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Markus Fenner
Amassas Zeit
17. Folge
Der dünne Dämon

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. 

In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge Anderl, Hugo und der Schmale einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. 

Mehr ein Kind dieser schwärmerischen Zeiten ist die Maturantin Anna. Beharrlich sucht sie nach dem Ansatz für ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben. Ihr schräger Fast-Freund Anderl hat für derlei nur Hohn übrig.


Das Abendessen zog sich hin. Das Beste daran war, dass Hugo nicht dabei auftauchte und mit seiner Elendsmiene auf die Stimmung von Anderl und dem Schmalen drücken konnte. Diese war immer noch gehoben, aber auch gefährdet. 

Anderl spürte nur zu gut, wie dünn diese Membrane war, die ihn von den letzten Tagen trennte. Längst hatten sie die Erlaubnis zum Abendausgang bei Pater Waggerl erwirkt, doch der für den Ausgang notwendige Abend ließ auf sich warten.

Sie schlugen die Zeit in der paffenden Geselligkeit im Raucher-Tempel tot, bis die Dämmerung übers Gelände kroch. Sie steckten sich neue Zigaretten an und schoben los, hinaus durchs große Tor, die Straße am Fluss entlang und über die Brücke in die Altstadt, ohne Ziel, ohne andere Absicht, als einfach nur loszugehen. Eine hungrige Unruhe war über sie gekommen, die erstmal nur nach Bewegung verlangte.

Sie streunten durch die belebten Gassen, starrten durch die Fenster der Gaststätten, die sich mit abendlichem Publikum füllten, sahen in die Gesichter der Entgegenkommenden, begierig und doch nur obenhin. Das alles gab es an diesem ihrem Abend, der jedoch erst begann, an dem es noch ganz anderes geben würde…

Ein Mädchen stand vor einem Schaufenster, in Bademoden versunken, Anderl warf sich hinter ihr zu Boden und küsste ihren Knöchel; ein älteres Ehepaar kam entgegen, der Schmale trat ihm mit phantastischer Gebärde in den Weg, seine raunende Stimme nannte die Frau Desdemona, fragte, ob sie schon zur Nacht gebetet habe. Schon waren sie weiter geweht, den Aufschrei des Mädchens, das Geraunze des Mannes hinter der nächsten Ecke lassend.

Sie schlugen sich von den großen Straßen seitwärts in das Gewinkel des uralten Bezirks zwischen den Resten der Stadtmauer und der Marktstraße, mit seinen verschachtelten Höfen, den schlauchengen Gässchen, den gewölbten Durchgängen, wo man den Kopf einziehen musste. Sie pirschten lautlos durch das Röhrensystem des mittelalterlichen Valduns und wurden schneller im Genuss an diesem Gehen.

Dabei schossen sie aus der Stadt hinaus. Irgendwo auf dem steilen Weg zum Känzele erlahmte der motorische Rausch und sie fanden sich in der Natur wieder. Wie üblich spielte sich in der rein gar nichts ab. Sie kehrten um, zurück in die mittlerweile lichtgetüpfelte Stadt, aber jetzt schon um ein bestimmtes Ziel besorgt, jetzt wollten sie wo ankommen. Man konnte ja erstmal einkehren, etwas trinken…

Sie kamen ins Café Dogana und machten noch in der Tür kehrt, als sie zwei aus der Achten sahen. Hier in der Fremde ohne alle Exzellenzen-Blasiertheit, winkten diese sie mit brüderlichem Hallo an ihren Tisch. Sie hatten im Weinhaus Lingg schon Platz genommen, standen wortlos auf und gingen, bevor sie der Ober an die Kette legen konnte… stilles Ende hinterm Weinglas, bei Gott, das hatte dieser Abend nicht verdient!

Die Stimmung sank. Die nächtliche Straße vor dem Lokal war nicht mehr die lockende Spur, die man mit Herzklopfen verfolgte. Sie latschten dahin, beteuerten sich ihr Glück, noch einmal entkommen zu sein. Sie waren überaus munter, um die trübe Ahnung zu übertönen, dass sie eben wieder einmal reingefallen waren – einmal mehr auf den alten Beschiss reingefallen von wegen der abenteuerlichen Welt da draußen.

Und da kam es wieder hoch, das vertraute Gefühl. Wie oft hatte man schon klein beigegeben, war schließlich wieder nachhause und ins Bett gekrochen, mit dieser unbestimmten Wut im Bauch, die man damit zu beruhigen suchte, dass man die erbärmlichen Nebensachen aufblähte – haha, der Satz, den das Mädchen gemacht hat… was haben wir gelacht, wie der Alte geschimpft hat…

Noch konnten sie es nicht glauben, dass ihnen das wieder passiert sein sollte. An frisch angebrannte Zigaretten geklammert, bogen sie ab um eine Ecke. Das Röhren einer Elektro-Gitarre liess sie herumfahren. Es kam aus zwei verblendeten Fenstern. Ein Schild ragte darüber auf die Gasse, an dem sie blind vorbeigelaufen waren. Sie eilten zum Eingang zurück, über den Namen der psychedelischen Anstalt spöttelnd, die seit etwa einem Jahr in Valduns in einem umgebauten Wirtshaus firmierte und dabei immer noch Andreas Hofer – Stuben hieß. Doch davon ließen sie sich nicht abschrecken.

Im Vorraum, wo sie Eintritt zahlten und Anderl wieder einmal seine neunzehn Jahre mit Ausweis glaubhaft machen musste, klappte plötzlich die schwere Tür zur Diskothek auf und die Musik schoss auf sie zu, wie mit dem Schlauch gespritzt. 

Obwohl er sich aus den Stones nicht so viel machte, bekam Anderl eine Gänsehaut, als die erstickte Knabenstimme wieder betonte, dass sie keine satisfaction kriegen könne. Auch der Schmale, der nur bei den Beatles die große Ausnahme, um den Rest der Popmusik jedoch einen Bogen machte, riss die Augen auf, als nach dem Schlagzeugbreak rau und wild der Chor losbrach. 

Sie kamen in einen Raum, der nur mehr mit den schmiedeeisernen Trenngittern der Sitznischen an seine bodenständige Vergangenheit erinnerte, und lehnten sich im Halbdunkel neben die anderen entrückten Gestalten an die Wand. Doch eigentlich kamen sie in die Musik, die sich wie ein Paternoster unter ihnen hob und sie mitnahm.

Das Paternoster legte dann mit Aretha Franklin eher noch Schwung zu. Strahlend ihre Rezitative, zart und heroisch über den gravitätischen Bläser-Riffs… Anderl begann, besoffen zu werden. Das war wirksamer als Alkohol mit seinen bescheidenen Innenbewegungen, denn dieser Paternoster lief nur mit dem einen Schwungrad in ihm. Das andere drehte sich draußen und er spürte immer stärker, wie es zog.

Er bekam einen Freudenschreck, als der Discjockey dann Cream auflegte. Anderl zuckte und schielte zum Schmalen, der in Trance, mit hängender Kinnlade, auf die Tanzfläche starrte. Anderl zögerte und wippte, dann war es ihm egal. Allerdings stellte er es reichlich umständlich an, indem er den benommen nickenden Schmalen aufklärte über den versetzten Rhythmus in der Sunshine-Nummer. Er klatschte ihm vor, wie Ginger Baker auf 1 an den Drums schlug, während Bruce und Clapton auf 2 spielten und sangen. 

Zu seinem Entzücken klatschte der Schmale gleich mit und so glitten sie in den Rhythmus, mit den Händen, dem Körper, den Füßen, die in Schritte fielen – sie tanzten, auch der Schmale, mit einem explosiv wachsenden Zutrauen zu dieser Musik, deren Energie ihn jetzt noch stärker traf als Anderl, der schon seit Jahren mit ihr lebte.

Die Tanzfläche nahm sie auf, die sich zu lichten begann, da solch verzinkte Musik wie von Cream auch im Jahre 69 noch wenig Anhänger in Valduns hatte. Als der Discjockey dann verheißungsvoll – Julie Driscoll, Brian Auger and the Trinity! ins Mikrophon flüsterte, wanderten noch mehr Tänzer ab. Anderl freilich hatte das Gefühl, in sein ganz persönliches Wunschkonzert geraten zu sein… das Stakkato der Gitarre setzte ein, sahnig schob sich Orgel darunter und dann die Driscoll. Gedehnt phrasierend sang sie von der Season of a Witch

Die beiden begannen aufzufallen. Es war schon ungewöhnlich in diesem Lokal, dass Jungen miteinander tanzten. Überdies waren sie zu einer Art Ausdruckstanz durchgebrochen und griffen jetzt, wo das große Solo Augers kam, nach den Sternen. Zu der aufregend langsamen Entwicklung der Orgel umkreisten sie sich mit rollenden Hüften und grausamen Gebärden. Irgendwo von rechts kam der Anfeuerungsruf einer Mädchenstimme. Flackernd arbeitete sich endlich das neue Thema durch – djaradii-dimdirididiiii fistelte Anderl mit und brach zuckend in die Knie. Forte-Break, die Nummer nahm wieder Tempo auf, bis zum Anschlag singend legte die Driscoll sich drüber. Anderl und der Schmale tobten in schleifenden Humpelsprüngen quer über die Tanzfläche, vorbei an den ausweichenden Paaren, die nur mehr anstandshalber noch dies und jenes schüttelten, als die Musik abbrach.

„Hallo, stopp, die beiden Herren!“ dröhnte der Discjockey durchs Mikro. Unter Berufung auf die heterosexuelle Tanzstruktur in diesem Lokal forderte er sie auf, die Tanzfläche zu räumen. Sie standen in der Leere, die die abgeschaltete Musik zurückließ, und fühlten sich plötzlich unwohl unter den Blicken des ganzen Lokals.

„Weitermachen!“ rief die Stimme von vorhin, ein scharfer Pfiff ertönte. Anderl sah hinüber, ein blondes Mädchen winkte ihm zu und pfiff noch einmal grell durch die Finger. Der Schmale war zum Discjockey gegangen und redete fuchtelnd auf ihn ein. Plötzlich schnappte er sich das Mikro von der Theke und donnerte hinein:
„O Mensch, gib acht!“
Anderl fuhr herum. Mann, war der Schmale in Fahrt! Er stürzte hinzu. Der Schmale wich dem Zugriff des Plattenmenschen aus und gurrte durch alle Lautsprecher:
„Was spricht die tiefe Mitternacht?“ –
„Ich schlief, ich schlief“, seufzte Anderl als Mitternacht ins Mikro, „aus tiefem Schlaf bin ich erwacht“

Der Discjockey hatte heftig nach hinten gewinkt und schon schob sich ein athletischer Kellner vor die beiden. Teilnahmslos musterte er einen Punkt zwischen ihren Köpfen und fragte, ob die Herren jetzt ihren Tisch aufsuchen wollten? Oder vielleicht nicht?

Sie wollten. Da war der Verdacht, eventuell am Rande des Rausschmisses zu balancieren, doch vor allem hatten die Herren nach all den Aufregungen ein Bedürfnis nach Ruhe. Anderl zog den Schmalen zu einem freien Tisch in der Nähe der Blonden, die vor Lachen über der Schulter ihrer Freundin hing.

Der Athlet war wieder ganz zum Kellner geworden und nahm ihre Bestellung auf. Aus den Boxen knallte Money, was die Tanzfläche füllte und die Aufmerksamkeit schnell von ihnen abzog. Anderl grinste zu dem Mädchen hinüber und rief ihr ein Kompliment über ihre Pfeifkünste zu. Es ging in der Musik unter. Sie hob die Schultern und klopfte einladend neben sich auf die Bank.

Sie zogen um. Anderl setzte sich auf die Bank neben das Mädchen, das sie mit knabenhaftem Kopfrucken begrüßte, der Schmale neben die Freundin, die steinern dreinschaute und ihren Stuhl vom Tisch abrückte. Der Tisch lag offenbar im toten Winkel der Lautsprecher, man konnte sich, ohne zu schreien, verständigen. Das Mädchen beteuerte ihnen, was für eine Gemeinheit das vom Discjockey gewesen sei – „ihr wart mit Abstand die beste Nummer des Abends“. Der Schmale nickte dankend und fragte, ob sie öfters hierher kämen. Nur im Notfall, sagte das Mädchen lächelnd, es sei ihr zu betulich hier.
„Und ihr, seid ihr zum ersten Mal hier?“

Anderl war froh, dass der Kellner mit ihrem Bier kam. Er nahm einen Schluck und bevor diese öden Erkundigungen, die sich wie Mehltau auf seinen Schwung zu legen begannen, weitergingen, sagte er schnell:
„Weißt du, was das Komische bei der Auger-Band ist? Sie heißt doch ‚Brian Auger and the Trinity‘ und dabei besteht sie nur aus Orgelspieler, Gitarrist und Drummer. Ist dir das schon einmal aufgefallen?“ – Das Mädchen verneinte.
„Das ist aber interessant! Wenn zu einer Trinity immer drei gehören, wer ist dann Brian Auger? Oder aber – wenn du Auger als fest annimmst, wer ist dann der dritte Mann der Trinity? Wie erklärst du dir das?“
Das Mädchen klapperte mit den Augendeckeln. „Ich? Keine Ahnung, aber sicher erklärst du es mir gleich“.

Am Rande nahm Anderl wahr, dass sie sich ein bisschen lustig machte. Sie gehörte offenbar nicht zum ortsüblichen schnellverdutzten Typus. Doch ihm ging es jetzt um etwas anderes.
„Es gibt nur eine Erklärung… der Orgelspieler ist eben keine bestimmte Person!“
Der Schmale sah ihn aufmerksam an und unwillkürlich sprach Anderl wieder mehr zu ihm: „Ich halte ihn eher für ein Phantom, das zwischen der Identität Auger und der Identität Trinity beliebig hin und her wechselt, verstehste. Wenn ich es mir recht überlege, wird es wahrscheinlich sächlicher Natur sein, der Vorname Brian soll das wohl nur verschleiern-„
„-kurz?“ warf der Schmale ein.
„Rate mal… das Auger hat todsicher amassanische Züge!“
„Na na na… vielleicht Spurenelemente“, schwächte der Schmale ab, doch seine Augen glitzerten. Sie starrten sich an und Anderl platzte heraus: „Du, spürst du ihn auch?“
Der Schmale nickte fieberhaft. „Und wie! Er ist wieder da!“
„Jetzt plötzlich… dieses Luder!“

Anderl bemerkte, daß das Mädchen zuhörte. Sie sah zwischen ihnen hin und her und fragte: „Was heißt denn das – amassanisch?“
„Ach, das ist so ein Spezialwort“, sagte Anderl abweisend.
„Das ahnte ich“, lächelte sie, „und was bedeutet es?“
Schneller Blickwechsel, Anderl erkannte, dass der Schmale nichts dagegen hatte.
„Nun ja, eigentlich ganz einfach… amassanisch steht für alle Bedeutungen von Hier und dort, teils-teils, weder sowohl – noch als auch…“
„ -und wenn ja, warum nicht!“, ergänzte der Schmale. Das Mädchen lachte. „Das alles heißt es? Ist ja praktisch… und woher kommt das Wort?“
„Das ist nur ein kleiner Teil seiner Bedeutungen“, sagte Anderl gemessen, „und kommen tut es von…Amassa“
„Aha“ machte das Mädchen und zündete sich eine Zigarette an. Sie blies Rauch aus und sah erstaunt Anderl an.
„Und weiter? Tu doch nicht so geheimnisvoll… also gut: wer oder was ist Amassa?“

Erneut holte Anderl sich die stumme Erlaubnis des Schmalen.
„Das ist nicht so einfach, ab und zu ist der Amassa ein Frísör und ab und zu ist er was anderes…“
„ein Kobold oder ein Dämon“, warf der Schmale ein, „von dem nichts anderes bekannt ist, als dass er nicht Amassa heißt“
Unter ihren lauernden Blicken zog das Mädchen an der Zigarette. Schließlich sagte sie tastend:
„Hm…bisschen dünn, nicht?“
Anderl war entzückt „Genau, sehr gut gesehen“, jodelte er, „man kann sagen, er ist einer der dünnsten Dämonen überhaupt!“
Das Mädchen lachte. Die beiden musterten sie voll Anerkennung. Sie lachte noch mehr.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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