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Markus Fenner
Amassas Zeit
7. Folge
Speisesaal 1

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Der Speisesaal, den sich die Siebte mit den zwei sechsten Klassen teilen musste, war ein hoher und mit drei Reihen von langen Tischen etwas überfüllter Raum. Die Reihe am Fenster galt als die beste, aus nicht ganz erfindlichen Gründen, da der Blick nach draußen durch Milchglas Einsätze in den Scheiben verwehrt war. Allerdings waren hier die Vorhänge, die traditionell als Servietten benutzt wurden, in angenehmer Reichweite.

In der Fensterreihe, die der Siebten vorbehalten war, hatte Hugo mit Anderl und dem Schmalen seinen Platz am Tisch vor dem leeren Podest. Dort hatte in früheren Zeiten ein Präfekt am Pult gestanden und den unter strengem Stillschweigen schmausenden Zöglingen vorgelesen. Damals war ihnen noch von Saaldienern am Tisch serviert worden, heutigen Tags schob Fussi, der alte Küchendiener, nur mehr den mannshohen Essenswagen, beladen mit Geschirr und zerbeulten Metallschüsseln, in den Saal und die Zöglinge bedienten sich selbst, unbeaufsichtigt und mit entsprechendem Gelärme.

Das Stimmengewirr im Raum war beherrscht von einem Thema und Hugo wandelte plötzlich Sehnsucht nach den alten Speisesaal-Zeiten mit ihrem Stillschweigen an, trotz der erbaulichen Geschichte, die man dazu hätte über sich ergehen lassen müssen; eine Ketzerei, mit der er, von Anderl abgesehen, der unbeteiligt seine Suppe schlappte, in der Tischrunde sicherlich alleinstand.

Der Schmale war heute ins Gespräch vertieft mit Prim und Prol, dem unzertrennlichen, dem Zehnkampf verschworenen Sportler-Gespann, und kaute mit ihnen noch einmal die letzten Gerüchte durch. Götz bezeichnete sie als haltlosen Klatsch und verwies auf Samy und die Spezial-Informationen, die dieser eben bei den Exzellenzen einholte.

Als Samy dann kam, war man schon beim Burgunderbraten, einem der anerkannt besten Gerichte im Internats-Speisezettel. Samys bräunliche und unregelmäßige Züge, die auf unerklärliche Weise zu einem bezwingenden Zauber zusammenspielten, trugen immer noch die ernste Miene, die Augenbrauen, deren linke normalerweise amüsiert über der Nickelbrille schwebte, waren düster gerunzelt.

Als er endlich Platz genommen hatte, machte er Anstalten, schweigend und abwesend seine Suppe zu löffeln. Damit kam er natürlich nicht durch. Es war wohl auch nicht ganz ernst gemeint gewesen, denn er rückte dann brav und vollständig heraus mit dem Allerneuesten.

Der Besitzer der Phantombeine am Geländer war der lange Culk; das hatte man vermuten können, doch tat es gut, es bestätigt zu bekommen. Culk sei übrigens nahe daran gewesen, sich zu stellen, um den Freund wenigstens darin zu entlasten, doch das habe der Pekoy ihm ausgeredet – wie das? 

Jaha, den Gefahren zum Trotz, hätten sich die beiden noch einmal getroffen, während der großen Pause im Klo, und da sei dem Culk vom Freund, der bereits zu den Schatten gehörte, der gemeinsame Untergang ausgeredet worden; ersichtlich begann Samy sich für seine Erzählung zu erwärmen.

Stattdessen habe der Culk einen Auftrag erhalten. Es gebe da nämlich ein Mädchen…

Als jetzt die Sache mit der Welpin kam, vernachlässigten auch Prim und Prol, für die Essen eine ernste Sache war, ihr Rindfleisch in Weinsoße. Samy erzählte von „Maria ruft Joseph“ und der Übergabe des Walkie-Talkies an Culk, kurz bevor der Pekoy von zwei Präfekten an den Bahnhof eskortiert worden sei. Um zwei Uhr, der gewohnten Sendezeit, nicht wahr, sollte Culk vom Klo im Studienflügel aus das ahnungslose Mädchen anfunken, mit der letzten Nachricht vom Pekoy, der sich inzwischen unaufhaltsam Salzburg näherte…

Ergriffenes Schweigen am Tisch. Prim (Stärke: technische Disziplinen) langte über sich in die nur seinen langen Armen vorbehaltene Region des Vorhangs. Versonnen wischte er seine fettigen Finger und sagte aus tiefsten Herzen:
„Booh, das ist was! – Nimm deine schmutzigen Löffel zurück!“
Das galt einem neugierig gewordenen Sechstklässler aus der Nebenreihe, der sich immer näher herangelehnt hatte. Prol (Stärke: Sprint und Weitsprung) sah Samy erregt an, die Sommersprossen in seinem kantigen Tiroler Gesicht glühten.
„Und? Tut ers?“
„Wenn er kein Feigling ist“, schnaubte der Schmale, „ist doch Ehrensache!“

Hugo, der, still fressend, sein Inneres mit ‚Tristan‘ gegen dieses Pekoy-Memorial abschottete, wurde, mitten im Aufrauschen des Vorspiels 3. Akt, jetzt doch stutzig. Irritiert musterte er den Schmalen, suchte dann Hilfe bei Anderl. Doch der war gerade dabei, ein Fleischstück von Prols Teller zu klauen. Prol war völlig abgelenkt, er nickte dem Schmalen heftig zu und stieß in seiner explosiven Art hervor: „Also, ich täts… auf jeden Fall…Maria ruft Joseph, Wahnsinn!“ Er wurde träumerisch: „Ob der Culk sich auch mit ihr verabredet?“
„Mensch, um sowas gehts doch gar nicht!“, wehrte der Schmale ab. Jetzt merkte auch Anderl auf, der das erbeutete Fleisch im Mund verstaut hatte. Stirnrunzelnd sah er zu Hugo, der mit den Achseln zuckte.
„Es ist sowas wie ein Vermächtnis“, sagte Samy feierlich, allerdings war dabei seine linke Augenbraue wieder auf dem Weg nach oben. Anderl kicherte mit vollem Mund: „Wie der letzte Funkspruch von der Titanic… Mayday, Mayday, wir hören auf zu senden!“

Der Schmale, der systematisch eine Kartoffel auf seinem Teller zerdrückte, murrte: „Ach, lass das doch!“
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Hugo leise über den Tisch. Der Schmale starrte verbissen vor sich hin und machte Matsch aus der Kartoffel.
„Mit mir? Nix ist los, gar nix!“ Klirrend warf er die Gabel auf den Teller und wandte sich an alle: „Das ist es ja. Ich sitz hier, verhalt mich ruhig und so weiter bis zur Matura. Wisst ihr, wie dieser Rausschmiss mir vorkommt? Die einzige anständige Art, die Regina zu verlassen!“

Das Schweigen am Tisch zeigte, daß das ins Schwarze getroffen war. Anderl freilich errötete vor Ärger. Ein vorwurfsvoller Blick traf Hugo. Als ob er dafür konnte; jetzt griff das ganze Theater auch auf den Schmalen über; das hätte man sich ja denken können, der mit seiner… Weltoffenheit!

Hugo wurde plötzlich bewusst, daß der Schmale ja eigentlich von dort kam, wo der Pekoy jetzt hinstrebte; mit kaum siebzehn von zu Hause abgehaut; um Reporter zu werden, Schriftsteller, ein ganzer Mann und wie die Hemingway-Schweinereien noch hießen; auch wenn es dann nur zum Gehilfen seines Onkels, einem Käseblatt-Herausgeber in einem oberösterreichischen Kaff gereicht hatte.

Hugo machte sich klar, daß es letztlich nur die Krankheit war, für ihn ohnehin das einzig sympathische Ereignis im Vorleben des Schmalen, das den Freund hier am Tisch sitzen ließ. Eine schwere Rippenfell- und Lungenentzündung, durch einen ordinären Vollrausch in einer Frostnacht im Freien eingefangen, hatte ihn todkrank wieder unter die Obhut seiner Mama und später an die Regina geraten lassen; sonst würde der Schmale sich vielleicht immer noch draußen in der weiten Welt seinen amerikanischen Instinkten überlassen; jedenfalls war er ziemlich anfällig für derartiges, wie man jetzt sah!

Ein schwerer Anfall von Weltoffenheit, dachte Hugo und schnitt eine abwehrende Grimasse, weil Anderl ihn immer noch anstarrte, als ob er daran schuld sei. Anderl blies die Lippen auf und sagte gedehnt:
„Klar, sowas ist schon was fürs Herzerl… nächtliches Abenteuer, ein Mädchen, zwei Freunde… dazu auch noch etwas Heroismus… Pekoy, der Ritter von der Eisensäule, der Kurzwellen-Tristan!“
„Du hast insofern recht“ schaltete sich Götz ein, der bisher in seiner nachdrücklichen Art geschwiegen hatte und jetzt mühelos die aufkommende Entrüstung am Tisch erstickte, „das wird schon wieder eine Legende. Typisch Internatsmilieu, typisch für uns. Wir sind ohnmächtig und wenn eine Sauerei passiert, sublimieren wir und schmücken es zur Geschichte aus“.

Anderl klapperte mit den Augendeckeln. „Du liebe Zeit, ein grässliches Missverständnis! Ich hab überhaupt nichts gegen Geschichten, nur gegen diese eben. Ich mach mir einfach nichts aus Schulbuben-Romantik!“
Der Schmale lief rot an und rief wuterstickt: „Ach, das sagt sich so leicht! Und was hast du dagegenzusetzen? Nix als unsere Schulbuben-Bravheit!“
Prol nickte, daß eine Gehirnerschütterung zu befürchten war. „Genau, machen wir uns doch nichts vor“, sagte er zwischen den Zähnen.
Anderl winkte ab. „Das mein ich doch gerade… bös und mutig, brav und feig. Das ist alles Schulbuben-Ebene, das sind Sandkastenformen“.

Samy lachte und Anderl setzte befeuert fort, wobei er geflissentlich am Schmalen vorbei sah: „Macht doch nicht so viel Trara um die Sache… was passiert denn schon groß? Tragischer Held Pekoy kommt nach Hause, kriegt etwas Krach mit seinen Eltern, macht die Matura eben an der Staatsschule, wo sie eh leichter ist. Im Studium gibt er schon damit an, daß die Jesuiten ihn geschasst haben, sowas ist äußerst dekorativ und spätestens zum 10. Matura-Jubiläum ist er wieder hier, wie sie zum Schluss alle wieder hier sind, an der alten Regina. Dann steht er wieder an der alten Eisensäule, zusammen mit dem alten Culk…weißt du noch?…Ein Händedruck…“
„Scheu, aber schwielig!“ warf Hugo ein, der sich schon viel besser fühlte.
„ausgesprochen schwielig…und beim geselligen Zusammensein stößt er mit dem Preßkopf auf die alten Zeiten an…na gut, ist ja nett, irgendwo rührend, aber ich finds auch ziemlich langweilig, tut mir leid“.

Alles völlig überrollt, stellte Hugo entzückt fest. Bei Prim, der kopfschüttelnd den von der Obrigkeit bislang nicht abgetriebenen Embryo eines Schnauzers auf seiner Oberlippe befingerte, überraschte das nicht; ebenso wenig bei Prol, der hilfesuchend auf Samy blickte. Doch dieser beschäftigte sich nachdenklich mit seinem Rindfleisch. Vom Schmalen, der doch das Ziel von Anderls Vorstoß war, da war sich Hugo sicher, kam keine Reaktion. Er pürierte mit sturem Gesicht eine weitere Kartoffel. Es war Götz, der den Gegenschlag führte.

„Na, wenn das keine geschmäcklerische Haltung ist“, sagte er langsam und beugte sich vor, Anderl scharf von unten herauf fixierend. Hugo hatte eine plötzliche Erleuchtung, warum ihm Götzens Visage immer so nackt vorkam. In dieses breitflächige Gesicht mit der feinen scharfen Nase gehörte unbedingt eine Brille. Mit der hätte Götz Anderl jetzt anfunkeln können, als er nach einer seiner strengen Kunstpausen sagte:
„Du argumentierst, als sei der Rausschmiss des Kollegen Pekoy nur ein ästhetisches Problem, als ob er, bitte, ich spitz das jetzt zu, nur zu deiner Unterhaltung geflogen sei“
„Gar nicht zugespitzt“ versicherte Anderl, „das ist schon so. Mir persönlich dient der gute Pekoy nur zur Unterhaltung. Ich kenn den Knaben ja nicht, was soll mich an seinem Abgang sonst noch interessieren?“
„Du könntest dich, zum Beispiel, aufregen“, schlug Samy kauend vor.
„Na, ich finds nicht besonders aufregend!“
„Nein, dich aufregen im Sinne von empören, entrüsten, betroffen sein“, sagte Samy mit zuckenden Mundwinkeln. Hugo sah mit leisem Erstaunen, daß Anderl sich jetzt tatsächlich aufregte.

„Ach, mich empören? So allgemein menschlich, was?“, krähte er erbittert. Und worüber bitte? Daß man als Jesuitenknecht nicht auf Faschingsbälle darf… daß man beim S-s-sackhüpfen nun mal nicht die B-b-beine frei hat?“
Wie immer, wenn er hitzig wurde, verstärkte sich sein sonst eher ungreifbares Stottern. Samy hatte das Besteck weggelegt, den hässlichschönen Kopf in die Hand gestützt, sah er Anderl unverwandt an.
„Dir kommt das wie Sackhüpfen vor, unser Leben hier?“
„Klar, ist doch ein treffendes Bild, stört es dich?“
„Im Gegenteil, wenn ich es bedenke, erinnert mich auch einiges daran“, sagte Samy sanft. Anderl fuchtelte: „Nichts gegen Sackhüpfen! Es hat wenigstens ´ne gewisse Tendenz zur Wahrheit“

Hugo fühlte sich jetzt so wohl, daß er das Bedürfnis nach einer weiteren Zuspitzung empfand. Er hustete ab und warf mit gut vorn sitzender Stimme ein: „Ich persönlich unterstütze jedes System, das den Besuch von Faschingsbällen verhindert!“
Der Schmale ruckte, seine verbockte Miene zerbröckelte und wurde von einer Woge saftigen Gelächters weggespült. „Huhu… Huugo“ wieherte er und steckte die Runde an. Sogar Götz entglitt ein Grinsen, das er zur Grimasse verwandelte, während er dem imaginären Protokollführer, der selten von seiner Seite wich, diktierte: „Der gute Hugo hat schon eine rabiate Art, seine Verklemmungen zum Weltgesetz zu erheben“.
„Genau, gut gesagt“, rief Anderl erfreut, „übrigens finde ich, ist es noch das Klügste, was man tun kann“.

Götz fixierte streng und leidend einen Punkt auf der Wachstischdecke. „Du wolltest wohl sagen, das Bequemste!“
„Findest du wirklich?“, fragte Anderl überrascht, „dazu gehört doch Mut! Jedenfalls mehr Mut, als demütig anzuerkennen, was für ein verklemmtes Würstchen man ist.“

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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