Norbert Hölzl
Das Heilige Land Tirol war einst das unheiligste der Christenheit.
1. Teil:
Landesfürsten, die nie Fürsten waren, aber immer am Weg zur Hölle.
Meinhard II., den Gründer Tirols, nannten die Historiker gerne den „Schmied des Landes.“ Das ist nicht falsch, aber als Titel für einen grandiosen Politiker klingt es ähnlich abwertend wie „Schwarze Mander“ für das größte Kunstwerk des Landes.
Meinhard wurde im Jahr 1237 geboren. Mit 22 Jahren heiratet er die Witwe des letzten Stauferkönigs Konrad IV. Die hochgestellte Dame war zehn Jahre älter als er, schenkte ihm aber dennoch fünf Kinder. Eines dieser Kinder, Elisabeth, heiratete Albrecht, den Sohn von Meinhards Freund König Rudolf. Man nennt diese Frau auch die Stammmutter der Habsburger. Halten wir also fest: Meinhard ist der einzige Fürst des Reichs, der durch Heirat mit den beiden großen Kaisergeschlechtern der Epoche verwandt ist: mit den alten Hohenstaufer-Kaisern und mit den neuen Habsburgern.
Er steigt zum Reichshauptmann auf. Um zu erklären, wie es dazu kam, muss zurückgeblendet werden, auch zu weniger schönen Ereignissen im Leben Meinhards, der dem Gebiet vom Gardasee bis zum Achensee seinen Familien- bzw. Burgnamen gab und ein Land schuf, das in dieser Form bis 1918 bestand: ein Land mit drei Landessprachen: Deutsch, Italienisch und Ladinisch.
Seine politische Karriere begann Meinhard als Gefangener. Vater Meinhard I. war bei Schlachtereien mit dem Fürstbischof von Salzburg unterlegen. Seine beiden Söhne nahm der Salzburger, um sich Ruhe zu garantieren, in Geiselhaft. Meinhard verbrachte sechs Jahre seines Lebens also in Gefangenschaft. Seinem Bruder Albert wurden zusätzlich weitere vier Jahre aufgebrummt.
An dieser Stelle schadet ein Vergleich mit der Gegenwart nicht. Stellen wir uns einen dynamischen Machtpolitiker vor, etwa einen jungen Luis Durnwalder der damaligen Zeit. Und stellen wir uns vor, dass es einem brutalen und cleveren Bankdirektor gelänge, diesen Durnwalder sechs Jahre lang unschuldig einzusperren und aus dem Verkehr zu ziehen. Was würde wohl passieren, wenn der Betreffende mit seiner sechsjährigen Wut im Bauch plötzlich wieder die Freiheit wiedergewänne? Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der korrupte Bankdirektor Bank und Posten verloren hätte. Genauso kam es mit Meinhard: Der erste Fürstbischof, damals unumschränkter Landes- und Kirchenfürst zugleich, der ihm in die Quere kam, war sein Fürstentum los.
Das Land mit dem vagen Namen „im Gebirge“ bestand vor Meinhard aus den beiden geistlichen Fürstentümern Trient und Brixen. Wäre die Entwicklung weiterhin für die Fürstbischöfe erfolgreich verlaufen, wie im benachbarten Salzburg bis 1803 – es gäbe den Namen Tirol nicht. Die Tiroler müssten Brixner und Trienter heißen, je nach ihren geistlichen Landesfürsten, so wie die Salzburger bis heute Salzburger heißen. Meinhard war ja nur ein Lehensmann der Bischöfe, bestenfalls die Nummer zwei in einem Land, das noch nicht Tirol hieß. Doch es sollte anders kommen. Rechtzeitig rückte nämlich ein Eroberer aus der Lombardei gegen Trient vor. Der Fürstbischof floh und wer stand tapfer da? Graf Meinhard mit seinen gefürchteten gepanzerten Mannen – aber für immer, er hatte nicht die Absicht, wieder zu gehen.
Wer jedoch wird so naiv sein und glauben, die Kirche ließe sich einen solch neuen Oberbefehlshaber gefallen? Der Papst bringt seine Wunderwaffe in Stellung. Da Kanonen noch nicht erfunden waren, schleuderte er dem Tiroler den Kirchenbann entgegen. Im Klartext: „Gib mir auf Erden mein Fürstentum zurück oder ich schicke dich bei Ableben ohne Zwischenstopp im Fegefeuer direkt in die Hölle!“ Natürlich wollte Meinhard beides nicht – weder in der Hölle braten, noch etwas zurückgeben. Also ersann er einen juristischen Trick. Er verkündete: „Ich bin der Reichshauptmann und damit die Nummer zwei hinter dem Kaiser. Ich kann nicht Diener zweier Herren sein. Also sind die Herren Fürstbischöfe, so betrachtet, bestenfalls die Nummer drei in Tirol.“ Auf diese Art erzwang Meinhard II. mehr als ein halbes Jahrtausend vor der Auflösung der geistlichen Fürstentümer 1802/1803 eine erste Trennung von Kirche und Staat.
Meinhard war, so wie alle seine Nachfolger, Tiroler Landesfürst, wobei bis 1918 dieser Titel nie offiziell geführt wurde. Denn, streng protokollarisch, waren Tirols Fürsten bis ins 20. Jahrhundert lediglich Kirchenmänner von Brixen und Trient. Noch Kaiser Franz Joseph und Karl, der Letzte und Selige, durften sich nur Graf nennen, nicht Fürst von Tirol.
Und dann folgte noch ein juristischer Trick. Nach der siegreichen Schlacht gegen König Ottokar klopfte König Rudolf seinem Tiroler General Meinhard auf die Schulter und sagte etwa Folgendes. Ganz wörtlich kann es leider nicht wiedergegeben werden, denn Rudolf beherrschte im Gegensatz zu späteren Kaisern noch nicht das wienerische Idiom. Inhaltlich muss das kaiserliche Angebot aber ungefähr so gelautet haben: „Hearst, lieber Tiroler Freund, jetzt sitzt in der Patschen. Wegen dieser blöden weltlichen Entmachtung der beiden geistlichen Fürsten bist im Kirchenbann. Und einen Kirchengebannten darf ich nicht mit dem Herzogtum Kärnten belehnen. Helfen kann ich dir im Augenblick auch nicht, denn mein Draht zum obersten Signore in Rom ist ziemlich schlecht. Du weißt, ich war 1273 bei der Wahl zum deutschen König nicht sein Kandidat. Das Aufsetzen der Kaiserkrone verweigert mir seine Heiligkeit seit damals hartnäckig, wie er es auch meinem Nachkommen Maximilian verweigern wird, obwohl wir alle fürchterlich gern und auch ganz offiziell gesalbte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wären. Aber wart nur: Den Kerl tricksen wir schon aus, ohne gegen ein Gesetz zu verstoßen. Zum Schein belehne ich meine Söhne mit Kärnten. Damit haben wir nichts vertan. Irgendwann braucht der Papst auch etwas von mir, und wenn dann der Bann aufgehoben ist, wirst du feierlich belehnt.“ Und genau so ist es gekommen: Streng nach Gesetz und dennoch trickreich im Sinne von Gauner gegen Gauner wurde Meinhard II. irgendwann auch Pfalzgraf von Kärnten.
Nun zur schon erwähnten Angst des Papstes vor der gepanzerten Truppe aus Tirol. Durch seine Heirat mit der Kaiserwitwe war Meinhard der Stiefvater des letzten Staufererben. Klein-Konrad – Corradino nannten ihn die Italiener – zog als 15-Jähriger 1267 nach Italien, um dort sein süditalienisches Erbe anzutreten. Konradin zählte auf die Gepanzerten aus Tirol, die waren geübt durch Ihre Auseinandersetzungen mit den Fürstbischöfen von Trient. Die Stadtmauern von Bozen zum Beispiel hatten sie für immer zertrümmert. Kaum hörte der Papst, in welch entsetzlicher Begleitung Klein-Konrad in Rom und Süditalien aufzutauchen gedachte, brachte er wie gewohnt sein schwerstes Geschütz in Stellung und richtete Meinhard erneut aus: „Sobald du das Gebirge bei der Berner Klause“, das ist Verona, „verlässt und italischen Boden betrittst, bist du wieder im Kirchenbann.“ Die Aussicht, womöglich in einer Schlacht zu fallen und schnurstracks in der Hölle zu landen, ließ die Tiroler Gepanzerten schleunigst umkehren. Der Papst und sein von ihm nach Italien beorderter französischer Verbündeter durften sich im Jahre 1268 daher mächtig über ein herrliches Spektakel in Neapel freuen, bei dem dem letzten Hohenstaufer, einem Knaben, der Kopf abgeschlagen wurde.
Damals wurde auch Dante Alighieri geboren. Den kaisertreuen Dante widerte die Hinrichtung derart an, dass er Papst Clemens IV. in die literarische Hölle verbannte. Und was kommt im Inferno Dantes noch Unglaubliches vor? Der Name Tirol zum Beispiel – zum ersten Mal in einem Werk der Weltliteratur! Im 20. Gesang, Vers 61 und 62, schreibt der Dichter von „Tiralli“, gleich oberhalb des Sees von Benaco, der alte Name für den Gardasee ganz im Süden des Reiches. Dies beweist, wie rasch sich der damals neue Name „Tirol“ in Europa verbreitete.
Nur den Bischöfen hat die Sache mit dem Land Tirol und die Trennung von weltlicher und kirchlicher Gewalt noch jahrhundertelang nicht geschmeckt. Als der gemütliche Landesfürst Ferdinand II., der Gemahl von Philippine Welser, den beiden Bischöfen mitteilte, jetzt, ziemlich genau 300 Jahre nach der Gründung Tirols, sei es wohl an der Zeit, von einem einzigen Land zu sprechen, zierten sich die beiden fürstlichen Kirchenmänner und hielten dagegen: „Wir sind eben konföderiert, aber den Fürstentitel behalten wir weiter, auch wenn du der Landesfürst bist.“
Jahrhundertelang hatte somit das Fürstentum Tirol drei Fürsten: Den weltlichen, den wirklichen Landesfürsten, zuerst in Meran und dann in Innsbruck ansässig, und dann, dem Rechtstitel gemäß, die wirklichen Fürsten, die Fürstbischöfe von Brixen und Trient, wobei der Trienter den Fürstentitel erst in einer eigenen, weinerlichen Zeremonie in den 1960-er Jahren ablegen musste. Aber er durfte sich trösten: Zur Zeit des Mussolini-Faschismus war aus dem schlichten Fürstbischof der Fürsterzbischof von Trient geworden. Tausend Jahre lang waren die Bischöfe von Trient und Brixen gleichberechtigt. Erst seit 1929 ist Trient das übergeordnete Erzbistum. Der italienische Nationalist Dr. Celestino Endrici musste belohnt werden. Er war ja zweimal so freundlich gewesen, das Siegesdenkmal mit der römischen Göttin in Bozen einzuweihen – zuerst 1926 und dann noch einmal 1928.
Das ist aber noch nicht der ganze Treppenwitz der Geschichte. Der sollte erst 2011 erfolgen. Ich erwähnte schon, alle Landesfürsten von Meinhard II. bis zu Karl dem Allerletzten 1918 waren nicht Fürsten, sondern rechtlich lediglich Grafen von Tirol. Sogar der König von Spanien hat heute unter seinen zahllosen Titeln auch jenen eines Grafen von Tirol. Durchaus zurecht, denn ob die Bourbonen mehr habsburgisches Blut haben oder die Habsburger mehr bourbonisches, lässt sich beim besten Willen und auch mit neusten Genanalysen nicht feststellen. Und bis heute ist der höchste Orden der österreichischen Monarchie auch der höchste Orden Spaniens – das Goldene Vlies. Es ist ein Erbe Burgunds, das Maximilian I. erheiratet hatte. Und da wäre noch etwas zu ergänzen: Dass es eigentlich kein spanisches Hofzeremoniell gibt. Das war viel mehr eine pompöse burgundische Erfindung, übernommen von Spanien und Österreich, als sich die Herrscher immer mehr vom Volk isolierten. Richard Wagner hat das Gottesgnaden-Getue in den Meistersingern von Nürnberg treffend charakterisiert: „Kein Fürst bald mehr sein Volk versteht.“
Einen letzten deutlichen Hauch von übertriebenem Zeremoniell erlebte Wien am 16. Juli 2011. Da wurde dem „Herren“ Otto von Habsburg, er lebte 1912 bis 2011, von der Republik ein Staatsbegräbnis wie zu Kaisers Zeiten spendiert. In der sogenannten Klopfzeremonie vor dem Tor der Kapuzinergruft wurden für den Einlass begehrenden Verstorbenen all die stolzen Titel ausgerufen, vom Kaiser und König bis zum Grafen, und am Schluss rief der Volldröhnende 2011 „Fürst von Tirol“. So wurde einzig und allein Otto, der nie regiert hatte, in der langen Habsburger Reihe unserer Landesfürsten irrtümlich vom Grafen zum Fürsten befördert. Das war weiter nicht schlimm, denn in Bozen-Brixen sowie in Trient saßen keine Fürsten mehr, die beleidigt hätten protestieren können.
Fortsetzung am 11.02.2021
Das unheilige Land Tirol