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Markus Fenner
Wien und Wahrheit
Erzählung


„ Mei Wean, des is a alte Frau
die siecht scho nimmer guat
as beste war, ma gabat ihr
an Gnadnschuß in´ Huat! “


So sangen in meiner Jugend Helmut Qualtinger und André Heller im Duett und mir direkt aus dem Herzen. Die beiden gehören zu der Sorte Wiener, die ihre Heimatstadt zwar unerträglich finden, es woanders aber schon gar nicht aushalten. Ich bin da anders. Ich gehöre zu der Sorte Wiener, die ihre Heimatstadt unerträglich finden und es nur woanders aushalten.

In meinem Fall ist München das Exil, von dem ich mir manchmal einbilde, es habe mir das Leben gerettet. München ist als Stadt vielleicht nicht berauschend, aber es wirkt. Allerdings ist es ziemlich nahe bei Wien. In den früheren Jahren perforierte ich öfters mein Exil und nahm die fünf Autostunden für kurze Heimkehren auf mich. Sie haben mir nie gut getan. Seit ich eine Analyse gemacht habe, fahre ich nur mehr nach Wien, wenn ich wirklich muss.

Analyse ist übrigens auch so eine „piefkinesische“ Möglichkeit der Lebensrettung, die einem in der vergleichsweise trockenen, reduktionistischen Atmosphäre des Westens leichter offensteht. Wer macht in der Geburtsstadt der Analyse schon eine Analyse? Das Wiener Verhältnis zu Freud erinnert mich stark an die Beziehung, die mein Onkel Franz, ein eingefuchster Wagnerianer, zu Mozart hatte: „Mozart nä wahr, was für ein Genie, ein göttlicher Komponist nä wahr… bloß hören tu ich ihn net gern!“

Die Zwangsgründe, die mich in den letzten Jahren nach Wien bringen konnten, waren Amtsgänge und meine 86jährige Tante, die letzte Überlebende der bronzestarren Greisenriege, in deren lastendem Schatten ich meine Kindheit verbracht hatte. Die Besuche bei ihr sind – aber lassen wir das.

In diesem Jahr fuhr ich freiwillig, wenn auch mit großen Beklemmungen. Anlass war das zwanzigjährige Maturajubiläum in dem ehrwürdigen Jesuiteninternat vor den Toren Wiens, in dessen lastendem Schatten ich meine Jugend – aber lassen wir das. Jedenfalls, die Beklemmungen waren tief. Dass ich zum ersten Mal mich wieder blicken ließ bei den Klassenkameraden, diesen mundtoten Zeugen meiner Vergangenheit, die nun plötzlich wieder das Maul aufmachen sollten zu meiner Gegenwart – das war noch das Wenigste. Was mich schlottern machte, war eine absolute Premiere, die ich plante.

Ich wollte nicht lügen. Und das in Wien! Ich hatte in Wien immer gelogen, ich fuhr nach Wien, um zu lügen, ich log aus dem Ausland schriftlich, ich log fernmündlich nach Wien. In München selbst lüge ich selten, eine andere lebensrettende Grundbedingung meines Exils.

Meine Wiener Schule des Lügens begann in frühen Jahren, als Mama meine Bilder herumzeigte, die zum größten Teil sie selbst gemalt hatte. Als mein Vater aus unserem Leben unter Hinterlassung einer allzu schmalen Rente entschwand, ging es erst richtig los mit dem, was meine Mama mit „ein bissel diplomatisch sein“ umschrieb.

Das vornehmste Objekt unserer Diplomatie war die Verwandtschaft, die für meine Ausbildung aufkommen sollte und das unter endlosem Genörgel auch tat. Wobei mir bis heute nicht klar ist, ob sie es nicht auch getan hätte, wenn wir nicht soviel gelogen hätten. Doch es lag einfach in der Luft, wahrscheinlich wurde es von uns erwartet. Denn wir logen nicht wirklich erfolgreich, wir erreichten immer nur einen Aufschub der Wahrheit. Trotzdem gab es nie Vorwürfe, wenn nach geraumer Zeit herauskam, wie es sich wirklich verhielt.

Vielleicht wollten die Tanten und Onkels wirklich nicht, dass wir ihnen „mit allem gleich ins Gesicht springen“, wie meine Mama solche Geradlinigkeit abschätzig beurteilte. Sie zahlten und wir logen, im Sinne eines Hinauszögerns der Wahrheit.

Es kam immer alles raus, aber nie auf einmal. So wurde immer zuerst verheimlicht, dann in sorgfältig dosierten Raten bekannt, dass ich im Internat durchgefallen war; dass ich später nicht Jura, sondern Theaterwissenschaft studierte; dass ich Geld für Gesangsstunden nicht brauchte, weil das im Studium verlangt war; weil ich nach meiner Promotion nicht Dramaturg werden wollte, sondern Opernsänger. Als es dann um die Verschleierung der Tatsache ging, dass ich nicht mehr Opernsänger, sondern schlicht und einfach Gesangslehrer war, log ich schon längst auf eigene Faust, ohne die Unterstützung meiner lieben Mama, die inzwischen verstorben war. Auch die Bronzeriege war inzwischen dahingerafft bis auf meine heute noch lebende Tante, die zum alleinigen Adressaten meiner Lügen wurde.

Nach Jahren noch fälschte ich aktuelle Kritiken über Aufführungen der Oper Hannover, indem ich in ähnlicher Schrifttype meinen Namen in die Beurteilung des Baritonparts einfügte. Hannover war der Spielort, wo ich mich zuletzt noch einmal beworben hatte, jedoch zum Vorsingen nicht mehr angetreten war. Dadurch empfand ich eine gewisse Anhänglichkeit an dieses Haus. Außerdem hatte der Sänger, der statt meiner die Stelle erhalten hatte, durch eine glückliche Fügung einen Namen mit derselben Buchstabenanzahl wie der meine. Auf den Kopien, die ich der Tante sandte, wirkte das recht überzeugend. Sie sieht auch nicht mehr gut.

Als mein Doppelgänger ausschied und ein Nachfolger mit ordinär kurzem Namen erschien, wurde es schwieriger. Inzwischen hatte ich aber eine bescheidene Kleinkunst-Karriere in München gestartet und war in der Lage, ganze Sätze aus den Münchner Zeitungskritiken meiner eigenen Aufführungen herauszuschneiden und in die Hannoverschen einzusetzen.

So erwarb ich mir gewisse Kenntnisse im Layout, das bei mir zur gänzlich zweckfreien Kunst wurde. Ich wollte weder von der Tante unterstützt werden noch ihre Empfindungen schonen, da sie nicht den geringsten Wert auf den Sängerberuf legte (sie war endgültig bei der Enttäuschung stehengeblieben, dass ich seinerzeit nicht Jurist geworden war). Irgendwann, als ich eine neue Kritik aus meiner Fälscherwerkstatt durchlas und für einen leicht benommenen Moment dachte, dass dieser Kritikaster meine Interpretation des Posa ruhig mehr hätte herausstellen können, dämmerte mir, dass es für diese Fälschungen nur einen interessierten Abnehmer gab. Und der wohnte nicht in Wien.

Die Entscheidung, ob ich beim Maturatreffen erstmalig versuchen würde, Wien und Wahrheit unter einen Hut zu bekommen, war bis zuletzt offen. Immerhin hatte ich im Wagen neben meiner schlichten Reisetasche noch eine zweite liegen, gewissermaßen mein Münchhausen-Necessaire, das mit seit Jahren in München unbenutzten Requisiten gefüllt war. In einer merkwürdigen Zerstreutheit und hinter dem Rücken meiner Frau, die kein Verständnis für derlei aufbringt, hatte ich sie kurz vor meiner Abfahrt noch eingepackt. Darunter die alten Spezialschuhe, die mich 7 Zentimeter größer machen. Oder der helle Trenchcoat mit den extrabreiten Schultern, in welchem ich, vor allem mit dem dazugehörigen weißen Anzug, wie ein in der Tropenhitze geschrumpfter Lauritz Melchior bei einem Gastspiel in Manila aussehe. Leider auch der Ordner mit den Hannoverschen Kritiken. Oder gewisse kosmetische Artikel, mit denen ich vor Jahren das Missverhältnis zwischen meinen farblosen Wimpern und Brauen und den eher kleinen, stechenden Augen verbessert hatte.

Die Mitnahme von subtileren Attributen wurde mir erst auf der Fahrt bewusst, etwa als ich an der Raststätte Mondsee den Tankwart mit allen geöffneten Nebenresonanzen andröhnte – „Bitte volltanken, mein Gutster“, dass dieser einen Schritt zurücktrat. Da erschrak auch ich. Zu schmerzhaft war der jahrelange Kampf um eine eigene Sprechweise gewesen, um meine Sprechweise, nicht die eines Heldentenors der alten Schule noch die von Oskar Werner oder Klaus Kinski, die ebenfalls über lange Zeit aus meinem armen Mund geredet hatten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war; aber nicht mir.

Dieser kleine Schock half mir dann. Ich kam durch die folgenden zwei Tage, ohne auch nur einmal meinen Münchhausen-Koffer zu öffnen, kleine Fahrlässigkeiten abgerechnet wie die Bräunungscreme, die ich vor dem festlichen Abendessen auflegte. Oder einzelne Äußerungen, die mir auskamen, etwa gegenüber dem Pekoy-Arsch, der sich gönnerhaft erkundigte , was ich denn so treibe. In meiner zenhaft verrätselten Antwort „Ich treibe nichts, ich bin getrieben“ sang wieder das Weihe-Nölen Oskar Werners, das den Pekoy-Arsch immerhin von weiteren Fragen Abstand nehmen ließ. Doch im Ganzen benahm ich mich, als ob ich in München wäre.

Ich staunte, wie sehr bei meinen Klassenkameraden die Vergangenheit die Gegenwart beherrschte. Zwar hatte es periphere Verschiebungen gegeben, aus einigen grauen Mäusen von damals waren interessante Männer geworden, einige interessante Typen von damals waren ins Graue ausgeblichen. Doch in den Grundkategorien war alles beim Alten: die Arschlöcher waren sich selbst ebenso treu geblieben wie die Netten. Dass das bei mir nicht so war, wurde tatsächlich wahrgenommen.

Denn ich erinnere mich ganz deutlich, dass ich selbst damals zu den Arschlöchern gehört hatte. Trotzdem war man bereit zu vergessen, dass ich seinerzeit sie alle in drei Kategorien eingeteilt hatte – „In Reichweite“ – „Medioker“ und „Substandard“ (und zwar nach ihrem jeweiligen Verhältnis zur Kunst, besonders zur Oper und ganz besonders zu Richard Wagner). Man hatte auch vergessen, dass ich mich von ihnen mit der Drohung verabschiedet hatte, die Bewilligung von Freikarten für meine Auftritte an der Wiener Oper würde sich nach diesen Kriterien richten.

Niemand erinnerte sich und mich daran, dass ich eine strahlende Opernkarriere als so gut wie sicher hingestellt hatte. Oper war für sie damals schon so unwichtig gewesen, deshalb fiel ihnen jetzt nicht auf, dass ich es nicht geschafft hatte. Doch all diese wohl etablierten Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure und Professores fanden es sehr interessant, dass ich ein Gesangsstudio führe und als selbständiger Unternehmer mein Auskommen in einem notorisch brotlosen Bereich gefunden habe. Sie waren sehr nett zu mir. Obwohl ich es etwas ungenau von ihnen fand, überkam mich Rührung, die ungenaueste aller Gemütsbewegungen.

In dieser warmen und gesicherten Stimmung überstand ich problemlos auch den Sonntagvormittag, den wir im Zentrum des Schattens, direkt im Internat verbrachten. Feierliches Hochamt, Führung durch das modernisierte Kolleg („zu unserer Zeit hätte es das nicht…“), Mittagessen im Speisesaal mit launiger Tischrede des neuen Pater Rektor. Die Schwarzen waren die Artigkeit selbst.

Danach gingen wir auseinander unter herzlichen Verabschiedungen, die in einzelne verlegene Umarmungen ausbrachen. Während die Volvos und Audis der anderen zum Kieshof hinausknirschten, ließ ich meine Nippon-Wanze noch stehen und schlich mich zurück zur Internatskapelle.

Dort machte ich etwas, was ich mangels innerer Beziehung während der Messe unterlassen hatte. Ich ging nach vorne zum Altar, wo die altersspeckigen Kniekissen lagen, auf denen man, ganz wie früher, heute morgen die Kommunion empfangen hatte. Meine Schritte hallten in dem mächtigen Raum, der jeder Modernisierung widerstanden hatte. Seine Perspektiven erfassten mich, sie saugten mich den Mittelgang entlang, der zu einer Zeitlinie in die Vergangenheit wurde.

Als ich endlich auf den Kissen ankam, war ich wieder dreizehn, ein klein und breit geratener, schwer bebrillter Junge, gesegnet mit beginnender Akne und abgeschlossenem Stimmbruch, der bei der täglichen Frühmesse unterm geraunten „Corpus Christi“ des Priesters die Oblate auf der gebleckten Zunge empfängt… und während der zarte Körper in seinem Mund zergeht, steigt das immer gleiche Stoßgebet in ihm auf: „Lieber Gott, bitte mach, dass ich 1,85 groß und Heldentenor werde“…

Ich war im Auge der Wahn-Spirale. Hier lag der Keim des Umschlagens von der Minderwertigkeit meiner Kindheit in die Grandiosität meiner Jugend. Ich erhob mich, ging langsam rückwärts auf der Zeitlinie, spürte die sachten Stöße an den alten Weichen, alle in eine wachsende Unwirklichkeit gestellt, empfand noch einmal die schubartigen Aufblähungen, mit denen das Urteil „zu klein“ wahnhaft nach „überlebensgroß“ übergeschnappt war. Erst ganz hinten in Türnähe kamen die Brüche und Schrumpfungen, die das Ende meiner endlosen Jugend eingeläutet hatten.

Rückwärts trat ich hinaus und schloss das schwere Portal, das jede Fadenbildung nachdrücklich abschnitt. Auf der Kirchentreppe bekam ich plötzlich Lust auf Wien. Ich wollte nach Jahr und Tag wieder mal die Stadt sehen, die ich bei den Besuchen meiner Tante in deren Vorort kaum mehr berührt hatte.

Ich parkte am Donaukanal, verwundert über die Länge dieser Fahrt vom Stadtrand bis in die Innenstadt. Ich spazierte den Kai entlang. Gewöhnt an die Münchner kurzen Wege und Kleinperspektiven erschien mir das altvertraute Gelände hier in einer neuen Aufrauhung. Gigantische Häuserfronten, die sich endlos den Kanal entlangzogen, der doppelt so breit wie die Isar war… was für eine riesige Stadt!

Früher die Kapitale eines Weltreiches, Hauptstadt von Hauptstädten, und heute nur mehr als ungeheurer Charakterkopf auf den schmächtigen Gliedern eines Kleinstaates lastend. Flächenmäßig so groß wie Paris, doch nur eine halbe Million Einwohner mehr als in München – ich hatte plötzlich das Gefühl, das Problem Wien war nur ein Raumproblem. Solch große Stadt und so wenig Menschen, die den steingewordenen Anspruch der Vergangenheit mit ihrer geschrumpften Gegenwart füllen sollen. Die Stadt schlottert an ihnen herab wie Großvaters Feiertagsanzug am Burli. Und der Burli pumpt, der Burli bläht sich…

Ich ging die breite Esplanade am Kanal entlang, passierte die mächtige Front eines Altbaus, wo einer meiner Freunde, der Filmemacher, seinerzeit sein Dachatelier gehabt hatte, einen 150 Quadratmeter großen Raum mit durchgehender Glasdecke, die ihn im Winter unbewohnbar machte. Dort brütete der Filmer über Projekten wie dem Historiengemälde über das Treiben der Päpste in Avignon, das ausschließlich unter Wasser spielen sollte. Es war eine automatische Verbindung, zur Praterstraße hinüberzusehen, die sich jetzt auf der anderen Kanalseite öffnete.

Dort hatte ein anderer Freund, der charismatische Schriftsteller, der dann die Literatur als „zu einfältig“ hinter sich ließ und sich dem „reinen Machiavellismus“ verschrieb, in der düsteren Wohnung seiner Tante residiert. In dem Salon, doppelt so groß wie meine Münchner Wohnung, pflegte er mit von mir gepumptem Geld Herrenabende für „einflussreiche Persönlichkeiten“ aus Politik und Wissenschaft zu geben.

Ich genoss die Nachmittagssonne, die mir den Nacken wärmte, und genoss noch mehr ein kompaktes Selbstgefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte: hier war ich, hier ging ich, ein mittelgroßer Gesangslehrer und Kleinkünstler aus München. Zum ersten Mal empfand ich mit einem Lustgefühl diese Wahrheit, dass ich nur das und nicht mehr war – hier in der Stadt der Ochsenfrösche.

Der Anblick der Passanten, die wie ich am Kai unterwegs waren, rief mir ins Bewusstsein zurück, wie überzogen das doch war. Die meisten Wiener kamen ja problemlos mit Wien zurecht. Etwa meine Klassenkameraden, die durchwegs einen passenden Anzug, ohne Aufplusterungen auszufüllen, gefunden hatten. Es war sehr oft der Anzug ihres Vaters gewesen, in den diese Söhne des gehobenen Mittelstandes geschlüpft waren, nicht selten direkt die väterlichen Praxen, Kanzleien und Betriebe übernehmend. Sie hatten natürlich auch nichts mit Kunst im Sinn gehabt. Vielleicht war es nur die Mischung von Wien und Kunst, die das schwer verträgliche Wahngebräu ergab?…

Ich musste lächeln, als mir der Auslöser dieses Gedanken bewusst wurde, ein langer Mensch im Mantel, der zwanzig Meter vor mir dahinspazierte. Er erinnerte mich vage an den Ganthaler, neben mir den einzigen aus der Klasse, der ebenfalls von dem Kunst-Gebräu gekostet und eine entsprechend verworrene Entwicklung genommen hatte. Mit welchem Ergebnis, war übrigens unklar, denn Ganthaler war nicht zum Treffen erschienen. Auch die rührigen Organisatoren des Maturatreffens hatten seine Adresse nicht ausfindig machen können.

In der Schulzeit hatte Ganthaler für mich immer wieder die Kategorie „in Reichweite“ besetzt gehalten, trotz wiederholter Degradierungen nach „Substandard“, denn als angehender Komponist hatte er auf ein kritisches Verhältnis zu Wagner’s Musik gehalten. Ein scheuer, bis hart ans Phlegma zurückhaltender Junge war er gewesen, den man schon näher kennen musste, um auf seinen untergründigen Hochmut zu stoßen, ein gut verstecktes, dafür ausgebreitetes Katakomben-System der Selbstüberhebung. Übrigens eher unschön, der Ganthaler, ein langes schmales Hemd, trotzdem dicklich im Gesicht und um die Hüften, mit einem seltsamen Gang, wie der Storch im Salat…

Ich erschrak. Der Spaziergänger stakste auffällig langstielig vor mir her. Ich wurde schneller und holte auf. War ers?! Ich hatte zu ihm als einzigem noch in der Studienzeit lockeren Kontakt gehalten, bis dann meine Aufblähungen solch kleinformatige Bindungen gesprengt hatten. Musikwissenschaft hatte er erst studiert, später dann zum Dirigentenpult gedrängt…

Der Spaziergänger kam zur Ampel an der Franz Josefs-Brücke und wandte sich in Richtung Ring. Sein Profil, das er mir beim Überqueren der Straße wies, machte mich wieder unschlüssig. Der Mann war viel zu hager. Es fehlte die Ganthalersche Pausbäckigkeit, die er auch noch seinerzeit in Darmstadt gehabt hatte… eine Episode, an die ich mich nicht allzu gern erinnere.

Ganthalers und mein Weg hatten sich lange nach der Matura noch einmal gekreuzt, an dem schmerzhaften Schnittpunkt der Oper Darmstadt, den wir, hohl witzelnd, als „im Arsch der Opernwelt“ lokalisierten, kurz vor der Endstufe der Oper Pforzheim. Ganthaler war Korrepetitor und Assistent des Musikdirektors, ich Bariton-Buffo gewesen; zwei unterbezahlte und überalterte Dreißiger, deren bedenkliche Spätberufenheit nur die Verklärung der Tatsache darstellte, dass sie in diesem Milieu immer und in jedem Alter fehl am Platze gewesen wären. Ich hatte mich nach dieser Spielzeit offiziell in Richtung Hannover, in Wahrheit aber endgültig aus der Oper verabschiedet, Ganthaler war geblieben.

Die Trennung hatte mich erleichtert, denn unter der Kameradschaft, zu der wir uns in jenem trüben Jahr gezwungen hatten, war immer die Irritation durch die Anwesenheit des Anderen gewesen, dieses peinlichen Zeugen des eigenen grandiosen Anfangsentwurfs. Beim Maturatreffen war mir sein Fehlen nicht unangenehm gewesen. Ich hatte auch die Darmstadt-Episode verschwiegen, als herumgefragt wurde, ob jemand etwas vom Ganthaler wüsste.

Das war jetzt wie weggewischt. Ich freute mich. Halsbrecherisch überquerte ich die Straße, wo der Verkehr wieder in Fluss gekommen war. Die lange Gestalt stakste die Fußgängerallee am Ring hinauf. Ich überholte sie auf dem seitlichen Trottoir, gab mir einen guten Vorsprung, bevor ich zur Allee hinüberwechselte und halb hinter einem Baum Posto fasste, ein feiges Zugeständnis an die theoretische Möglichkeit, dass es sich doch um einen Fremden handeln könnte.

Mein Herzklopfen sprach eine andere Sprache. Natürlich konnte es nur Ganthaler sein, diese Begegnung war zwangsläufig, der krönende Abschluss der Erfahrung, dass Wien und Wahrheit sehr wohl unter einen Hut gingen. Wir konnten ins nahe Cafe Prückel gehen, vielleicht auch zusammen nachtmahlen, denn, bei Gott, es gab viel zu bereden, sicher mehr als mit den anderen Kameraden, Bitteres, Peinliches, Offenherziges, zuletzt doch Geklärtes…

Ich trat in die Allee hinaus, direkt in die Linie seines Storchenganges. Grinsend vor Aufregung sah ich ihn herankommen. Er trug den für das lachende Wetter eher unpassenden Tuchmantel in jesuitischer Manier über die Schultern gehängt, ihn vor der Brust zusammenhaltend. Er war wirklich sehr mager geworden. Mit diesen hohlen Wangen hatte er tatsächlich einen Charakterkopf bekommen. Ich gab kein Zeichen, lauerte auf den Moment des Wiedererkennens bei ihm. Etwa zehn Meter vor mir stutzte er und änderte die Richtung. Verdattert sah ich zu, wie er sich tatsächlich anschickte, mich in weitem Abstand zu passieren. Erst der befangene Blick, mit dem er angestrengt von mir wegsah, riss mich aus der Lähmung.

„Waltl, was machst denn?“, rief ich empört.
Er fuhr herum und kam unter schwachen Gesten der Überraschung heran. Ganz wie früher war sein schlaffer Pianisten-Händedruck. Ähnlich matt kam:
„Ja sowas, ja heast, was machst du denn hier?“
Ich erzählte vom Maturatreffen, wurde einlässig, unwillkürlich bemüht, etwas Schwung in die Situation zu bringen. Anfangs hatte ich noch den toten Fisch seiner Hand festgehalten, den ich aber bald zurückgab. Er hielt sich mit dem wiederbelebten Fisch den Mantel zusammen, machte leise und unmotiviert „Ah“ und „Ah so“, während ich erzählte. Sein Blick schweifte über meinen Scheitel hinweg im Leeren herum.

Ich unterdrückte den Impuls hochzuspringen, um ihn zu fixieren, und beteuerte:
„Sie haben alle nach dir gefragt, aber keiner hat deine Adresse gewusst.“
„Ah… no, is besser so.“
Er gehörte vom Sprechtypus her zu den Winslern, wie sie in Wien sehr häufig vorkommen. Früher hatte mich das angezogen, doch jetzt legte sich diese hohe, erstickt säuselnde Stimme wie Mehltau auf mich. Umso herzhafter bellte ich ihn an:
„Und, lebst du jetzt wieder in Wien?“
„Erst seit zwaa Monat. Davor war i lang in Attnang-Puchheim.“
Attnang-Puchheim… Ich räusperte das Grauen fort, mit dem dieser Name mich überschwemmte, und flüsterte, plötzlich tonlos wie er: „Waltl, was machst du denn jetzt?“

In dem bleichen, großflächigen Antlitz zuckte es, seine Blicke schweiften schneller hin und her, 20 Zentimeter über meinem bang gehobenen Gesicht.
„I?… I bin total versandelt.“
„Bist du verarmt?“, entfuhr es mir, während ich das graue Jackett, den Maschinenschlips musterte, die einen lähmend ordentlichen Eindruck machten. Auch sein früher chronisch fettiges Haar war gepflegt. Er machte eine müde Abwehrbewegung. „Naa. Beamter bin i worn.“
„Aber das macht doch nichts… ich meine, ist ja interessant!“, dröhnte ich mit einem inneren Ruck. Das große Gesicht über mir schwang herab, zum ersten Mal suchten seine Augen die meinen. Wie aus einer gekippten Kanne traf mich ein Guss von bleierner Resignation, durchmischt mit Hohn.
„Interessant… maanst leiwand?“
Ich bog unwillkürlich den Kopf zurück. Der Guss hielt an, die erstickte Stimme lispelte: „Beamter bin i. Im Brunnenwesen.“

Es war eine Erlösung, als der Blick wieder nach oben ins Leere schwang. Und dann, als ob es dazu auf dieser Welt nichts mehr zu sagen gäbe, hob er die Hand in einer schlaffen Bewegung. „Alsdann… Servus.“
Er stakste davon, ohne sich umzudrehen. Ein Schrei bildete sich in mir: „Waltl, Grillparzer, Weinheber, das waren doch auch Beamte!“ Doch kein Laut drang aus mir. Untätig starrte ich dem Ganthaler nach. Und in der Stille sagte jemand ganz deutlich: „Einfach ungustiös, springt er dir damit gleich ins Gesicht!“ Ich wandte mich in die Gegenrichtung und begann zu traben.

Eile tat not. Denn wer gerade gesprochen hatte, das war meine Mutter. Waltl hatte einfach nur die Wahrheit gesagt. Wenn das so unerträglich war, dass ich schon die Stimme meiner lieben Mama zu hören begann, dann drohte Wien mich wieder einzufangen!

In der Dämmerung ließ ich die letzten Vororte hinter mir und jagte klappernd die Steigung zum Wienerwald hinan. Es gibt da auf der Autobahn einen Abschnitt, an der man in der Dunkelheit noch einmal die lichtgetüpfelte Stadt drunten liegen sieht – wie eine schimmernde Spinne, die hell beleuchteten Fernstraßen wie Fangarme ausgestreckt. Bei meinen früheren Heimfahrten von den Besuchen bei der Tante war diese Stelle immer eine seelische Wasserscheide gewesen.

Auch an diesem Abend funktionierte der wohltätige Grenzübertritt. Das zitternde Bild der Spinne verschwand endlich aus meinem Rückspiegel. Mit ihr verschwand das von Ganthalers bleierner Resignation aufgerührte Gefühl, dass auch mein Leben quasi im „Brunnenwesen“ gelandet war, das Leben eines verkrachten Stimmpaukers, der nebenbei in Kellertheatern den Hanswurst machte…

So konnte, so durfte man das nicht sehen! Das war nicht die Wahrheit. Das war bloß Wien! Und wie zur Bekräftigung dieser Einsicht fiel mir die letzte Strophe des alten Liedes ein. Ich schmetterte sie zum Rattern des Wagens:

„Doch leider leider bin auch ich
ein Kind von dieser Frau
Drum wart i bis zan Muttatag,
daß i s´ daschlog die Sau – heia!“


Nachspiel:

Eine Folge dieses letztlich doch befreienden Wienausfluges war das neue Kabarett-Programm, das zu schreiben ich endlich den Mut fand: MEIN LIEBER SCH-WAHN.

Es handelte sich um eine witzige, wenn auch etwas spezifische Mischung aus Lohengrin-Spektakel und biografischen Elementen, nämlich den korkenzieherartigen Verkrümmungen eines jungen Mannes auf seinem aussichtslosen Weg zum Wagnersänger.

Beim Münchner Publikum, dem dieses Thema nicht ganz so unter den Nägeln brennt, fand es nur begrenzten Zuspruch. Dafür erhielt ich mit meiner Truppe tatsächlich eine Einladung nach Bayreuth. Für das Rahmenprogramm der Festspiele. Et ego in Arcadia und endlich am Ziel? Nun ja, die Kritiken waren gut; die zwei Vorstellungen auch hier nur mäßig besucht; Tingeln kann ich sowieso nicht ausstehen.

Der eigentliche Höhepunkt war unser Besuch des Wagnermuseums in der Villa Wahnfried, wo mir widerfuhr, dass mein Wähnen endlich Frieden fand. In einem Raum fanden wir an der Wand eine Markierung mit der Erläuterung DIE WAHRE GRÖSSE RICHARD WAGNERS, das Ergebnis einer wissenschaftlichen Berechnung auf Grund verschiedenster Quellen, die allen Spekulationen über das Körpermaß des Meisters ein Ende setzen sollte.

Erschauernd stand ich vor der Marke an der Wand, vor der Zentimetrierung meines Idols, das mit seiner eigenartigen Verquickung von Kleingeratenheit und Hang zum Kolossalen mein Leben tiefgeätzt hatte. Auch wenn ich selbst ja mittelgroß bin, während sich Wagner bekanntlich knapp über Zwergengröße… ich stutzte! Die Marke war erstaunlich wenig weit unten. Es ließ sich nicht leugnen, dass die Markierung überraschend hoch angebracht war! In einem tollkühnen Impuls – immerhin hatte ich mich seit meinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gemessen – trat ich an die Wand. Meine Kollegen stellten aufgeregt fest, dass mein Scheitelpunkt genau an die Marke stieß. Sie legten sogar ein Buch an. Es passte präzise.

Nun ist es heraus. Ich bin haargenauso groß wie RW. Bei diesem ist solches Maßnehmen natürlich eine Eselei. Seine WAHRE GRÖSSE ist viel einleuchtender an der wilden Mythenbildung zu ermessen („etwa Einsfünfzig“ oder „Scheitelhöhe Co-sima’s Brust“), die ihn durchwegs kleiner machte als er war.

Die triviale Wandrune in Wahnfried ist nur als Maßstab für MEINE WAHRE GRÖSSE von Bedeutung. Denn bei jemand wie mir geht es um den nackten Zentimeter.
Also nackt gesprochen: MEINE WAHRE GRÖSSE beträgt nicht, wie ich 30 Jahre lang frohen Mutes annahm, knapp 170 Zentimeter. Sie beträgt auch nicht, wie ich in dunklen Stunden befürchtet hatte, nur 168 Zentimeter.

Tatsächlich beträgt sie 166,5 Zentimeter.

Ausgeschrieben hieße das: Einhundertsechsundsechzigkommafünf Zentimeter. Ich wiederhole: Einhundertsechsundsechzigkommafünf Zentimeter. Um jede Unklarheit zu beseitigen, gebe ich hiermit zu Protokoll: Ich bin rund Einen Meter Sechsundsechzig groß!

b

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Markus Fenner

    Lieber RW,
    sowas liest man natürlich gerne! Und auch noch so prompt! Einer der wenigen Augenblicke im Autorenleben, wo man zu sich sagt „Halt das fest! Schöner wirds nicht!“
    Danke sehr und ich hoffe, dass das auch einer Freigabe gleichkommt
    Herzlich MF

  2. Ronald Weinberger

    Köööstlich!!
    Ein schon frühmorgens zum Grinsen, Lächeln und kurzen Lachern, aber ebenso leicht wehmütigen Erinnerungen animierter Ronald Weinberger

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