradigmenwechsel sei eine wissenschaftliche Revolution.

Ich glaube, wir sehen das auch in der Medizin. Wissenschaftler sind, wie wir alle, fest gefangen in gewissen Denkstrukturen – Paradigmen eben – und methodischen Limitationen, aus denen sie nicht herauskommen. Ganz wenigen gelingt das dann eben doch, und wir bekommen einen Paradigmenwechsel.

Ein Beispiel in der Medizin wäre die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey im Jahr 1628. Er löste so die antike Humorallehre ab, in der Blut als Produkt der Leber aus der Nahrung angesehen wurde.

Ein weniger spektakuläres Beispiel aus der jüngeren Geschichte wäre die Entdeckung, dass Magen- oder Zwölffingerdarmgschwüre durch Bakterien auslösbar sind. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war es unvorstellbar, dass Bakterien den extrem sauren pH Wert < 2 überleben könnten.

Grundsätzlich haben Molekulare Genetik und Biotechnologie in den letzten drei Dekaden die naturwissenschaftliche Erkenntnis in der Biologie bzw. Medizin richtig vorangetrieben. Prinzipiell gilt: Je besser die Pathophysiologie einer Krankheit, also der Mechanismus vom Molekül bis zum Organismus verstanden wird, desto gezielter kann man auch nach einem Medikament bzw. einer Therapie suchen.

Beispiel: Cystische Fibrose oder Mukoviszidose. Diese Patienten haben einen Sekretionsdefekt in allen möglichen Organen. In den Lungen wird dadurch der Schleim zu dickflüssig und kann nicht abgehustet werden. Es entwickeln sich Infektionen, an denen die Patienten früher nach etwa 30 Jahren verstarben. Dieser vererblichen Erkrankung liegt eine Punktmutation in einem einzigen Protein zugrunde. Man kennt das Gen, man kennt das Protein, man hat Zellkultur, Gewebekultur und Tiermodell zur Verfügung. Man konnte gezielt Medikamente entwickeln, die die Funktion des Proteins verändern, und diese präklinisch und dann auch klinisch testen. So gibt es jetzt ein neues Medikament, bei dem für bestimmte Punktmutationen die Funktion des Proteins fast vollständig hergestellt werden kann. Die gesamte kausale Kette vom Gen bis zur Funktion, und dann auch noch die Möglichkeit der gezielten Intervention ist natürlich ein Paradebeispiel für den Erfolg der Wissenschaften in der Medizin – und das lässt sich die Pharmafirma auch ordentlich bezahlen: ca. 300.000 Euro pro Patient in einem Jahr.


Veitstanz

Leider ist das nicht die Regel. Nehmen wir eine andere genetische Erkrankung, wo man sowohl das defekte Gen als auch das dadurch kodierte Protein genau kennt. Der Veitstanz oder Chorea Huntington. Diese Patienten sterben ca. 10 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome. Es gibt nicht nur keine Therapie, sondern wir wissen auch nicht, warum es hier zum Untergang von bestimmten Nervenzellen im sog. Striatum des Gehirns kommt. Der Grund liegt in der Komplexität.

Degeneration ist ein multifaktorielles Geschehen, und es ist unklar, welche Rolle dabei das Huntington-Protein spielt. Obwohl es ein Tiermodell gibt, gibt es keine geeignete Zell- und Gewebekultur. Das Gehirn kann man ex vivo nicht nachbauen.
Was dabei völlig verblüfft, ist die Tatsache, dass nur die Zellen des Striatums degenerieren, und keine anderen Gehirnareale, obwohl alle Nervenzellen das defekte Protein exprimieren.

Der Grund für diese sog. differentielle Vulnerabilität der Neurone ist auch für alle anderen neurodegenerativen Erkrankungen relativ unklar, und wir sprechen hier von Mb. Alzheimer, Mb. Parkinson, amyotrophe Lateralsklerose u.a.. Die Neurowissenschaftler treten hier seit 30 Jahren fast auf der Stelle, und ein Paradigmenwechsel wäre dringend fällig.

Mit anderen Worten: Während sich unser Wissen in den letzten Jahrzehnten dramatisch vervielfältigt hat, treten wir mit unserem Verständnis in anderen Bereichen auf der Stelle. Je komplexer eine Situation ist, und je limitierter die methodischen Möglichkeiten sind, desto schwieriger können wir eine Hypothese durch ein einziges oder wenige Experimente testen.


Wissenschaftliche Evidenz

Beispiel: Nehmen wir die Hypothese, dass Rauchen Krebs erzeugt. Es gibt kein valides universelles Krebsmodell. Wir müssen hier eine Plethora von gesammelten Daten analysieren und zu einem Ergebnis zu kommen versuchen. Das Ganze nennt man dann Wissenschaftliche Evidenz.

Wikipedia definiert die Wissenschaftliche Evidenz als zumeist empirische Befunde, die als Beleg für einen fraglichen Sachverhalt, eine Aussage oder eine Theorie dienen – oder die jeweils dagegen sprechen.

Die Wissenschaftliche Evidenz beruht also nicht auf Verifikation oder Falsifikation im engeren Sinn, sondern auf pros und contras: Daten, die dafür sprechen, und Daten, die dagegen sprechen. Im Gegensatz zum Experimentum crucis ist die Wissenschaftliche Evidenz etwas, das der Gewichtung und Interpretation unterliegt. Sie ist eine Grauskala zwischen schwarz und weiss. Der Begriff Evidenz ist hier übrigens aus dem Englischen „evidence“ übernommen. Das bedeutet eigentlich „Beweis“, und hat nichts mit dem gemein, was wir im Deutschen als „evident“ bezeichnen.

Ein Knackpunkt bei solch komplexen Fragestellungen, ob etwa Rauchen Krebs erzeugt, ist die Diskriminierung zwischen Coinzidenz und Causalität. Dazu etablierte 1965 Sir Bradford Hill die nach ihm benannten Bradford Hill Kriterien, maximal 10. Diese bestehen aus Stärke der Assoziation, Reproduzierbarkeit, Spezifität, Temporalität, Dosis-Wirkung-Relation, Plausibilität, Koherenz mit Labordaten, (Tier-)Experiment, Analogie und Reversibilität. So wurde mühsam eine Causalität zwischen Rauchen und Krebs erarbeitet – gegen die mächtige Lobby der Tabakindustrie, die alles unternahm, um diese Causalität abzustreiten.
Der häufigste Fehler, den aus meiner Sicht wissenschaftliche Laien begehen, ist die Vermischung von Coinzidenz und Causalität.

Natürlich setzt umgekehrt die Pharmaindustrie alles daran, um ihre Produkte als causal wirksam durchzusetzen. Um das Problem der Gewichtung und Interpretation bei der Beurteilung von medizinischen Behandlungen in der Klinik, die viel komplexer sind als kontrollierte Experimente im Labor, etwas mehr zu objektivieren, wurde in den 90-er Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgehend von der kanadischen McMaster Universität der Begriff Evidence-based medicine – also evidenzbasierte Medizin – eingeführt.


Evidenzbasierte Medizin

Im Grunde genommen wird hier in die klinische Testung neben Literaturrecherche und Wissenschaftlicher Evidenz die Idee des kontrollierten Experiments als Goldstandard medizinischer Erkenntnis aufgenommen. Also das klassische naturwissenschaftliche Experiment mit einer experimentellen Gruppe, die gegen eine Kontrollgruppe getestet wird, wie vorher besprochen.

Die sogenannte Verumgruppe erhält die Behandlung, die getestet werden soll, und die Kontrollgruppe erhält beispielsweise eine alternative Behandlung oder Placebo. Wichtig ist dabei die Randomisierung, d.h. die teilnehmenden Patienten werden per Zufallsgenerator diesen Gruppen zugeordnet. Dadurch sollen bekannte und unbekannte personengebundene Störgrößen gleichmäßig auf Experimental- und Kontrollgruppen verteilt werden. Es soll das Ganze auch noch Doppelblind stattfinden, also weder Arzt noch Patient wissen, ob gerade Placebo oder Wirksubstanz verabreicht wird. Diese randomisierten, kontrollierten Studien sind quasi der Goldstandard der evidenzbasierten Medizin. Sog. Metaanalysen können  die Ergebnisse mehrerer Studien integrativ evaluieren. Aus allem leitet sich der Evidenzgrad ab – von high certainty über moderate certainty und low certainty bis very-low certainty. Oder eben gar keine Evidenz.

Natürlich soll das alles patientenorientiert sein. Sprich: Die Maßnahme soll etwas bewirken, das dem Patienten konkret entgegenkommt. Damit soll verhindert werden, dass nur Laborkosmetik betrieben wird. Deshalb sollte die Messgröße, die evaluiert wird, nicht durch einen Surrogatparameter ersetzt werden. Wenn ich wissen will, ob eine Maßnahme das Leben verlängert, dann soll ich das auch direkt messen – und nicht die Letalität durch etwas überprüfen, was selbst nur in variablem Zusammenhang zur Letalität steht, wie etwa die Inzidenz.


Plausibilität

Die meisten von Ihnen werden sich jetzt fragen: Wie ist es möglich, dass es ca. 100 Jahre gedauert hat, bis naturwissenschaftliche Prinzipien in der klinischen Testung klar definiert und festgeschrieben wurden? Es wirft natürlich auch die Frage auf, nach welchen Kriterien man vorher behandelt hat. Ich selbst habe in meinem Studium kein einziges Mal das Wort evidence-based medicine gehört.

Überlieferung und Tradition spielen immer eine große Rolle. Ich glaube so funktioniert ja auch die traditionelle Chinesische Medizin. Beobachtungen und empirische Daten werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Gerade in hierarchischen Strukturen wie in der Medizin ist dies wichtig zu bedenken. Ich erinnere mich selbst gut an meine Zeit als Assistenzarzt, in der die Antwort auf die Frage, warum wir das so oder so machen, oft war: „Weil ma des immer scho so gmacht hobn“. Dieser ironisch als „eminence-based medicine“ bezeichnete Ansatz ist sogar legitim für Behandlungen, für die „evidence-based“ Studien fehlen.

Auf der anderen Seite steckt in vielen Behandlungen – früher wie heute – das Plausibilitätsprinzip. Das Plausible ist der kleine Bruder des Logischen – nennen wir es das Pseudologische.

Überlegen wir uns, was einen Menschen dazu bringt, bei seinem Mitmenschen einen Aderlass zu machen. Der Aderlass wurde über Jahrtausende praktiziert, um gemäß der antiken Säftelehre schädliche Körpersäfte aus dem Körper zu entfernen. Aus der Sicht der damaligen Mediziner war dieses Vorgehen ohne naturwissenschaftliche Grundkenntnisse durchaus plausibel.

Oder denken wir an die Quecksilberbehandlung bei Syphilis. Das Schwermetall wurde über den Penis in die Blase gespritzt, wo es eine heftige Entzündung auslöste und den Ausfluss erhöhte. Das erschien plausibel, um das Böse aus der Blase zu bringen. Natürlich beförderte man mit diesen Behandlungen die Leute scharenweise ins Jenseits.

Das Plausibilitätsprinzip erstreckt sich natürlich auch tief in die Zeit der naturwissenschaftlichen Medizin hinein. Als ich noch junger Assistenzarzt für Innere Medizin war, verpasste man jedem Patienten mit Verdacht auf Herzinfarkt zusätzlichen Sauerstoff zum Atmen. Das ist plausibel, denn Angina pectoris ist das Resultat von Sauerstoffmangel im Herzmuskel. Bis 2017 im New England Journal of Medicine eine Analyse erschien, dass Sauerstoffgabe völlig wirkungslos ist, solange die Lunge gesund ist.

Oder denken wir an den Einsatz von Östrogenen bei Frauen. Natürlich ist es plausibel, dass die Substitution eines Hormons, das jungen Frauen ihr Aussehen, Fertilität und Vitalität verleiht, dies auch im Alter tun kann. Bis man realisierte, dass ein zu viel an Östrogenen Krebs erzeugen kann.

Man könnte jetzt noch viele ähnliche Beispiele zitieren, bei denen auf der Basis eindeutiger Plausibilität unnütze oder schädliche Therapien entstanden. Plausibles ist eben das Resultat von Reduktionismus, und Reduktionismus kann zu falschen Schlüssen führen.


Kritikpunkte

Natürlich gibt es auch an der evidence-based medicine berechtigte Kritik. Einer der Kritikpunkte ist, dass man viel Geld in kontrollierte klinische Studien stecken kann, die a priori zum Scheitern verurteilt sind. Im Journal Trends in Molecular Medicine wurde dazu ein Artikel mit dem Titel „Clinical trials of integrative medicine: testing whether magic works?“ publiziert. Hier wird aufgeführt, dass keine einzige klinische Studie einen klaren Hinweis auf die Wirkung der Homeopathie zeigen konnte. Aber dennoch wird weitergetestet, bis vielleicht doch was rauskommt.

Daher wird von manchen gefordert, die evidence-based medicine durch science-based medicine zu ersetzen. Als glaubwürdig sollte dabei eine Maßnahme nur dann gelten, wenn neben der Evidenz auch eine Plausibilität vorliegt. Eine Plausibilität gibt es aber nur dann, wenn naturwissenschaftliche Grundgesetze vorliegen.

Homeopathie und andere alternative Therapien verletzen hingegen Grundgesetze der Physik und Chemie. Wasser hat beispielsweise kein Gedächtnis, wenn es einmal mit einem Stoff in Verbindung gekommen ist. Man könnte diese Liste beliebig fortsetzen. Es ist paradox: Obwohl ich selbst nicht an diese Therapien glaube, bin ich sicher, dass sie für viele Menschen aufgrund des Placebo Effekts enorm wertvoll sind.

Eine negative klinische Studie schließt natürlich nicht aus, dass ein Präparat doch wirksam sein kann. Zum einen kann das Präparat in einem anderen Kontext wirken. Zum anderen können durch solche Studien nur Mittelwerte erfasst werden, aber jeder Mensch ist eben ein bisschen anders als das Mittel. Deshalb ist die individualisierte Medizin meiner Meinung nach nie reine Wissenschaft, sondern immer auch eine Kunst in der Hand des behandelnden Arztes.

Während der Corona Pandemie war die Situation noch schwieriger, da neben Plausibilität und Evidenz auch noch Politik hinzukam.


Politik und Corona

Beispiel: Ivermectin. Ivermectin ist seit 1982 ein weltweit sehr erfolgreiches Präparat im Einsatz gegen Parasiten wie Würmer und ähnliche. Im Jahr 2020 wurde eine aufsehenerregende Studie publiziert, wonach Ivermectin in vitro die Replikation von SARS Covid-19 inhibiert. Zig Studien folgten. Da Ivermectin gut vertragen wird und billig ist, wird es häufig von Impfgegnern verwendet. Damit wurde Ivermectin zur politisierten Droge.

Wer auch nur im Ansatz Sympathie mit Ivermectin ausdrückt, begibt sich in Gefahr, als Covid Leugner oder Verschwörungstheoretiker diskreditiert oder überhaupt mit Rechtsradikalen, Trump-Sympathisanten oder Wissenschaftsfeinden in eine Schublade gesteckt zu werden. Ivermectin darf also nicht wirken! Und so verkündete auch die Südwestpresse medienkonform, dass Ivermectin wirkungslos sei.

Für mich ist die Geschichte von Ivermectin deshalb so faszinierend, weil wir schon vor 10 Jahren über eine starke Aktivierung genau jener Zellen, die die Lungenbläschen schützen, durch Ivermectin berichteten. Dieser Artikel wurde damals von keinem geringeren als dem Nobelpreisträger Erwin Neher in den Proceedings of the National Academy of Sciences (USA) kommuniziert. Wir klärten damals erstmals die Existenz und Funktion eines bestimmten Rezeptors (P2X4) in der Lunge auf – für Ivermectin interessierte sich damals natürlich niemand.

Es gibt also sehr wohl eine Plausibilität, dass Ivermectin schützen kann.
Eine Gruppe von Autoren publizierte kürzlich im Am J. Therapeutics eine Metaanalye mit dem Ergebnis einer „moderate certainty evidence“, dass Ivermectin das Risiko zu sterben reduziert. Auch wenn diese Arbeit nicht unumstritten ist, so ist es aus wissenschaftlicher Sicht völlig ungerechtfertigt zu folgern, dass Ivermectin wirkungslos sei. Und das mit den Kriterien der science based medicine – also Plausibilität plus Evidenz.

Etwas ähnliches gilt übrigens für Ambroxol, das ich selbst aufgrund von Plausibilität zu Beginn der Covid Krise ins Spiel gebracht hatte. Ambroxol wirkt auch im Lungenbläschen, aber anders als Ivermectin. Hier gilt: Glauben, nicht Wissen, denn Evidenz für Letalitätsreduktion gibt es noch keine.


Politische Maßnahmen

Und wie sieht es aus mit den gesellschaftlich verordneten Corona Maßnahmen?
Ich denke es müsste aus dem bisher Gesagten klar sein, dass es für eine Pandemie mit neuen Viren so gut wie keine Evidenz-basierten Maßnahmen geben kann. Viren sind ganz unterschiedlich, und was für Masern gilt, muss nicht für SARS gelten.

Nun ist man also auf Plausibilitäts-basierte Maßnahmen angewiesen. Masken, Ausgangssperren, Lockdowns, Testpflichten, Quarantäne, was auch immer: Die Verifikation kurzfristiger Effekte durch Modelle und Algorithmen ist bald zur Hand. Allerdings warnten zahlreiche Wissenschaftler – meine Wenigkeit inklusive – schon früh öffentlich, dass die Langzeitwirkungen dieser Maßnahmen durch die komplexe Interaktion zwischen Virus und Wirt – wenn man Altersverteilungen, Immunologie, Mutagenität der Viren, soziales Verhalten u.a. einbezieht – extrem unvorhersehbar sind. Von Kollateralschäden will ich hier gar nicht sprechen.

Man sieht das im Vergleich von Österreich oder Deutschland zu Schweden. Die Schweden waren ja quasi unsere negative Kontrollgruppe, weil sie so gut wie keine Maßnahmen verpflichtend implementiert hatten. Tatsächlich hatte Schweden nach der ersten Welle 4 bis 5 mal mehr Tote zu beklagen als Deutschland oder Österreich. Jetzt, nach 2 Jahren, weist Schweden eine ca. 3% GERINGERE (!) kumulative Gesamtletalität auf als Österreich, Tendenz sinkend. Und das bei ähnlicher Impfrate.

Noch desillusionierender fällt der Vergleich mit Deutschland aus. Seit Beginn 2021 weist Schweden im Vergleich zu Deutschland ebenso eine geringere (!) Letalität auf, und das bei 2 bis 3 mal höherer (!) Inzidenz. Alle diese Daten sind natürlich normalisiert auf die Einwohnerzahl (Quelle: Johns Hopkins Univ). Daraus lässt sich wohl langfristig allenfalls eine Causalität zwischen Maßnahmen und Inzidenz ableiten, nicht jedoch zwischen Maßnahmen und Letalität. Das Schwedische Gesundheitssystem brach übrigens nie zusammen.


Impfungen

Was die Impfungen betrifft, so hat die Diskussion über Impfpflicht endgültig die Grenzen wissenschaftlicher Seriosität weit hinter sich gelassen. Wie immer man politisch zu diesem Thema stehen mag, so fehlt angesichts ständig neuer Mutationen, einer eindeutig erwiesenen Infektion und Weitergabe der Viren durch Geimpfte und die enorm altersabhängige Verteilung von Wirkung, Prävention und Nebenwirkung jegliche seriöse Einschätzung, was eine Impfpflicht bei noch immer unklarer Immunisierung der Bevölkerung („stille Feiung“) tatsächlich bewirken würde.

Algorithmen sind nur hypothetische (!) Hochrechnungen, die mit wissenschaftlicher Evidenz nichts zu tun haben. Oder geht es nur um die Demonstration eines „starken Staates“, die Erfüllung einer lange gehegten, linken Sehnsucht?

So absurd es erscheinen mag: Es fehlt klare Evidenz im Sinne der evidence-based medicine darüber, ob das Massen-Impfen von Nicht-Risiko-Gruppen bei einem derart stark mutierenden RNA-Virus überhaupt der richtige Weg ist, um die Covid-19 Pandemie zu bekämpfen. Der Hauptgrund ist die potentiell erleichterte Genese von sog. „escape mutants“, also von Mutanten, die den produzierten Antikörpern entkommen. Omicron ist nur ein Beispiel. Nobelpreisträger Luc Montagnier, Entdecker des HIV Virus, spricht beispielsweise über unsere Impfstrategie als „erreur scientifique et faute médicale inexplicable“.


Basar der Hypothesen

Nach meinem Empfinden ist in der Covid Krise der wissenschaftliche Erkenntnisprozess zu einer Art Basar der Hypothesen verkommen, in dem die lautesten Marktschreier ihre Hypothesen am erfolgreichsten verkauft haben.

Wichtige Säulen der Wissenschaft – Unabhängigkeit, Toleranz gegenüber den Hypothesen anderer und bohrender Skeptizismus – sind unter die Räder gekommen. Darüber sollten wir uns auch durch scheinbare Erfolge in der RNA Impftechnologie, mit der die Welt an einem riesigen Feldexperiment teilnahm, nicht täuschen lassen.

Was Wissenschaftler dazu bewegt, Hypothesen als Evidenz zu verkaufen, darüber möchte ich jetzt nicht laut nachdenken. Bis zur Corona Krise war jedenfalls das Wort „Querdenker“ die höchste Auszeichnung für einen Wissenschaftler und Bestandteil des Leitbilds der Uni Ulm.

In der Covid Krise wurde meines Wissens erstmals in der Geschichte der Demokratie z.T. fadenscheinige „wissenschaftliche Evidenz“ zum Anlass genommen, um Bürgerrechte über die Schmerzgrenze hinaus einzuschränken. Welche Konsequenzen dieses Exempel, das gerade statuiert wurde, für die Entwicklung unserer Gesellschaft haben wird, wird sich weisen.


In Zukunft

Was können wir in Zukunft aus wissenschaftlicher Sicht besser machen?

Aus meiner Sicht müsste erst einmal ein klares Ziel definiert werden. Für ein Virus wie Covid-19, welches keine dramatischen Dauerschäden verursacht, wäre es die LANGFRISTIGE (!) Reduktion der Letalität. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte m.E. ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Leopoldina oder einer anderen non-profit Gelehrtengesellschaft ein BREIT interdisziplinäres Team von Naturwissenschaftlern aufgestellt werden – nicht zu virologenlastig.

Die Mitglieder dieses Teams müßten Interessenskonflikte und v.a. Eigeninteressen klar offenlegen – bei Strafandrohung im Falle des Verschweigens. Dazu zählen Patentrechte (wie z.B. auf diagnostische Tests …), Firmenbeteiligungen inkl. share holder Anteile von Pharmafirmen, Herkunft von Forschungsförderungen etc. etc..

Starke Interessenskonflikte wären ein absolutes Ausschlusskriterium.
Dieses Team müßte für jede Maßnahme (z.B. Maskenpflicht im Freien etc.) einen PLAUSIBILITÄTSSCORE (1-10) erarbeiten (durch Diskussion und Abstimmung unter Berechnung des arithmet. Mittels). Plausibilität in Hinblick darauf, ob das o.g. Ziel damit erreicht wird.

Unabhängig davon würde ich vorschlagen, dass ein Gremium von Interessensvertretern eingesetzt wird (aus Gastronomie, Pflegeberufen, Psychologen, Handel, etc.), die für jede dieser Maßnahmen einen Score für Kollateralschäden etabliert. Dieser Score sollte dann den SCHWELLENWERT definieren, bei dem der Plausibilitätsscore zu einer Gesetzgebung führt.

Beispiel 1: Der Plausibilitätsscore hätte 7 von 10 Punkten. Der Score für Kollateralschäden wäre niedrig, z.B. 2. Dann könnte der Gesetzgeber diese Maßnahme für eine bestimmte Zeit beschließen.

Beispiel 2: Der Plausibilitätsscore hätte 7 von 10 Punkten. Der Score für Kollateralschäden wäre hoch, z.B. 9. Dann würde man den Plausibilitätsscore auf 8 oder 9 hochsetzen, und das Gesetz wäre nicht beschließbar. Entsprechende Algorithmen darüber wären natürlich auszuarbeiten.

Dienstleister, die durch ihre unmittelbare Arbeit intrinsisch in einem Interessenskonflikt stehen, aber keine Wissenschaftler per se sind, wie etwa Intensivmediziner, sollten dem Gremium beratend beistehen.

Natürlich müsste im Laufe der Pandemie jede Plausibilitäts-basierte Maßnahme kontinuiertlich durch kontrollierte Studien – siehe oben – auf wissenschaftliche Evidenz überprüft werden.

Dafür würde ich aber keinen Score vorschlagen, denn Evidenz ist nicht so subjektiv und „dehnbar“ wie Plausibilität. Für Evidenz (j/n) müßte das Gremium m.E. mindestens eine 2/3 Mehrheit aufbringen.

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Paul Dietl

Dr. Paul Dietl, geb. 25.3.1960 in Innsbruck. Studium der Humanmedizin 1978 –1983 in Innsbruck. Postpromotionelle Ausbildung bei Herbert Braunsteiner (Innere Medizin) und Peter Deetjen (Physiologie) in Innsbruck, sowie in Würzburg und den USA (Dartmouth College). Seit 2004 Vorstand des Instituts für Allgemeine Physiologie der Universität Ulm. Von 2015–2019 Vorsitzender der Senatskommission „Verantwortung in der Wissenschaft“ der Uni Ulm. Paul Dietl’s Forschungsschwerpunkt ist die zelluläre und molekulare Physiologie und Pathophysiologie des Lungenbläschens.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Werner Lauterer

    Ich bin zwar ein medizinischer Laie, aber dieser Beitrag hat mich wirklich begeistert.

  2. Karlheinz Töchterle

    Hervorragender Essay, der eine breite Rezeption, vor allem auch bei Entscheidungsträgern verdiente. Das verhindert vielleicht der zwar interessante und auch treffende wissenschaftstheoretische Teil, der gleichwohl eine rasche Aufnahme in einer interessierten Öffentlichkeit erschwert.

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