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Nicole Staudenherz
Die Kunst der Verdrängung
Von Gier, Genuss und Generationengerechtigkeit
2. Philosophisch/ethische Argumente
Essay

Bereits erschienen:
Die Kunst der Verdrängung
Von Gier, Genuss und Generationengerechtigkeit
1. Zur Praxis                                                                                                        https://schoepfblog.at/nicole-staudenherz-die-kunst-der-verdrangung/


Triggerwarnung: Das Grauen jenseits der Speisekarte

Was ist das Gegenteil von Genuss? Nicht Fadesse oder Selbstkasteiung, sondern Ekel. Genau das – und dazu noch Trauer, Empörung und Entsetzen empfinden jene Menschen, die sich aus ethischen Gründen von Tierprodukten abwenden.

Sie wurden nämlich nicht etwa von einem Veggie-Guru gehirngewaschen oder zur Enthaltsamkeit gezwungen, sondern haben sich auf Basis frei verfügbarer, seriös-fundierter Informationen bewusst dafür entschieden, ein Ernährungssystem zu boykottieren, das auf Gewalt, Naturzerstörung und Ressourcenverschwendung beruht.

Nichts ist genussfeindlicher als die ungeschönte Realität: Würde in der charmanten Konditorei ein Großbildschirm die Tötung frisch geschlüpfter Hahnenküken in Dauerschleife zeigen, dann würden wohl auch überzeugte Biskuit-Junkies die Kuchengabel fallen lassen.

Würde im stylischen Steakhouse ein Video laufen, das kopfüber aufgehängte Rinder zeigt, denen das Blut aus der Kehle läuft und die sich im schmerzvollen Todeskampf hin- und herwinden, weil die Betäubung wieder einmal nicht gewirkt hat, würde wohl so mancher Feinschmecker die Order stornieren. Medium Raw wäre dann nämlich auf einmal ein Synonym für die Salonfähigkeit von Brutalität.

Müssten wir vor dem Besuch im urigen Dorfgasthaus auch nur eine Sekunde lang den grässlichen Ammoniakgestank der Vollspalten-Tierfabriken einatmen, den „unser Schnitzel“ sein ganzes leidvolles Leben in den entzündeten Lungen hatte, oder würde man uns gar zeigen, wie sich ein Schwein während der CO2-Betäubung im Schlachthof verzweifelt gegen die Gitterstäbe wirft, um dem Ersticken zu entrinnen, dann würden wir wohl ganz freiwillig ins vegane Burgerlokal flüchten.

„Wenn Schlachthäuser Glaswände hätten, wären alle Vegetarier“, stellte der großartige Paul McCartney fest.

Wer Tierprodukte mit Genuss verspeisen will, muss also vor allem eines gut können: verdrängen. Dafür tragen wir freilich nicht die Alleinverantwortung, denn nicht alle von uns haben sich aktiv über das Thema informiert; Agromarketing, Handel und Gastronomie setzen zudem alles daran, die grausame Wirklichkeit hinter blickdichten Werbeplakaten, Gütesiegeln und Betonmauern verschwinden zu lassen.

Auch das Aufwachsen in der pathologischen „Normalität“ des Tierkonsums hat die allermeisten von uns so sehr geprägt, dass es uns leichtfällt, das Blutbad mitten in der Gesellschaft nicht zu sehen oder gar mit diversen kontrafaktischen oder unlogischen Argumenten wegzureden.

Kleine Randnotiz: Auch wenn bessere Haltungsbedingungen für Landwirtschaftstiere grundsätzlich sehr zu begrüßen sind, lässt sich Tierleid auch in bester Bio-Haltung nur reduzieren, aber nicht zur Gänze verhindern. Zudem sind solche Betriebe in der Minderheit und können nur dann konventionelle Haltungsformen ablösen, wenn die Bevölkerung den Konsum von Tierprodukten radikal reduziert.

Für artgemäße Haltung müsste auch die Gesamtzahl der gehaltenen Tiere im Agrarsystem drastisch zurückgehen, damit es sich flächenmäßig ausgeht.


Genuss, überraschend anders

Genuss kann sich auch in überraschend neuer Form einstellen: Nichts ist schöner als das Gefühl, selbstbestimmt im Einklang mit Werten wie Gerechtigkeit, Güte und Gewaltlosigkeit zu leben.

Die Freude darüber, dass für das Frühlingsrisotto mit Bio-Öster-Reis, veganem Weißwein, Tiroler Spargel und Fairtrade-Nussmus kein fühlendes Lebewesen vorsätzlich ausgebeutet, gequält und getötet wurde, bringt ein emotionales und intellektuelles Behagen, das länger anhält als die fünf Minuten, in denen man Spaß mit Bratenstück und Realitätsverweigerung gehabt hätte.

Grundsätzlich kann der Wunsch nach sensorischem Vergnügen kein valides ethisches Argument sein. Der Lackmustest: In Bezug auf unsere Mitmenschen würden wir es niemals akzeptieren, wenn Gewalt gegen Unschuldige unter Berufung auf flüchtige Sinnesfreuden wegdiskutiert würde.

Würden wir die brutale Versklavung von Kindern für die Kakao-Ernte mit unserem dringenden Bedürfnis nach dem Geschmack von Schokolade rechtfertigen? Oder die allgegenwärtige Ausbeutung der Arbeiter auf Palmöl-Plantagen mit dem Recht unseres Gaumens auf billige Kekse?

Wer jetzt meint, bei nichtmenschlichen Tieren sei das alles ganz anders und sie würden nicht so leiden wie wir Menschen, der sei an die „Cambridge Declaration on Consciousness“ erinnert.

In dieser Konsenserklärung stellte ein internationales Konsortium aus hochkarätigen Fachleuten verschiedener Disziplinen schon vor zehn Jahren fest, dass Säugetiere, Vögel und viele andere Tierarten über die Fähigkeit zum bewussten Erleben verfügen. Das heißt, sie empfinden ethisch relevante Gefühle wie Schmerz und Angst mit derselben Intensität und Unmittelbarkeit wie wir Menschen.

Andererseits rühmt sich der Homo Sapiens gerne für seine ausgeprägte Rationalität. Warum kommt uns diese Fähigkeit dann immer genau in dem Moment abhanden, wenn es um eines unserer traurigen Alleinstellungsmerkmale auf dem Planeten geht,: nämlich die industrielle Tierausbeutung?

Sachlich durchdacht ist es eigentlich ganz simpel. Wenn wir es ablehnen, empfindungsfähigen und völlig unschuldigen Wesen absichtlich Leid anzutun, kommen wir nicht umhin, unsere Essgewohnheiten zu hinterfragen.

Daraus resultierend gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können unser Verhalten ändern oder wir können uns das Genauso-Weitermachen schönreden.


Moralische Akrobatik

Interessant ist, dass es psychologisch betrachtet schwer zu ertragen ist, wenn unser Handeln im Widerspruch zu unseren Werthaltungen steht. Dieses Phänomen wird als kognitive Dissonanz bezeichnet. Hierbei handelt es sich um das Unbehagen, das wir verdrängen müssen, wenn wir ohne akute Überlebensnotwendigkeit Tierteile verzehren, obwohl wir auch Spargelrisotto essen könnten.

Dieses Unbehagen infiltriert unseren Verstand. Um es schnellstmöglich vom Tisch zu wischen, neigen wir unter anderem dazu, Veganerwitze zu machen, moralisch entgrenzte Entscheidungsfreiheit zu postulieren – oder eben den Genuss absolut zu setzen.

Weit verbreitet ist auch die Tendenz, wahlweise entweder klugen und feinfühligen Tieren Intelligenz und Empfindungsfähigkeit abzusprechen oder erwiesenermaßen nicht empfindungsfähigen Pflanzen und Früchten ein Gefühlsleben anzudichten.

Je mehr Tierprodukte verzehrt werden, desto stärker werden speziesistisch verzerrte Denkmuster. Diese werden in der Jugend erlernt, wie eine aktuelle Studie aus Großbritannien zeigt.

Dabei handelt es sich um scheinbar plausible Zusatzannahmen, die unser widersprüchlicher Geist im Nachhinein einfügt, um durch die Leugnung von mitverantwortetem Leid das ramponierte Selbstbild wieder in Balance zu bringen. Dies ist die Fuzzy Logic des Tierkonsums und anderer problembehafteter Verhaltensmuster. Solche Wege der postfaktischen Argumentfindung sind dem ethisch-moralischen Fortschritt der Menschheit leider alles andere als zweckdienlich.


Eine Frage des Überlebens

Wer trotz allem den Menschen ethisch höher stellt als die Tiere, der möge sich gemeinsam mit der nächsten Fleischmahlzeit folgendes auf der Zunge zergehen lassen: Neben anderen zerstörerischen Industrien ist es ganz besonders auch die landwirtschaftliche Tierhaltung, die das Überleben der Menschheit massiv gefährdet.

Noch immer wird die Destruktivität des agro-industriellen Komplexes maßlos unterschätzt. Tatsächlich verursacht die Tierhaltung global gesehen 14 bis 18 Prozent aller klimaschädlichen Emissionen und heizt das Klima somit genauso stark an wie der gesamte weltweite Transportsektor; die Tierlandwirtschaft ist ein wesentlicher Faktor für Entwaldung, Artensterben, Wasserverschmutzung, Ozeanzerstörung, Flächenverschwendung und die Entstehung antibiotikaresistenter Mikroben.

Blenden wir all das weiterhin aus, dann könnte die fleisch- und milchlastige westliche Mischkost zum letzten Abendmahl der Menschheit werden, das sich unsere Spezies vor dem eigenen Aussterben selbst serviert.

Der Homo Sapiens: das Raubtier, das sich selbst erlegt; der selbst ernannte Herrscher des Planeten, der sein eigenes Imperium vernichtet.

Wie es Gandhi treffend ausdrückte: „Die Welt hat genug für unserer aller Bedürfnisse, aber nicht für unserer aller Gier.“ Wer seinen Kindern und Enkeln mehr hinterlassen möchte als einen ruinierten Planeten und ein Stammbuch voller gefährlicher Rationalisierungen, der möge jetzt und hier und heute anfangen, ethisch zu essen.

Gerne auch mit Genuss!


Wissenschaftliche Quellen:

Eisen MB./ Brown PO. (2022): “Rapid global phaseout of animal agriculture has the potential to stabilize greenhouse gas levels for 30 years and offset 68 percent of CO2 emissions this century.” Online unter: journals.plos.org/climate/article?id=10.1371/journal.pclm.0000010
McGuire L. et al. (2022): “The Development of Speciesism: Age-Related Differences in the Moral View of Animals.” Online unter: journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/19485506221086182
Schlatzer, M. (2011): Tierproduktion und Klimawandel. Ein wissenschaftlicher Diskurs zum Einfluss der Ernährung auf Umwelt und Klima.
Low, P. et al. (2012): “Cambridge Declaration On Consciousness.” Online unter: fcmconference.org/img/CambridgeDeclarationOnConsciousness.pdf
Poore, J./ Nemecek, T. (2018): “Reducing food’s environmental impacts through producers and consumers.” Online unter: science.org/doi/10.1126/science.aaq0216
Schlatzer, M./ Lindenthal, T. (2020): „Einfluss von unterschiedlichen Ernährungsweisen auf Klimawandel und Flächeninanspruchnahme in Österreich und Übersee (DIETCCLU).“ Online unter: fibl.org/de/infothek/meldung/fibl-studie-startclim.html
Willet, W. et al. (2019). “Food in the Anthropocene: the EAT-Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems.” Online unter: thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4/fulltext
Zamecnik, G. et al (2021): „Klimaschutz und Ernährung – Darstellung und Reduktionsmöglichkeiten der Treibhausgasemissionen von verschiedenen Lebensmitteln und Ernährungsstilen.“ Online unter: orgprints.org/id/eprint/42833


Sonstige Quellen:

Albert Schweitzer Stiftung (2019): „Kleine Schlachthöfe: 44% Fehlbetäubungen.“ Online unter: albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/kleine-schlachthoefe-fehlbetaeubungen
Melanie Joy (2013): Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung.
Niko Rittenau/ Patrick Schönfeld/ Ed Winters (2021): Vegan ist Unsinn! Populäre Argumente gegen den Veganismus und wie man sie entkräftet.
Philipp von Gall et al. (2022): „Weniger Tiere – mehr Raum für Wandel. Zur Reduktion agrarischer Tierzahlen aus Tierschutzsicht mit Blick auf den Flächenbedarf.“ Online unter: media.4-paws.org/a/9/3/f/a93fbace3fcbe45561f5c184f4600bf577265bb7/220304-Gutachten-Bestandsreduktion-final-small.pdf
Project Drawdown (2020): “Farming Our Way Out Of The Climate Crisis.” Online unter: drawdown.org
Ed Winters (2022): This is Vegan Propaganda (& Other Lies the Meat Industry tells you).


Restaurant-Tipps:

swingkitchen.com
restaurant-olive.at
greenflamingoinnsbruck.com


Kochbücher:
Sebastian Copien/ Niko Rittenau (2021): „Vegane Ernährung für Einsteiger. Das wichtigste Basiswissen und schnelle Rezepte.“
Siegfried Kröpfl (2013): „Wir kochen vegan: Veganer Genuss für die ganze Familie.“
Siegfried Kröpfl (2014): „Wir backen vegan: Veganer Backgenuss für die ganze Familie.“
Bianca Zapatka (2021): „Vegan Paradise. Himmlische Rezepte aus aller Welt.“


Webtipps:

vegan.at/restaurants
vegan-masterclass.de


Einkaufstipps:

Eine große Auswahl an veganen Spezialitäten bieten in Tirol zahlreiche Bioläden und -supermärkte. Besonders erwähnenswert ist der Zero-Waste-Pionierbetrieb Greenroot in Innsbruck. Auch bei den konventionellen Supermarktketten ist das Angebot mittlerweile beachtlich und es finden jeden Tag neue vegane Produkte den Weg in die Regale. Probieren geht über Studieren, lautet die Devise.


Disclaimer:
Es bestehen keinerlei finanzielle Interessen oder sonstige wirtschaftliche Verbindungen zu etwaigen im Beitrag genannten Personen oder Unternehmen. Das einzige Interesse der Autorin besteht darin, das Bewusstsein für Tierrechte zu stärken und zum Wohle von Tier, Natur und Mensch ethischere Konsumentscheidungen zu fördern.





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Nicole Staudenherz

Nicole Staudenherz, geb. 1976 in Innsbruck, verheiratet, Betreuerin autistischer Kinder, Pflegerin bei den Sozialen Diensten Innsbruck, Pflegehelferin bei Tirol Kliniken, Diplom. Gesundheits- und Krankenschwester Tirol Kliniken, LKH Natters und Hochzirl, inzwischen hauptberufliche Kampagnenleiterin des Vereins gegen Tierfabriken (VGT).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ralph Holtfeuer

    Halleluja!!!!

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