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Helmuth Schönauer
Sozialkantine
Short Story

„Eine Liebesgeschichte, bei der ich nicht wixen muss, interessiert mich nicht.“

„Aber das verwechselst du sicher mit dem Porno.“
 „Wo ist da der Unterschied? Geil ist geil!“

Seit das Sozialzentrum wieder geöffnet ist, sieht man erst, wie die Seuche gewütet hat. Obwohl nur mehr die Hälfte der Tische von früher aufgestellt ist, ist auch diese Hälfte nur zur Hälfte besetzt. Das gibt selbst jenen Menschen zu denken, die beim Bruchrechnen nicht fit sind und zu allem Hälfte sagen, was irgendwie weniger ist als das Ganze.

Seit ein paar Tagen ist auch Alkohol wieder erlaubt, aber das treibt noch niemanden ins Freie, wenn zu Hause das Trinken unauffällig und kommod abgewickelt werden kann.

Freilich ist es mit der Zeit uninteressant, wenn du allein zu Hause trinkst und dich niemand sieht. Es ist wie mit dem Krankenstand in Rente, es ist der Gesellschaft egal, ob du mit oder ohne Fieber deinem Ende entgegen liegst.

Im Sozialzentrum sind heute nur die Hardcore-Tische besetzt, das reicht gerade, um ein paar kurze Sätze abzuwickeln, für ein echtes Gespräch sind einfach zu wenig Leute da.

„Ich bin heute nur wegen des Datums in die Bude gegangen, weil dieses einfach zu merken ist. Und wenn ich heute jemanden kennenlernen würde, könnte ich mir das Datum leicht merken und beispielsweise in einem Jahr ein Geschenk für sie besorgen.“

Der Rentner mit dem Datums-Tick hat ein ungebügeltes Polohemd an, was für andere zum Markenzeichen wird. Während er vom Datum redet, das man sich leicht merken kann, reden die anderen vom ungebügelten Hemd, das den Träger unverwechselbar macht.

Und alle wollen jeweils etwas vom anderen Geschlecht kennenlernen, wenn es geht. Nach der Seuche nämlich weiß niemand mehr, wie so ein anderes Geschlecht aussieht.

Ein paar sind mit dem Lesen von Liebesgeschichten über die Runden gekommen, aber die meisten mussten was trinken, um überhaupt den Hauch einer Sehnsucht für das andere Geschlecht zu entwickeln.

„Was ich in der Liebe eingespart habe, so ein Geschlechtsverkehr kostet ja auch bei gegenseitigem Einvernehmen eine Menge, habe ich beim Trinken wieder hinausgepudert!“

Nicht nur die Sehnsucht hat sich in der Seuche zurückentwickelt auf Schifahren und Trinken, auch die Sprache ist ziemlich humorlos geworden. Und seit man sogar Witze gendern muss, lacht niemand mehr.

„Würdest du bei so was lachen? – Sagt eine zu einem und einer zu einer!“
„Ich wüsste nicht, ob ich hahaha oder hohoho lachen müsste, weil ich ja das Geschlecht des Witzes nicht erkenne.“

Jetzt geht die Sozialarbeiterin durch die ausgedünnten Tischreihen und fragt, ob es passt. Niemand weiß aber, was darunter zu verstehen ist. Die meisten sind schon froh, dass sie irgendwo an einem Zweiertisch sitzen, wo das Gegenüber etwas sagt, das wie Satzteile klingt.

Unauffällig schaut die Sozialarbeiterin, ob vor allem die Männer beide Hände auf der Tischplatte liegen haben, damit sich nicht etwas Grauenhaftes unter der Tischkante abspielt.

Prophylaktisch haben sich aber die Männer zu den Männern gehockt und die Frauen zu den Frauen. Und ab und zu schreit jemand über den Geschlechter-Gap hinweg, ob der oder die schon gestorben sei.

Die Sozialarbeiterin hat eine Liste mit den Verstorbenen bei sich, wenn jemand spontan was wissen oder trauern will, kann sie die Sterbedaten durchgeben. Dritte Welle, vor Weihnachten, nach dem Fall des jungen Bundeskanzlers. Mehr weiß auch sie nicht.

In der Hauptsache sitzen die Besucher da und ringen um ein Thema. Da sich niemand für was anderes als die jeweils eigenen Themen interessiert, gibt es auch kaum etwas wie einen Gedankenaustausch.

Einmal kommt einer herein und fragt, ob das die Kantine sei?
Ja, die Sozialkantine, schreien ein paar erfreut und froh, nichts anderes reden zu müssen. Aber der Spontangast liegt falsch, die echte Kantine liegt ums Eck, das hier ist die Sozialkantine.

Ob es in der echten Kantine auch so trostlos zugeht wie in der sozialen?
Ein paar packen ihre Mäntel und gehen dem Fragenden nach. Die Übriggebliebenen fühlen sich in eine missratene Liebesgeschichte versetzt, in der man ja auch vermutet, dass es woanders schöner ist.

Die Seuche hat ordentlich Spuren hinterlassen, niemand weiß mehr, wie man reden soll. Und selbst die, die unverblümt auf einen sexuellen Notstand hinweisen, wissen nicht, wie sie das formulieren.

Die Sozialarbeiterin wird gefragt, ob es Sextherapie auf Krankenschein gibt, zumindest Verbalsex, wenn der andere schon nicht mehr virulent ist. Aber das Thema steht erst in der übernächsten Woche auf dem Programm.

„Jetzt müssen wir einmal schauen, wer noch am Leben ist und wer etwas zum Trinken braucht. Später kümmern wir uns dann um den Sex, der nach meiner persönlichen Einschätzung bei weitem nicht das bringt, als was er angesehen wird.“

Eine Frau, die einzeln am Tisch sitzt, schreit plötzlich ganz laut, dass sie einsam ist. Die Sozialarbeiterin gibt ihr fürs erste eine Spritze und fragt dann einen ehemaligen Bibliothekar, ob er sich einen Sprung zu ihr setzen könnte. Vielleicht könnte er erzählen, wie die Einsamkeit in der Literatur behandelt wird.

Der Bibliothekar erzählt in kurzen Sätzen die Erzählung „Amras“ von Thomas Bernhard in eigenen Worten. Vor allem das Wort „Tiroler Epilepsie“ erwähnt er mehrmals in der Hoffnung, die Frau könnte interessieren, was das ist. Aber diese sagt auf Nachfrage nicht einmal ihren Namen, sodass der Bibliothekar in die Offensive geht und sagt, die Brüder, die sich in der Erzählung umbringen, heißen Walter und K., er ist der Ich-Erzähler.

„Verstehen Sie? Der Erzähler ist wie Sie, er sagt seinen Namen nicht, nur K.. Das ist wie bei Ihnen, nur dass sie eine Frau sind.“ „Dann nennen Sie mich halt F. wie Frau!“ sagt die Frau, die damit ihr Wörterpensum für diese Woche aufgebraucht hat.

Der Bibliothekar sieht, dass ihre Nippel nach innen gekehrt sind und dass jegliche Kommunikation sinnlos ist. Es gibt emotionale Lagen, da ist selbst die Literatur machtlos, wie wohl diese nur aus Emotion besteht.

Das Publikum dieses ersten Treffens nach der Seuche bricht allmählich auf. Nicht alle machen den Eindruck, als ob sie jetzt besser beisammen wären als vor dem Treffen. Viele Männer wollen nach dieser Sitzung auf längere Zeit keine Frau, viele Frauen keinen Mann.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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