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Helmuth Schönauer
Flachgepflegt
Short Story

„Dieser Baum hier liegt seit einer Woche mit zusammengebundenen Ästen am Tieflader. Er ist einfach fertig. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Woche lang im Bett gelegen, was meinen Sie, wie Sie da ausschauen beim Aufstehen?“
Wie jedes Jahr ist auch im Seuchenjahr ein ramponierter Baum nach Wien geschickt worden, um ihn vor dem Rathaus als sogenannten Christbaum aufzustellen.

Unter den Bundesländern ist längst ein Wettbewerb ausgebrochen, wer den Wienern einen besonders hässlichen Baum andrehen kann. Die Oberösterreicher sind heuer sehr erfolgreich, was kaputte Bäume betrifft. Irgendwo hinter Aigen-Schlögl haben sie einen besonders vom Leben gezeichneten Nadelbaum gefunden, der den Wienern nun als Mahnmal dienen soll, nicht als Freude.
Dem Weihnachtsbaum wird naturgemäß nicht nur ein Förster beigestellt, der das Aufstellen des Christbaums in der urbanen Vegetation überwacht, zusätzlich ist auch ein Waldpsychologe dabei, der den Baum beruhigt und ihn mit dem neuen Publikum in Kontakt bringt.

Die Wiener nämlich kotzen jedes mal und würgen abwertendes Wortmaterial aus ihren feinen Goscherln, wenn sie den Baum zum ersten mal sehen. Wenn der im Liegen schon so grausig ist, wie wird er erst im Stehen ausschauen! Der Waldpsychologe mahnt Geduld und Optimismus ein: Wenn wir nicht bald etwas gegen den Klimawandel tun, werden wir die Bäume liegend umarmen müssen. Wenn es so weitergeht, werden wir die Wälder nur mehr mit Maske betreten dürfen. Wenn ein Baum stirbt, werden wir uns nicht mehr von ihm verabschieden können. Wir werden einsam sterben wie die Bäume, da können wir Lichter auf den Rathausbaum stecken wie wir wollen, wir kriegen ihn nicht mehr zum Atmen.

Der mitgereiste Förster will auch etwas sagen, aber er wird ausgepfiffen. Längst nämlich unterscheidet man hier im aufgeklärten Wien zwischen guten Förstern, das sind die von den Bundesforsten, und schlechten, das sind solche im Dienst eines Grafen. Die arme Sau von heute ist völlig fertig, als er ausgepfiffen wird. Es kursiert nämlich das Gerücht, dass er bei einem Kloster angestellt sein soll.
Tatsächlich taucht rechtzeitig, bevor die Hydraulik des Krans ins Werkeln kommt, ein Bescheid auf, wonach heuer wegen der allgemeinen Krise und dem Zustand der Welt kein Baum aufgestellt werden darf. Der Liegebaum muss bis Dreikönig vor dem Rathaus dahindämmern, ehe man ihn im neuen Jahr wieder nach Oberösterreich zurückschickt, wo er in einem Hochofen entsorgt wird.

Nach dem Bild mit dem Hochofen nimmt auch diese Short Story hier ein unerwartetes Ende. Freilich trägt sie einen Makel: Sie ist selbst bei enger Auslegung des Genres einfach zu kurz.

Der Schreiber der kleinen Geschichte ist ein pensionierter Bibliothekar, der mit seinen Kindern vereinbart hat, dass er jeden Monat einen kleinen fiktionalen Text abliefert, damit sie sehen, ob er schon ins Altersheim muss. Die Kinder verrichten ihre Arbeit im psychologisch-soziologischen Bereich lege artis, sie sind also in der Lage, den Alterungsvorgang zu beobachten und rechtzeitig in Form eines Heimplatzes einzuschreiten.

Es dauert nicht lange, da schreiben die Kinder zurück, dass die Geschichte mit dem liegenden Weihnachtsbaum zu kurz ist und außerdem nicht stimmt. Papa, du musst im File etwas Echt-Erlebtes hinzufügen, eine Short Story besteht nämlich aus allgemeinem Bild und persönlichem Empfinden, das solltest du doch wissen! So können wir es nicht gelten lassen, weil wir ja nichts von deiner Psyche wissen.

Da fällt dem Bibliothekar ein, dass er letzte Woche in die Notaufnahme der Urologie gekommen ist und eine Woche in der Klinik gelegen hat. Allmählich fallen ihm wieder Sätze ein, die er sich von diesem Aufenthalt merken wollte.

In der Notaufnahme herrscht absolute Stille, weil das Hauptgeräusch des Menschen, das Urinieren, zum Stillstand gekommen ist. Hier herrscht genereller Blasen-Lockdown. Hinter diversen Vorhängen werden die Angelieferten erstversorgt, indem man sie der Reihe nach anzapft und ihnen so Erleichterung verschafft. Alle sind kooperativ wie der Autohändler im Desasterfilm Fargo, der ständig auf seinen Kooperationswillen hinweist. Das Personal weiß, dass vor allem die Männer lammfromm sind, wenn man ihnen das Pipi nimmt. Einen schickt man probehalber auf die Klomuschel, aber er ist sehr ungeduldig und bringt nichts zusammen. „Bleib sitzen, die Blase ist weiblich!“ ruft ihm eine Ärztin zu.

Nach einer Notaufnahme ist das Zeitgefühl ein verändertes, meist geht es verloren wie der Geschmackssinn bei einer Seuchenattacke. Im Zeitlosen liegend merkt der Bibliothekar, dass alle Sätze eine neue Bedeutung haben. Aus einer kleinen Narkose erwachend hört er oberhalb des Kopfes Stimmen, die von einem Mountainbike-Ausflug erzählen. „Oben angekommen, hatte ich eine so starke Erektion, dass ich mich nicht mehr auf den Sattel setzen konnte. Ich habe das Genital massiert und mit ihm geschumpfen, aber es war kein Nachlassen. Ich musste des Bike den Weg hinunter schieben, bei vollem Gelächter jener, die sich gerade auf der Aufwärtsspur in die Höhe quälten.“

Solche Sätze nach einer Narkose stellen einen ähnlich abgekoppelten Sinn her, wie er beim Betrachten einer auf Stumm geschalteten Fernseh-Sequenz entsteht. Im Zimmer liegend starrt der Bibliothekar auf das Display an der Wand, auf dem Tirol heute herunter flimmert. Niemand hat die Kopfhörer auf, weil alle auch ohne Ton wissen, dass in Tirol nichts passiert. Außer dass am Schluss das Wetter kommt.

Ohne Pipi ist auch das schönste Wetter wertlos, klagt einer.

Alles in allem ist in dieser Woche ein Sinn-Überschuss entstanden, fasst der Erzähler seine Woche auf der Blasenstation zusammen und beendet die Short Story.

Die Kinder schreiben zurück, dass die Geschichte nicht aufregend, aber immerhin persönlich ist. Gemessen am Altersheim jedoch ist das Leben des Vaters noch aufregend genug, um ihn selbständig in seiner Wohnung zu belassen.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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