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Markus Fenner
Prinz Anna
Short Story

Alle Kinder saugen die Märchen in sich ein, doch tun sie es auf sehr unterschiedliche Weise: die Buben sehen sich als die Prinzen, die Mädchen als die Prinzessinnen. Ausnahmen kommen allerdings auch vor.

Anna hatte es als Kind immer mit den Prinzen gehalten, die mit Zauberern, Riesen oder Dornenhecken kämpfen und die Prinzessinnen nur als Zugabe ihres Sieges erleben. Die Rolle der Prinzessinnen, in hohen Türmen aufbewahrt und ausschließlich mit Warten auf die Prinzen beschäftigt, war ihr immer reichlich dünn erschienen. Offenbar hat sich diese Verkehrung des herkömmlichen Unterschieds tief in ihr abgelagert. Wie nachhaltig das war, zeigte sich, als die Sache mit Toni begann.

Anna hatte Toni noch vor ihrem siebzehnten Geburtstag kennengelernt. Sie hatte ihn sofort interessanter gefunden als die Jungen, die sie bislang kannte. Die waren ihr alle ungefähr ähnlich erschienen. Toni war unähnlich. Es war schon nicht peinlich, ihn ihrer Mutter vorzustellen, und das lag nicht nur daran, dass er schon Primaner war und kurz vor der Matura stand. Toni war anders. Er knutschte auch anders, als Anna es gewohnt war. Er hielt sich nicht an den Kodex, der für Anna unumstößlich war: Küssen als das Wichtigste, dazu diverses Anfassen, Außenseite Schenkel, Oberkörper mit Aussparungen – das war erlaubt, das war allgemein gängig unter den Mittelstandstöchtern der österreichischen Kleinstadt, damals in den Sechzigern. Ausnahmebereich war der Busen, ein unter Umständen noch regelrechter Exzess.

Toni scherte sich nicht um den Kodex. Er unterließ es, sanft und langwierig die Erlaubnis für derartiges zu erarbeiten. Er neigte zu völlig abseitigen Überschreitungen. Er konnte die verweigerte Erlaubnis einfach ignorieren und seine weggestoßene Hand wieder zurückschieben. Er brachte sogar etwas ins Spiel, das es ja noch nie gegeben hatte. „Bist du verrückt?“, keuchte Anna und rollte von seinem wühlenden Körper weg. Er sackte dann auch nicht weich und schmeichelnd zurück, um wieder ganz von vorne zu beginnen. Toni stand auf. Sie hatten auf dem Bett in Annas Zimmer gelegen und Platten gehört. Er ging ans Fenster und war ganz verfinstert. Sie fürchtete schon, dass er gehen würde.

Das war alles recht unähnlich. Sie wurde zwar unwillig, wenn es sich wiederholte, doch sie war nicht wirklich davon abgestoßen. Für sie hing das mit jenem Stückchen zusammen, um das er eben interessanter war als die anderen. Er war selbstbewusster, bei ihm spürte sie einen stärkeren Druck. Sie warf es ihm nicht vor. Trotzdem war es sein Problem. Es ging sie nichts an. Sie war immerhin noch nicht mal siebzehn und wusste nicht einmal, ob sie in ihn verliebt war. Sie wusste auch nicht, ob er in sie verliebt war.

So richtig begann es damit, dass sie mitten in der Nacht aufgewacht war, weil sie ein Geräusch an ihrem offenen Fenster gehört hatte. Langsam zu Bewusstsein kommend, erschien ihr das dann eher unwahrscheinlich. Das Fenster lag fünf Meter über dem Erdboden. Dann kam es wieder, ein Grunzen und Keuchen, dazu ein Scharren. Sie tastete nach dem Schalter ihr Nachttischlampe. Jetzt stieg die Angst in ihr hoch. Als das Licht anging, sah sie tatsächlich etwas auf dem Fensterbrett. Zwei Hände, ein Ellbogen und darüber das verzerrte Gesicht von Toni, der mit wildem Scharren an der Hauswand den Oberkörper übers Brett wuchtete und kopfvoran ins Zimmer plumpste.

Keuchend blieb er liegen. Anna saß aufrecht im Bett und erlebte zum ersten Mal, dass man tatsächlich „wie gelähmt“ sein konnte. Nicht Angst war die Ursache, es war Staunen und noch etwas anderes, eine Kälte, die über sie kam. Sie fühlte, wie sie ganz kühl wurde. Ihr Herz klopfte heftig. Plötzlich setzte es einen Schlag aus und schlug anders weiter, langsam und schwer. Toni rappelte sich hoch und stammelte flüsternd, nicht schreien, sie solle nicht schreien. Jetzt konnte Anna sich wieder bewegen. Sie stieg aus dem Bett und ging zur Tür. Er stammelte fieberhaft, keine Angst, nur keine Angst, er wolle nur reden mit ihr, nur reden! –
Er wurde richtig laut. Anna machte Pssst und drehte den Schlüssel herum. Toni war still.

Er stand mit klappernden Zähnen am Fenster und starrte sie fassungslos an. Sie ging zu ihm, sie führte ihn zum Bett und drängte ihn hinein. Sie zog ihm die Schuhe aus und betastete den Knöchel, den er sich an der Hauswand aufgeschürft hatte. Sie gab ihm von der warmen Limo auf dem Nachttisch zu trinken. Sie empfand nun sehr stark, dass sie nur den dünnen Hänger anhatte, doch entschlossen legte sie sich neben ihn. Sie küsste ihn, was nicht einfach war mit seinen klappernden Zähnen. Toni schlotterte am ganzen Leib. Sie presste sich an ihn, zog die Bettdecke über sie beide. Seltsam war es, wie ihr schmaler straffer Körper sich veränderte. Sie fühlte, wie er sich in etwas Weiches und Breites verwandelte, an dem Toni ruhiger wurde.

Abgerissen sprach er davon, wie er an der Regenrinne herauf sei, dann auf Spalierhaken hinüber zum Fenster, der eine sei ausgebrochen, er habe sich noch am Fensterbrett festhalten können. Mit Pausen, die immer länger wurden, erzählte er, dass er sich schon um Mitternacht aufs Grundstück geschlichen hatte und wieder geflohen sei, von seinem Gewaltmarsch durch die Stadt, ohne dass es etwas geholfen habe. So sei er zurückgekommen…

Er lag in ihrem Arm und sprach zutraulich von diesen Dingen, die nun Anna allerdings etwas angingen. Sie hörte ihm zu, seinen Körper streichelnd und erkundend, der sie nun ebenfalls etwas anging. Er ließ das weich und still mit sich geschehen.

Er war wie ein Kind und zwar ein sehr müdes. Er sprach dann immer weniger, als ob auch Reden schon zu viel wäre. Anna leuchtete das ein. Er seufzte noch, dass es jetzt gut sei, jetzt sei es ganz gut, und dann war er wohl eingeschlafen. Es wurde allmählich Tag. Toni fuhr hoch und war schuldbewusst, worüber sie küssend und streichelnd ihn beruhigte. Sie sagte ihm, dass er jetzt aber doch gehen müsse, es werde zu hell. Folgsam setzte er sich auf und zog seine Schuhe an. Anna drängte zur Eile, sie hatte Angst, dass etwas dazwischen kommen könne. An der Küchentür zögerte er, sah sie fragend an. Sie küsste ihn: er werde von ihr hören. Er trollte sich durch den Garten davon, in dem die Vögel schon spektakelten. Sie huschte in ihr Zimmer und war froh, dass sie jetzt allein sein konnte.

Sie lehnte sich aus dem Fenster und sah es sich an. Schräg unter ihr das Loch in der Wand, wo der Haken ausgebrochen war. Und dann fünf Meter hinab auf die Kellertreppe. Das war natürlich beachtlich. Doch viel beachtlicher war, dass man auf diesem Weg zwar hinaufkam, aber unmöglich wieder hinunter konnte. Es war tatsächlich ein „Alles oder nichts“-Weg. So etwas kam eigentlich nur in Heimatromanen vor. Doch das gab es also wirklich. Wer hier heraufkletterte, war ein Held. Das war also möglich…

Wieder fühlte sie, wie die Kühle über sie kam und in einer scharfen Helligkeit durchschaute sie bis in die Einzelheiten, wie es für Toni gewesen sein musste, all die quälenden Stunden bis hin zum letzten Zeitschinden vor der Regenrinne. Sie verstand, wie die Angst, es zu tun, dann immer schwächer geworden war vor der anderen Angst. Der Angst, klein beizugeben. Und damit die erste große Chance im Leben zu verpassen, die unwiederbringliche Chance, zu zeigen, wer man ist.
Sie sah das, sie fühlte das, als ob sie selbst es erlebt hätte. Es war aber Toni gewesen. Das gab ihr einen scharfen Stich. Warum er, warum nicht sie? – Dann fiel ihr eine andere Möglichkeit ein. Hatte Toni all das nur auf sich genommen, weil er in sie verliebt war? Doch in diesem harten Licht erkannte sie, dass die Liebe seltsamerweise ganz aus dem Spiel war. Toni hatte nicht von ihr etwas gewollt. Er hatte nur von sich selbst etwas gewollt. Mit einem köstlichen Schauder, der sie bis ins Innerste durchrieselte, fand Anna, dass das eigentlich erleichternd war. Sie musste sich nicht lieben lassen.

Sie legte sich ins Bett, um nachzudenken. Als ihre Mutter sie um 7.00 Uhr weckte, konnte sie nicht glauben, dass sie ganz banal eingeschlafen sein sollte. Doch hatte der Schlaf den Zusammenhang nicht unterbrochen. Sofort war alles wieder greifbar. Dagegen das Aufstehen, der Schulweg, das Sitzen im Unterricht, das Mittagessen zuhause – alles unwirklich. Sie hatte das Gefühl, sie träume das nur.
Es war ein Traum, aus dem sie dann mit jagendem Puls mitten auf dem Weg in die Stadt hochschreckte. Gleich nach dem Essen, durchaus noch schlafwandlerisch, war sie losgezogen. Den Rest des Weges überlegte sie krampfhaft, was sie sagen sollte, wenn Tonis Mutter zuhause war. Das war immer noch besser, als an Toni allein in der Wohnung zu denken. Doch fiel es ihr schwer, sich nur auf die Mutter zu konzentrieren. Es kostete erstaunlich viel Kraft. Als sie in dem Mietshaus die Treppen hochstieg, wurde sie immer schwächer. Im dritten Stock war sie krank, fast zu krank, um die Klingel drücken zu können.

Es war nicht die Mutter, die öffnete. In der Tür stand Toni, im Schlafanzug und mit wirren Haaren. „Hat krankgefeiert“ dachte Anna und stellte fest, dass sie kein Wort herausbrachte. Ganz anders Toni, der immerhin „Ach“ sagte.

Bei dem, was dann kam, erwies sich, dass nicht Toni, sondern Anna die Heldin war. Spätesten, als sie sich in seinem Zimmer aus der ungeschickten Umarmung löste, besonders ungeschickt, weil Toni wegen seines Schlafanzugs so verlegen war. Sie zog die Vorhänge zu, weil sie wusste, dass sie es sonst nie schaffen würde, sich auszuziehen… Von da an war sie die Heldin, bis sie im Badezimmer das Leintuch auswuschen, das Toni mit dem Föhn trocknete, damit seine Mutter nicht auf dumme Gedanken kam.

Eigentlich war es ein ganz unwahrscheinlicher Zufall, dass Tonis Familie bis zum Abend auswärts war und sie die Wohnung für sich hatten. Doch Anna wunderte sich nicht darüber. Unter allen Beschwichtigungen, mit denen sie sich hierher geholfen hatte, war immer die Gewissheit gewesen, dass es gerade so sich ergeben musste. Das konnte nur so sein. Keine Hindernisse, keine Entschuldigungen. Alles allein von ihr abhängig und von dem, was sie tat… zum Beispiel, die Vorhänge zuzuziehen. Eine Aktion, die Toni nicht mehr steif rumstehen ließ. Er wurde bleich und duckte sich wie zum Sprung.

Durch die Vorhänge sickerte dann bläuliches Unterwasserlicht ins Zimmer und da hatte Anna, als sie es schon einmal wagte, die Augen zu öffnen, eine sehr pathetische Erscheinung. Sie sah den stählern schimmernden Körper über sich, unten gefesselt in der Umschlingung ihrer Schenkel, die überraschend weich erschienen, oben muskelstrotzend aufgebäumt in einer äussersten Anstrengung. Jetzt fuhr äußerste Erschütterung in das Gesicht über ihr, und riss es auseinander. Bevor die Ausläufer des Bebens auch sie erreichten, erkannte sie es wieder. Es war Tonis Gesicht, das sie, als das Licht angegangen war, schon einmal am Fensterbrett gesehen hatte. So bog es sich in vollkommener Rundung zurück in den Anfang von allem.

In den folgenden Wochen fanden sie keine Gelegenheit, sich wiederzusehen. Sie erlebten auch, dass sich, was sie erlebt hatten, auf nichts anderes verlängern ließ, etwa darauf, dass sie nun miteinander „gingen“. Der unheroische Normalfall ihrer Begegnungen war enttäuschend. Toni, der mitten in den Prüfungen stand, hatte ohnehin wenig Zeit. Dann war die Matura bestanden und er trat die obligatorische Reise an.

Anna lebte stark in der Erinnerung. Toni selbst vermisste sie wenig, noch weniger vermisste sie, von der Schule abgeholt zu werden oder mit ihm im Kino zu knutschen. Nach seiner Rückkehr kamen sie wieder zusammen. Toni hatte es diesmal mit allen Schikanen inszeniert, in der Wohnung eines Bekannten. Es war ein fabelhaftes Arrangement mit Badbenutzung, Essenkochen, Musikbegleitung und garantierter Ungestörtheit. Es wurde ein Desaster. Plötzlich hatte die bisher in dieser Hinsicht völlig phantasielose Anna Angst vor einer Schwangerschaft. Die perfekte Vorbereitung Tonis, des angehenden Studenten, bewährte sich aber auch hier. Er zog, eine Errungenschaft seiner Studienreise, ein Päckchen Kondome hervor.

Solchermaßen mit den Privilegien, den Ängsten und den kleinen Krücken der Erwachsenen hantierend, misslang ihnen rundum die Erneuerung ihrer Beziehung. Was zustande kam, war ein Vorgang, den die Erwachsenen als Geschlechtsverkehr bezeichnen. Kalt und elend gingen sie auseinander.

Toni begann in Wien sein Studium. Anna hörte nichts mehr von ihm. Der Prinz zuckte die schmalen Schultern und nahm es als Zeichen, dass Toni empfand wie sie. Ein Jahr später verliebte Anna sich zum ersten Mal ernstlich, fernab von allen prinzlichen Ungerührtheiten. Ende Zwanzig begegnete sie dem Vater ihrer zwei Kinder, mit dem sie heute noch zusammen lebt. Doch schon davor war die Sache mit Toni zu einer nicht mehr ganz verständlichen Erinnerung ausgeblasst. Sie war abgesunken auf den dunklen Grund, auf dem in uns die Märchen liegen.

Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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