Nicole Staudenherz
Tödliche Tradition Fiaker
Essay

Wer sich mit dem Thema Fiaker beschäftigt, merkt schnell, dass da eine ganze Branche ideologische Scheuklappen trägt. Mit Totschlag-Argumenten wie Traditionspflege und Tourismusförderung wird nicht nur systematische Tierquälerei in Kauf genommen, sondern auch Lebensgefahr für Menschen.

Wien, Michaelerplatz, ein heißer Julitag im Jahr 2021. Ein Fiakerpferd kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, rutscht mehrmals aus, versucht verzweifelt, sich wieder aufzurichten. Schließlich kollabiert das Tier am Pflaster. Vermutet wird, dass das Tier aufgrund akuter Überlastung einen Kreuzschlag erlitten hat.

Eine Aktivistin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT) meint dazu: „Ich konnte kaum glauben, was ich sehe. Schon wieder stirbt ein Fiakerpferd in Wien! Wer sich auch nur ein bisschen mit Pferden auskennt, muss doch sehen, wie diese armen Tiere in der Stadt leiden. Kein bisschen Gras oder Wiese, den ganzen Tag eingespannt und dazu verdammt, Touristen durch die Gegend zu ziehen. All das auf Asphalt und Beton, in brütender Hitze. Niemand kann mehr behaupten, dass das für Pferde schön oder gesund sein kann. Momentan schieben die Politiker die Verantwortung für Verbesserungen hin und her. Wie viele Fiakerpferde müssen noch elend zugrunde gehen, bis die Politik endlich handelt?“

Der Handlungsbedarf ist tatsächlich enorm. Auch wenn die Betreiberfirmen das Gegenteil behaupten und die Politik sich nicht bemüßigt fühlt zu handeln: Fest steht, dass Pferde hochsensible Lebewesen sind, die für die vermeintlich ehrwürdige Tradition des Fiakerwesens immenses Leid durchmachen.

Denn Pferde sind Fluchttiere. Das heißt, dass sie z.B. bei lauten Geräuschen leicht in Panik geraten und instinktiv zum Davonlaufen neigen. Dies ist im Stadtverkehr ein Ding der Unmöglichkeit, was zu permanentem Stress und Reizüberflutung führt.

Um den Fluchtreflex der Pferde zu minimieren, verpasst man den Tieren kurzerhand Augenklappen und Ohrstöpsel. Während ihres Einsatzes sind die Pferde zudem in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, weil sie jederzeit abfahrbereit sein müssen. Sie sind ständig angeschirrt und können niemals einen freien Schritt tun. Die langen Stehzeiten führen zu Problemen im Bewegungsapparat.

Doch das Gehen auf Straße und Pflaster ist auch nicht viel besser, denn es verursacht Gelenksbeschwerden. Dazu kommen häufig Fellabschürfungen, wenn das Geschirr nicht passt oder das Pferd unsachgemäß oder zu lange angeschirrt war.

Ein gravierender Missstand ist die Hitze: Im Sommer stehen die Tiere auf ihren Standplätzen meist in der prallen Sonne. Oft wird das damit schöngeredet, dass Pferde Steppentiere wären, die die Sonne lieben und ihre Körpertemperatur gut regulieren können. Das mag zwar stimmen, doch die Großstadt ist nicht ihr natürlicher Lebensraum.

In der Steppe würden sie kühlere Plätze aufsuchen, in der Stadt haben sie keine Wahl. Auch die zusätzliche Hitzebelastung der Stadt ist nicht zu unterschätzen. Durch den Asphalt und die Häuser wird enorme Hitze abgestrahlt. So wurden an einem Fiaker-Standplatz in Wien unlängst Lufttemperaturen von über 38 Grad und Bodentemperaturen von über 48 Grad gemessen! Außerdem können die Pferde nicht immer trinken, wenn sie durstig sind, sondern nur dann, wenn der Kutscher Wasser bereitstellt, was alles andere als artgerecht ist. Pferde überhitzen viel schneller als Menschen, und auch der Elektrolytverlust durch starkes Schwitzen kann schnell lebensgefährlich werden.

Von einem Ausleben der artgemäßen Bedürfnisse kann ohnehin keine Rede sein: Die Tiere sind gezwungen, Tag für Tag neben Artgenossen zu stehen, die sie sich nicht aussuchen können. Somit wird keinerlei Rücksicht auf das komplexe Sozialverhalten der Tiere genommen. In einer natürlichen Umgebung würden Pferde zum Beispiel von rivalisierenden Tieren einfach weggehen bzw. könnten sich bei Streitigkeiten wehren. Angeschirrt an der Kutsche ist dies nicht möglich. Deshalb verpasst man den Tieren manchmal sogar einen Maulkorb. Auch in ihrer spärlichen „Freizeit“ erhalten die Kutschpferde oft keinen freien Auslauf, der diesen Namen verdienen würde.

Ein weiteres gewichtiges Argument für eine überfällige Reform des Fiakerbetriebs ist die hohe Unfallgefahr. Der Verein gegen Tierfabriken (VGT) hat zahlreiche Unfälle im Zusammenhang mit Kutschenfahrten dokumentiert. Die Folgen sind oft schwere bis tödliche Verletzungen für Mensch und Tier.

Ein kleiner Auszug aus der traurigen Chronik der letzten beiden Jahre illustriert das Ausmaß des Problems:

September 2020, Zwettl: Wegen eines technischen Gebrechens geraten zwei Kutschpferde in Panik. Das Gefährt stürzt um. Ein Mann erleidet dabei schwere Verletzungen, andere Personen werden leicht verletzt. Auch ein Pferd wird verletzt und muss tierärztlich untersucht werden.

Jänner 2021, Feldkirch: Eine Kutsche gerät auf einer abschüssigen Straße ins Wanken und kippt um. Die Kutscherin wird aus der Kutsche geschleudert und dabei verletzt. Sie wird ins örtliche Krankenhaus gebracht.

April 2021, Maria Saal: Zwei Kutschenpferde scheuen und gehen durch. Dabei werden eine Mutter und ihr neunjähriges Kind verletzt. Die Mutter wird mit der Rettung ins nächstgelegene Spital gebracht.

Mai 2021, Wien: Ein Pferd bricht mitten im innerstädtischen Verkehrsgeschehen auf der Wiener Ringstraße tot zusammen. Mögliche Diagnose: Aortenriss.

Diese tragische Bilanz sollte Beweis genug dafür sein, dass die Fiakerpferde dem Stress der Kutschenfahrten nicht gewachsen sind. Kleinste nicht vorhersehbare Zwischenfälle können die Tiere in Angst und Panik versetzen, sodass es für den Kutscher oft nicht mehr möglich ist, die Pferde unter Kontrolle zu halten.

All die Tierqual und all die Unfälle wären vermeidbar. Wie lange wollen wir Leid und Gefahr noch akzeptieren, wenn es doch Alternativen gibt?

Erfolgsbeispiele aus aller Welt zeigen, dass Nostalgie-Sightseeing auch ohne Tierqual und Risiko geht. Der Kutscher wird zum Fahrer, somit bleiben auch die Arbeitsplätze erhalten.

In Leipzig gibt es zum Beispiel Fahrten mit der E-Kutsche „ohne Äppel und Emissionen“. Auch in Köln oder München lässt sich ein individuelles Stadterlebnis mit dem innovativen pferdefreien Kutsche ECARRUS buchen. Faltdach, Sitzheizung und eisgekühlte Getränke inklusive.

Weitere Möglichkeiten, Städte tierfreundlich zu erkunden, sind Replika-Oldtimer mit E-Antrieb oder elektronische Fahrradrikschas . Praktisch alle beliebten Städtereise-Destinationen bieten Stadtrundfahrten per Bus oder Tramway an. Wien ist das beste Beispiel dafür: Der beliebte Big Bus Vienna und oder die Sonderfahrten mit historischen Straßenbahnwagen („Rent a Bim“) zeigen, dass sich Wien auch ohne Tierqual wunderbar erkunden lässt. Wer gut zu Fuß ist, kann Themenspaziergänge unternehmen oder spannende Stadtrallyes buchen.

Tourismus-Hotspots, Metropolen und Megacities wie Chicago, Mumbai oder Barcelona gehen noch weiter: Dort wurden Pferdekutschen bereits vor Jahren verboten oder zumindest weitgehend aus der Stadt verbannt. „Barcelona is a friend to animals“, twitterte der Vizebürgermeister der Mittelmeerstadt im Jahr 2018.

Wann befreien sich Österreichs Städte endlich vom Anachronismus der Pferdekutschen? Es ist allerhöchste Zeit dafür.

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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

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