Gerda Walton
Erinnerung an Afrika
Eine nostalgische Entführung in eine Zeit, als Reisen noch möglich war.
All jenen gewidmet, die ebenfalls unter täglich heftiger werdenden Reise- Entzugserscheinungen leiden.
Viel zu spät begreifen viele / die versäumten Lebensziele: / Gärten, Schönheit der Natur, / Gesundheit, Reisen und Kultur. / Darum, Mensch sei zeitig weise! / Höchste Zeit ist´s – reise, reise! Frei nach Wilhelm Busch
Es war einmal in Afrika, lange, lange vor Corona, das unser aller Leben auf den Kopf gestellt hat. Es ist drückend heiß im legendären südafrikanischen Krügerpark und kurz vor dem Beginn der Regenzeit. Alles ist graubraun und verbrannt, auch das ehemals hohe grüne Gras, in dem die Tiere Schutz gefunden haben, ist jetzt knochentrocken und kann sie nicht mehr verstecken. Die holprigen Wege sind staubig und unser Jeep zieht eine lange weiße Fahne hinter sich her, obwohl wir ganz langsam fahren. Die wenigen künstlich angelegten Wasserlöcher sind nur mehr winzig kleine Tümpel mit brackigem Wasser und zertrampelten Uferzonen, an denen sich die durstigen Tiere nach einer uns geheimen Rangordnung zusammendrängen. Die sensationslüsternen Touristen mit Safari- Erfahrung bevorzugen diese Zeit der großen Trockenheit. Man kann sich nämlich eine sonst empfohlene Malaria- Prophylaxe ersparen, und sonst sehr scheue Tiere rücken näher an die Lodges heran, weil es dort Wasser gibt. Dann hat man hat sein Reisegeld nicht für nichts und wieder nichts ausgegeben, weil man, außer vielleicht ein paar unübersehbaren Elefanten, in der grünen Wildnis des hohen Steppengrases kein einziges sehenswertes Tier, geschweige denn die in Aussicht gestellten berühmten Big Five, entdeckt hat.
Wir sitzen im Safari-Jeep ganz oben, auf der höchsten Stufe, dort, wo der Fahrtwind angenehm kühlt. Ich halte mich geistig selber an der Hand fest, weil ich zum ersten Mal Tiere in freier Wildbahn erleben werde und mich ein wenig fürchte. Die anderen haben so eine Pirschfahrt offenbar schon öfters erlebt, zumindest geben sie sich weltmännisch sicher und mit ihrem Wissen kräftig an. Ich bin aber ziemlich aufgeregt, was ich natürlich zu überspielen versuche. Man will ja schließlich nicht als „greenhorn“ belächelt werden. Hoch über unseren Köpfen zieht ein Flugzeug einen Kondensstreifen durch die endlos weite Bläue des afrikanischen Himmels, wie um uns daran zu erinnern, dass wir bald wieder in unser Alltagsleben zurückkehren müssen und dass jede Reise endlich ist. Aber noch scheint das von uns durch Welten getrennt zu sein.
Wir fahren mitten hinein in einen wunderbaren Sonnenuntergang. Die Sonne färbt den Himmel und unsere Haut blutrot wie auf einer Kitschpostkarte. Plötzlich bleibt der Jeep abrupt stehen, damit der Spurenleser, ein Schwarzer mit einer Haut wie aus dem polierten Stein, aus dem die Afrikaner gerne Skulpturen anfertigen, von seinem Sitz heruntergleiten kann. In seinem in der Nähe gelegenen Heimatdorf ist er ein von allen bewunderter und hoch geachteter Fährtenleser, aber hier im Camp der Touristen aus aller Welt, steht er trotzdem jeden Tag vor einer neuen Herausforderung.
Wenn er viele Tiere erspäht, loben die Fremden seine Augen und seine Klugheit, schlagen ihm auf die Schulter und stecken ihm Papiergeld zu, das sie in Beuteln um ihren Hals tragen. Mit federnden Schritten läuft er in seinen offenen Sandalen durch das dürre Gras. Angst, auf eine Schlange zu treten oder von einem wilden Tier angegriffen zu werden, kennt er scheinbar nicht. Die Fremden wissen ja nicht, dass seine Großmutter eine Mganga, eine gute Hexe ist, die ihm einen Fetisch gegen Schlangenbisse um den Hals gehängt hat. In der Hand trägt er, es wirkt mehr als Dekoration, denn als ernst zu nehmende Waffe, ein nicht mehr ganz neu aussehendes, leichtes Jagdgewehr.
Wir fahren weiter, immer auf der Suche nach den wilden Tieren, die sich während der flirrenden Hitze des Tages schattige Ruheplätze gesucht haben, und umkreisen das kleine Wäldchen, in das der Fährtenleser verschwunden ist. Plötzlich sehen wir ihn winken. Wir verlassen den ausgefahrenen Feldweg und rumpeln über Stock und Stein zu ihm hin. Er klettert routiniert auf seinen kleinen Sitz über dem linken vorderen Kotflügel zurück und ich denke, grausam zwar, aber irgendwie erleichtert, darüber nach, dass ihn die Löwen, denen wir zuvor am Wasserloch begegnet waren, wohl zuerst anfallen würden, falls es so weit käme. Ob ihnen wohl schwarze oder weiße Haut lieber ist, frage ich mich. Löwen sind vermutlich keine Rassisten und dürften wohl alles fressen, was ihnen unterkommt, wenn sie gerade hungrig sind, fällt mir ein. Seltsame Gedankengänge hat man manchmal, so weit weg von zu Hause, ich gebe es zu, aber vermutlich geht es den anderen recht ähnlich.
Der schwarze Guide führt uns tief in das Akazienwäldchen hinein. Dürre, dornige Zweige schlagen über unseren Köpfen zusammen und wir müssen uns immer wieder bücken, um nicht zerkratzt zu werden. Plötzlich bleibt unser Fahrer Paddy stehen und deutet auf einen hohen Baum, der wie ein Scherenschnitt genau vor der roten Scheibe der Sonne steht, so unglaublich edel und erhaben, dass auch seine Silhouette alleine, ganz ohne untergehende Sonne genügen würde. Er nimmt seinen verblichenen, breitkrempigen Hut ab, wischt sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirne und setzt ihn wieder auf. Dann sucht er nach seiner irgendwo im Jeep herumliegenden Kamera. Er spricht kein Wort und deutet uns, dass auch wir nicht sprechen dürfen und uns nicht bewegen sollen.
Erst als sich unsere Augen an das flimmernde Licht gewöhnt haben, entdecken wir den Leoparden, der sich auf einen starken Ast zurückgezogen hat. Er hat gerade einen Pavian geschlagen und auf den Baum geschleppt, um vor lästiger Konkurrenz geschützt seinen Leckerbissen genüsslich verspeisen zu können. Wir sind ihm so nahe, dass wir in seine wilden, wunderbaren Raubtieraugen sehen können. Seltsamerweise wird später jeder aus unserer Gruppe behaupten, der Leopard hätte ausgerechnet ihm genau in die Augen gesehen. In Wirklichkeit beobachtet er unsere Gruppe mit großer Gelassenheit und scheint genau zu wissen, dass wir nur lästige Voyeure und für ihn absolut bedeutungslos sind.
Wir hören die Knochen krachen, als er sie mit seinen gewaltigen Reißzähnen aus dem Kadaver, der wie eine dunkle, leblose Puppe auf der Astgabel hängt, herausreißt. Am Stamm der Akazie beginnt Blut herab zu rinnen. Kannst Du es riechen? Die Hyänen wissen schon viel länger als wir, dass der Leopard Jagdglück hatte. Mit ihrem seltsamen, federnden Tritt umrunden sie, nur als lautlose, dunkle Schatten erkennbar, unser Fahrzeug und den Akazienstamm und ziehen ihre Kreise immer enger. Und schließlich vergessen sie vor Hunger und Gier alle Vorsicht, springen wütend und verzweifelt an Stamm empor und lecken das herabrieselnde Blut auf, das sie zu noch größerer Raserei anzuspornen scheint. Sie knurren sich gegenseitig an und fletschen ihre gelblichen Zähne, dass mir ein kalter Schauder über den Rücken läuft.
Ich warte schon lange darauf, dass es passiert. Und tatsächlich entkommt dem Leoparden ein Stückchen Fleisch oder ein Knochen und fällt vom Baum hinunter. Bevor es den Boden erreicht, hat es eine der Hyänen schon geschnappt und würgt es hinunter, heftig attackiert von der zweiten. Wie aggressive Kampfhunde raufen sie so wütend unter dem Baum, dass Erdbrocken und Steine bis zu uns in den offenen Jeep fliegen. Ich sitze verkrampft und total fasziniert da und umklammere die Hand des neben mir Sitzenden. Ich fürchte mich, sage ich leise zu ihm, aber er hört mich nicht. Er starrt voller Erregung durch seinen ständig klickenden Fotoapparat auf den Baum. Im Jeep liegen unter meinen Füßen lose Bretter und ich beginne, sie mit meinen Schuhen auseinander zu zwängen, um mich im Notfall blitzartig ins Innere des Jeeps hinunterfallen lassen zu können.
Obwohl wir alle kein Auge von der dramatischen Szene lassen können und die Kameras noch immer wie verrückt klicken, startet unser Fahrer plötzlich den Motor des Jeeps und versucht, aus dem Graben unterhalb des Baumes, von dem aus wir das Geschehen beobachtet haben, herauszukommen. Aber unser Fahrzeug hat sich an einer Wurzel verheddert. Die Räder drehen durch und mir wird vor Aufregung, und weil wir wild durchgebeutelt werden, fast schlecht. Da schaltet er das Allradgetriebe zu, der Motor heult auf und befreit uns mit großer Kraft aus der Falle. Der Fahrer hat sich währenddessen auf die blass gewordenen Lippen gebissen.
Der schwarze Guide sitzt unbeweglich wie eine Statue auf seinem exponierten Sitz und wechselt, nachdem der Jeep wieder freigekommen ist, mit Paddy leise ein paar Worte auf Zulu, die wir nicht verstehen können. Allmählich löst sich die Spannung und wir beginnen, stockend über das eben Erlebte zu sprechen. Es verfolgt uns auf der ganzen Heimfahrt und auch später noch bis in die Nacht hinein. Beim Abendessen am offenen Lagerfeuer der Boma erzählen wir, noch immer aufgeregt, von unserem Erlebnis und die wilden Augen des Leoparden verfolgen uns bis hinüber in den Schlaf. Ich sehe sie heute noch vor mir.
Nur um Sie nach dieser Schilderung wieder ins Alltagsleben zurückzuholen: Nach dieser Pirschfahrt habe ich meinen daheim gebliebenen, damals rund 18 Jahre alten Sohn angerufen und ihm unsere Erlebnisse geschildert, die ihn zum Ausruf veranlasst haben „Mama, ich bitte Dich, pass auf Dich auf!“, was mein mütterliches Herz natürlich vor Entzücken ob so viel kindlicher Sorge anschwellen ließ. Und dann fügte er noch hinzu: „Weißt Du, Mama, ich habe sooo einen Hunger und überhaupt nichts mehr zum Anziehen…“. Das war die richtige Vorbereitung für die ohnehin unmittelbar bevorstehende Heimreise.
Gerda Walton
Reiseleiterin, dzt. In Corona- bedingter Warteschleife