Nicole Staudenherz
Sportgerät Lebewesen?
Warum Pferde in Freiheit die glücklicheren Athleten sind.
Essay
Es gibt Sport und es gibt Blood Sports. Stierkampf, Hunderennen, Treibjagd: Von derlei als „Sport“ getarnten Inszenierungen menschlicher Brutalität soll der folgende Text bewusst nicht handeln. Denn solche Gewaltspektakel machen sich die unscharf definierten Ränder des Sportbegriffs zunutze und richten es sich dort bequem ein, wo planvolles Blutvergießen mit schönen, großen Worten wie „Sport“ , „Kultur“ oder „Tradition“ verbrämt wird, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen.
Wovon hier die Rede sein soll, sind Bewegungsformen mit Tieren inmitten der „ganz normalen“ Welt des Profisports. Wie sich unter anderem am Beispiel des Fünfkampf-Springreitens und der Galopprennen herausstellen wird, gibt es aus tierethischer Sicht auch dort eine ganze Menge Fragezeichen.
Tokio, August 2021
“Dabei sein ist alles“, heißt es oft im Gespräch über Olympia. Der dunkelbraune, zierlich gebaute Wallach Saint Boy sieht das anders. Er will nicht springen müssen, mit einer Fremden auf seinem Rücken. Die Spielregeln im „Modernen Fünfkampf“ sehen nämlich vor, dass Pferd und Reiter erst kurz vor dem Wettkampf per Los zusammengebracht werden.
In anderen Disziplinen haben Tier und Mensch mitunter jahrelang Zeit, um sich aufeinander einzustellen, beim Springreiten im Rahmen des „Modernen Fünfkampfs“ bekommen sie ganze 20 Minuten. Schon beim Ritt einer anderen Athletin hat sich Saint Boy verweigert, dennoch befindet ihn der zuständige Tierarzt an jenem unheilvollen Tag als wettkampftauglich.
So nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Die deutsche Fünfkämpferin Annika Schleu verliert die Nerven, als das Pferd erneut streikt. Zum Greifen nah ist die Goldmedaille für Schleu, doch jetzt zieht Saint Boy nicht mit. Die Reiterin drischt – unter Tränen – mit der Gerte auf das Tier ein und rammt ihm die Sporen in den Bauch, doch vergeblich. „Hau drauf, hau richtig drauf!“, ruft Bundestrainerin Kim Raisner aus dem Off und versetzt dem völlig verängstigten Tier einen Faustschlag.
Diese Bilder gehen um den Globus und führen zu einem Aufschrei, sowohl in der Reitszene als auch unter Tierschützern. Raisner wird von den Spielen ausgeschlossen und Schleu erntet einen Shitstorm. Ihre Karriere ist in der Schwebe. Der Deutsche Tierschutzbund erstattet Anzeige. Welches Schicksal Saint Boy erwartet, ist ebenso ungewiss. Eine Hollywood-Schauspielerin bietet an, Saint Boy freizukaufen.
Allgegenwärtige Fehler
An dieser Stelle sollen nicht die Verfehlungen bestimmter Sportprofis im Fokus stehen, sondern die allgegenwärtigen Fehler in einem System, das sportliche Höchstleistungen über das Tierwohl stellt. Diese Fehler hat Saint Boy uns mit seiner konsequenten Weigerung vorgeführt, vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Von manchen wird er deshalb als der „Held der Olympischen Spiele von Tokio“ bezeichnet – zu Recht: Er zeigt schonungslos auf, dass ein Pferd in diesem System zu keinem Zeitpunkt die freie Wahl hat. Wann wurde ein Pferd jemals danach gefragt, ob es dem Menschen und seinen Interessen dienen möchte oder vielleicht doch lieber ein freies Leben auf grünen Wiesen hätte?
Denn Pferde sind alles andere als Sportgeräte. An wildlebenden Pferden lässt sich beobachten, dass sie ein hochkomplexes Sozialleben haben, eines der differenziertesten Systeme im gesamten Tierreich. Die Kommunikation und Rangordnung in der Herde ist vielschichtig und nuanciert.
Schnell laufen oder hoch springen würden Pferde normalerweise nur bei unmittelbar drohender Gefahr. Am liebsten bewegen sie sich in gemäßigtem Schritt den ganzen Tag lang immer wieder ein Stückchen fort und grasen. Zwischendurch sind die Tiere im Schutz der Herde gerne auch einmal etwas dynamischer unterwegs, aber das tun sie spielerisch und nach ihrem eigenen Belieben. Auch in ihrer domestizierten Form haben Pferde immer noch vergleichbare Bedürfnisse.
Deshalb kommt bereits die sehr gängige Haltung in Einzelboxen einer Tierquälerei gleich, denn dort sind die sensiblen Herdentiere nicht nur von ihren Artgenossen isoliert, sondern haben auch kaum Bewegungsfreiheit. Dazu kommen noch Lungenprobleme wegen der Staubbelastung im Stall sowie Zahnleiden und Magenbeschwerden, weil die Fütterung oft nicht artgemäß ist: Kraftfutter statt Gras.
In der Theorie
Wem das noch nicht ausreicht für einen kritischen Blick auf den Einsatz von Pferden im Profisport, der möge sich die Realität der so genannten „Ausbildung“ vor Augen führen. Zwar sind die Bedürfnisse der Pferde in einschlägigen Richtlinien grundsätzlich ein Thema und das Training könnte auch ohne Gewalt funktionieren – in der Theorie.
Die Praxis ist aber weniger kuschelig. Da fängt es schon einmal damit an, dass die Tiere oft viel zu früh ins Training gehen – noch bevor sie ausgewachsen sind, quasi im Kindesalter. Zudem berichten Brancheninsider und Tierschutzorganisationen immer wieder von höchst fragwürdigen Praktiken: Die reichen von zahlenmäßig limitierten, aber völlig legalen Peitschenschlägen bis hin zu regelwidrigen Handlungen, wie etwa das illegale „Blistern“. Hierbei tragen überehrgeizige Personen eine hautreizende Substanz an den Vorderbeinen des Tiers auf. So ist beim Springreiten jede Berührung mit der Stange eines Hindernisses sehr schmerzhaft, wodurch das Pferd gezwungen wird, höher zu springen.
Die Anwendung der ebenso verbotenen „Rollkur“ (auch „Hyperflexion“ genannt) ist nach wie vor traurige Realität. Nicht nur in der verborgenen Welt der Ställe und Trainingsstätten, sondern auch vor Publikum. Bei dieser Zwangshaltung zieht der Reiter den Kopf des Pferdes so weit nach unten, dass das Maul fast die Brust berührt, eine Behandlung, die nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schmerz verursacht.
Angst und Panik
Stichwort seelischer Schmerz: Unser zweites Beispiel für die Tragik des Tiersports, die millionenschwere Industrie der Pferderennen, treibt die Quälerei noch einmal weiter auf die Spitze. Verletzung und Tod sind für Rennpferde oft nur einen Hufschlag entfernt, zusätzlich leiden die Tiere auf der Rennbahn meist an extremer Angst und Panik.
Denn Pferde haben ein ausgeprägtes Fluchtverhalten und Stresssituationen führen bei den feinfühligen Tieren zur raschen Ausschüttung großer Mengen an Angsthormonen. Schon vor dem Rennen sind die Tiere oft schweißgebadet.
Der ehemalige Rennbahn-Tierarzt Dr. Maximilian Pick, der nach langjähriger Branchenerfahrung zu einem couragierten Rennsport-Kritiker geworden ist, betont in einem Interview:
„In dem Augenblick, wo die Startbox aufgeht, ist die Angst auch da. Sonst würden sie nicht so schnell laufen. […] Je schneller ein Galopp ist, umso größer ist die Angst. Pferde laufen auf der Koppel auch mal im Galopp. Aber das ist ein spielerischer Galopp. Das ist ein Lustgalopp. Und der Rennbahngalopp ist ein Angstgalopp. Deshalb spricht man auch vom ‚Angstherz des Vollblüters‘, das ist ein stehender Begriff.“
Und an anderer Stelle fasst der Pferdekenner zusammen: „… die schwere Angst ist beinahe das Schlimmste, was man einem Pferd antun kann.“
Tatsächlich wird vermutet, dass die weit verbreiteten Magengeschwüre bei Rennpferden nicht nur mit der fehlerhaften Fütterung zusammenhängen, sondern auch mit der permanenten Stressbelastung.
Nur die „härtesten“ und schnellsten Rennpferde „dürfen“ irgendwann auf eine Rolle als Zuchtpferd umsteigen. Das verletzte Pferd oder jenes, das nicht spurt, wird vielleicht – wenn es physisch und psychisch nicht zu sehr geschädigt ist – zum Freizeitpferd „umgeschult“ oder wechselt als so genanntes „Second-Hand-Pferd“ mitunter mehrmals den Besitzer. Bisweilen wird das Tier auch nochmals für eine niedrigere Rennklasse trainiert oder einfach „ausgemustert“ (zum Beispiel beim Schlachter). Als wäre es ein Gebrauchtwagen und kein fühlendes Lebewesen. Mit sehr viel Glück gibt es vielleicht einen Platz auf einem Lebenshof. Doch das ist die große Ausnahme.
Geballte Tierqual
Angesichts dieser geballten Tierqual drängt sich die Frage geradezu auf, wie all das Leid mit geltenden Tierschutzgesetzen vereinbar ist. Springreiter, Jockeys, Trainer und Profiteure werden jedenfalls nicht müde zu betonen, wie heil die Welt im Pferdesport (aus ihrer Sicht) ist. Die Liebe zum Tier sei die Motivation, sportliche Spitzenleistungen seien nur in Harmonie mit dem Tier möglich und den Pferden mache es schließlich auch Spaß, sich mit ihren Artgenossen zu messen. Und im Übrigen gäbe es im Hochleistungssport nun mal auch Verletzungen.
Es mag sein, dass es eine Reihe von Athleten gibt, die ihr Pferd gut behandeln, mit dem tierlichen Sportgefährten zu einem Team verschmelzen und mit vereinten Kräften performen. Dass es den Tieren Spaß macht, ist unter Umständen vorstellbar, scheint insgesamt aber eher im Reich der systemerhaltenden Mythen angesiedelt. Wenn beispielsweise das Rennen dem Pferd so viel Spaß machen würde, bräuchte man dann die allgegenwärtigen „Hilfsmittel“ wie Hauben, Ohrstöpsel und Scheuklappen, um das Tier in die Startbox zu bringen?
Und was die Verletzungen anbelangt: Das Leben als Jockey ist ganz bestimmt nicht rosig und kann mitunter im Rollstuhl oder gar mit einem tödlichen Sturz enden. Doch Menschen haben zu jedem Zeitpunkt die Freiheit, je nach Risikofreude gefährliche oder weniger gefährliche Sportarten auszuwählen. Rennpferde hingegen werden in dieses System geradezu hineingezüchtet und haben nicht die Möglichkeit, sich aus freien Stücken für anderes Leben zu entscheiden. So leicht lässt sich also die Evidenz für die systemimmanente Grausamkeit im Pferdesport nicht mit Haudrauf-Argumenten vom Tisch wischen.
Was ist Sport?
Zoomen wir kurz hinaus. Was ist Sport eigentlich genau? Zwar gibt es keine einheitlich-verbindliche Definition, doch aus Sicht der Sportwissenschaft lassen sich zumindest einige Kernelemente und Grundannahmen isolieren:
Erstens sind menschliche Athleten am Geschehen aktiv beteiligt und der Selbstzweck der Betätigung steht im Vordergrund. Zweitens sind die Regeln willkürlich erschaffen, wobei sich die Akteure über Lösungswege und Rahmenbedingungen verständigen müssen. Drittens entspricht Sport in seiner Wiederholbarkeit dem Spiel. Treffen zwei Gegner aufeinander, muss eine unversehrte Wiederholung der Situation für die Beteiligten möglich sein.
Schon anhand dieser Kernpunkte offenbaren sich einige Reibungsflächen: Im Profisport geht es neben dem Selbstzweck zumeist um handfeste monetäre und genuin menschliche Zwecke, also um Sponsorengelder, Prämien, Wetteinnahmen, um Medaillen, Punkte, Karrieren. Für Pferde hat all das ziemlich sicher keinerlei Wert und Bedeutung.
Wie es Albert Voorn, Springreiter und Olympia-Medaillenträger, in einem Interview treffend formuliert: „Eigentlich geht es bei allem, was wir mit den Pferden machen, um unseren eigenen Erfolg.“
Auch dem vermeintlich starren, quasi in Stein gemeißelten Regelwerk werden die Rechte und Interessen der Tiere oft untergeordnet. Dabei ließen sich menschgemachte Regeln durchaus zumindest ein Stück weit zum Wohle der tierlichen Athleten abändern. Noch ein wenig utopischer gedacht, könnten menschliche Akteure zum Beispiel auch beschließen, das Springreiten als Subdisziplin des „Modernen Fünfkampfs“ durch eine Sportart ohne tierliche Beteiligung zu ersetzen. Dann wäre das Attribut „modern“ vielleicht auch wieder angemessen.
Ein gewichtiges Argument für eine Reform ganzer Disziplinen ist auch das Kriterium der unversehrten Wiederholbarkeit. Solange in Kauf genommen wird, dass Pferde wieder und wieder auf der Rennbahn stürzen und sterben, bleibt dieser Anspruch unerfüllt.
So betrachtet wäre es ein erster wichtiger Schritt, den Tiersport zumindest dergestalt zu verändern, dass die tierlichen Akteure und ihre artgemäßen Interessen und Bedürfnisse ernsthafte Berücksichtigung finden, sowohl im Rampenlicht als auch im Trainingsalltag. Für einen solchen Perspektivenwechsel ist die schlüssig argumentierte und fachlich fundierte Tiersport-Definition des Sportwissenschaftlers Florian Hartnack sehr hilfreich:
„Tierbezogener Sport bedeutet, ausgehend von einem eng oder weit gefassten Sportbegriff, dass von Menschen willkürlich geschaffene Aufgaben über Bewegung von Menschen mithilfe von Tieren gelöst werden. Die zu lösenden Aufgaben sind in ihrem Reglement von Menschen vorgegeben, wobei die Tiere notwendige Mittel zu deren Lösung darstellen. Voraussetzung für Tiere in sportlichen Aktivitäten sind artgerecht zu lösende Aufgaben, eine artgerechte Haltung und die möglichst vollständige Vermeidung von Schmerz, Leiden und Tod der Tiere.“
Nimmt man diese Definition ernst und setzt sie konsequent in der Praxis um, dann wäre freilich ein beträchtlicher Teil des Pferdesports Geschichte.
Lena Remich, Pferde-Expertin beim Verein gegen Tierfabriken (VGT), äußert dazu klare Worte:
„Wir vom Verein gegen Tierfabriken sind der Meinung, dass der Pferdesport nicht mehr zeitgemäß ist. Bei Olympia wird das Pferd wie ein Fahrrad beim Triathlon verwendet, das ist sehr fragwürdig. Man braucht nur Bilder oder Videos anschauen, wie Pferde dort geritten werden. Alle haben ein Metallgebiss im Mund, als Hilfsmittel werden Sporen und Gerten verwendet, im Kutschensport sogar Peitschen. Da kann man nicht mehr sagen, dass sie da freiwillig mitmachen.“
Stell dir vor, es gibt Reitsport und keiner geht hin (weder Mensch noch Pferd): In dieser utopischen Version würden die Menschen nicht mehr auf der Rennbahn ihre Wetten abschließen oder sich mit Springreiten im TV unterhalten lassen, sondern stattdessen bei einem Spaziergang aus respektvoller Distanz eine Herde Wildpferde betrachten. Oder befreite Rennpferde auf einem Lebenshof. Wo fröhliche Fohlen in der schützenden Gemeinschaft der Herde nach ihren selbst gesetzten Regeln herumlaufen, wie es ihren eigenen Wünschen entspricht.
Diese Tiere wären die glücklicheren Athleten. So viel ist gewiss.
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