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Andreas Niedermann
Whipping Post
Oder:
Warum es keine schwulen Fußballer gibt.
Short Story

„Wenn du in Wien, dieser gleißenden Perle der Unfreundlichkeit, mal ein bisschen Respekt und so was wie ziviles Verhalten erleben möchtest“, sagte Henk, „wo gehst du da hin?“
„Warum fragst du nicht gleich nach der genauen Anzahl Sandkörner am Strand von Caorle“, schnappte ich schlecht gelaunt zurück.

War meine miese Laune ein Wunder? Wir saßen seit zwei Stunden in einem engen Transporter und starrten durch die samtene Dunkelheit einer Landnacht auf ein Licht, das durch die Äste einer Birke drang. Henk hatte mich zu dieser Aktion überredet, und sämtliche Alarmglocken hatte ich vernommen: Lass ja die Finger davon!. Aber nun saß ich da, blickte auf den Schattenriss eines Einfamilienhauses und grollte. Es gehörte zu den ungelösten Rätseln der Menschheit, wie Henk es schaffte, mich immer wieder auf’s Neue rumzukriegen. Es war ein Spiel. Ich verlor jedes Mal und rächte mich damit, dass ich darüber schrieb. Henk fand das irgend-wie nett.

„Na, sag schon. Wohin gehst du da?“ insistierte er.
Ich gab keine Antwort. Er hatte die letzte Stunde damit verbracht, irgendwelche Dinge mit seinem Handy anzustellen und jede Konversation abgeblockt. Er konnte mich mal.
„Was tun wir hier?“
„Hab ich dir doch gesagt: Wir sorgen für ein wenig mehr Gerechtigkeit auf diesem Planeten“, stieß er aus. “Hey, halt mal die Klappe. Da tut sich was.“

Ich hielt die Klappe. Die wuchtige Gestalt eines Mannes erschien im Licht der Eingangstür. Er blieb stehen, sah nach links, sah nach rechts, zog die Rockerkutte über dem Bauch zusammen, dann verschwand er in der Dunkelheit. Nach einer Weile sahen wir, wie am Boden ein schmales Rechteck aus Licht entstand und schnell größer wurde. Der Mann schob ein Motorrad in dieses Rechteck aus Licht, trat den Ständer runter und stellte es mitten in die Garage. Es sah aus wie eine Harley Davidson Electra Glide. Das Licht erlosch wieder und der Mann ging zurück ins Haus.

„Genial. Er hat nicht mal das Garagentor geschlossen“, sagte Henk grimmig und rieb sich die Hände. „Jetzt kann’s nicht mehr lange dauern.“
Eine Ahnung beschlich mich. Sie gefiel mir überhaupt nicht.
„Hast du’s gesehen? Der hat geschwankt. Nur so ein wenig. Aber der ist voll. Super!“
„Ich hab nix gesehen.“
„Du bist eben ein Ohrenmensch. Du siehst doch nie was. Besorg dir mal ne Brille.“
„Was ist mit dem Motorrad?“
„Erfährst du früh genug. Ein klein wenig Geduld. Wo bin ich stehen geblieben? Ah ja, wo gehst du in Wien hin wenn du mal ein bisschen Respekt und Freundlichkeit erfahren willst?“
„In ein Spiegelkabinett“, sagte ich. Es machte keinen Sinn Henk wegen der Aktion zu löchern. Da blieb er eisern. Wenn er nichts sagen wollte, dann sagte er auch nichts. Er hatte sich in den letzten Monaten verändert. Aus dem dicklichen, schnaufenden, wachsweichen Wohlstandsarsch war eine durchtrainierte Kampfmaschine geworden. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hatte. Aber er sah so aus, als würde ihm eine Attacke meinerseits nur ein kaltes Arschgrunzen entlocken. Oder so.

„Jetzt mal im Ernst“, sagte er, „Wo gehst du dann hin?“
„Sag du es mir.“
„Man geht zum Boxen!“
„Man geht zum Boxen?“
„Genau. Eine unglaubliche Atmo. Respektvoll, freundlich. Alles Kenner, und kaum brüllende Chauvinisten. Und jetzt die zweite Frage: wo geht man hin, wenn man Lust auf Pöbeleien, Lärm, und Besoffene hat?“
„In den Supermarkt bei mir um die Ecke“, sagte ich.
„Du bist ungemein witzig, hat dir das eigentlich schon mal jemand gesagt?“
„Außer dir? Meine 4-jährige Nichte.“
„Man geht zum Fußball“, sagte Henk.

Im einzigen beleuchteten Fenster erschien wieder die Gestalt des Mannes, und irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde Musik laufen. Ich drückte auf den Knopf für das Seitenfenster. Es fuhr 2 Zentimeter nach unten. Ich hielt mein Ohr an den Spalt und lauschte.
„Whipping Post. Allman Brothers Band. Live at Fillmore East. 1971. Dauer 23:03. Eines der besten Rock Alben überhaupt. Ein Klassiker“, sagte ich.
„Damn, ich dachte, du magst keinen Rock?“
„Wir sind etwa in der Mitte. Also noch 10 Minuten, oder so.“
„10 Minuten? Und danach?“
„Letztes Stück. Aus.“
„Der Meister gibt sich ein letztes Fläschchen, dann geht’s ab in die Heia.“
„Wie kommst denn da drauf? Der sieht nicht danach aus, als würde er um 5 Uhr 30 von der Matte hüpfen.“
„Wetten, der macht dicht nach der Nummer?“, sagte Henk.

Wir sahen auf unsere Uhren. Es war kurz vor Mitternacht. Für einen ordentlichen Biker ein paar Minuten nach dem Frühstück. Andererseits waren die Biker auch nicht mehr, was sie mal waren. Nicht mehr „Born to be wild“, sondern mehr „Anna, den Kredit hamma“. Aber was wusste ich denn schon? Ich schaffte es ja nicht einmal herauszufinden, warum ich mitten in der Nacht in einem Transporter hockte und darauf wartete, dass einem Rocker die Lichter ausgingen.
Wir schwiegen und Greg Allmann hämmerte sein Solo ins Keyboard.

„Findest du es nicht eigenartig, dass es keine homosexuellen Fußballer gibt?“, sagte Henk unvermittelt und faltete ein winziges Fernglas auseinander.
„Was?“
„Schwule Kicker. Warum’s keine gibt?“
„Dir ist wohl gar nichts mehr heilig“, sagte ich.
„Wie hoch ist der Anteil der homosexuellen Bevölkerung im Durchschnitt?“
„Keine Ahnung? Kommt drauf an wo. Zwischen 1 und 10%, würd ich sagen.“
„Siehst du“, sagte Henk und drückte sich das Minifernglas auf die Augen. „Da kann doch was nicht stimmen.“

Mein Ohr am Fensterspalt wurde angenehm kühl und Whipping Post kam gerade in die entscheidende Phase. Duane Allman’s Gitarre entließ Töne in die Nacht wie Schwärme von brünstigen Glühwürmchen. Jener Duane Allman, der bald darauf bei einem Motorradunfall sterben würde. Es berührte mich jedes Mal, dass man ihn noch hören konnte. Seine Gitarre drang wie aus dem Jenseits zu uns. Und ein Jahr später dann, 1973, fast an derselben Stelle wie Duane, erwischte es den Bassisten der Band, Berry Oakley. So was übersteht keine Band. Die Götter hatten echt was zu lachen mit „The Allman brothers band.“

„Du siehst doch ein, dass da was nicht stimmen kann“, fuhr Henk fort. „Geht man vom Bevölkerungsdurchschnitt aus, müsste doch einer in jeder Mannschaft schwul sein. Aber hast du je von einem schwulen Fußballer gehört? Ich meine, von einem, der noch aktiv ist.“
Hatte ich nicht. Aber ich hörte auch von heterosexuellen Fußballern nicht wirklich viel.
„Die halten das unter Verputz. Das gibt’s nicht, dass von denen keiner andersrum ist.“
„Jetzt, wo du’s sagst. Aber was ist mit deinen Boxern?“
„Boxer sind Individualisten, da spielt doch die sexuelle Ausrichtung keine Rolle. Denk an Panama-Al-Brown. War sogar Weltmeister im Bantamgewicht. Schwul und schwarz und vielleicht noch Jude. Ein Sammy Davis Jr. des Faustkampfs. Aber Fußball ist was für den Mob und der mag nun mal keine Schwulen.“

Henk nahm das Glas, mit dem er in der Finsternis sowieso nichts sehen konnte, faltete es sorgfältig zusammen und ließ es in seine Hemdtasche gleiten.
„Fußball ist doch nur noch was für Indolente und Alkoholabhängige. Für Chauvinisten und einsame, bröselige Intellektuelle, im Schnittpunkt einer Versöhnung von müde gewordenen Köpfen und dem schwammig gesoffenen Fleisch. Fußball ist allumfassend. Wer heute kein Fußball schaut, ist ein Wirtschaftskrimineller. Und selbst die letzten Abstinenten haben klein beigegeben. Die Frauen. 22 knackige Ärsche sind ein unschlagbares Argument, angesichts des breiten Weichteils auf dem Sofa neben ihnen. Auch ein schwuler Arsch würde da nicht stören. Ich persönlich fühle mich den Hooligans am Nächsten, denen geht es nicht ums Spiel, sondern um konkrete Gewalt, Macht und Vorherrschaft, um Fäuste und Zähne, Tritte und Aufruhr, es sind die Rimbauds der Postmoderne, und vermutlich ist denen auch egal, wenn die Spieler alle schwul wären …“

Ich hatte keine Ahnung, wo Henk all das Zeug her hatte. Wenn er mal loslegte, war er schwer zu stoppen. Sein Sermon überrumpelte mich. Verdammt, schließlich war ich hier der Autor und er war … ja, was war er eigentlich? Oder anders gefragt: Was war er heute? Heute Nacht? Was waren wir?

Im Haus tat sich was. Die Allman Brüder kamen zum Ende, die Musik verklang und der Rocker tauchte wieder am Fenster auf. Er tat irgend etwas. Ich vernahm Wasserrauschen.
„Putzt der sich jetzt die Zähne?“, sagte ich.
„Ja“, sagte Henk ernst, „Man möchte es nicht glauben.“
„Vielleicht liest er vor dem Schlafengehen noch ein wenig in der Bibel“, sagte ich.
Das Wasserrauschen hörte auf, der Mann drehte uns den Rücken zu, das Licht ging aus. Das war das Zeichen für Henk. Er stieg schnell aus und verschwand in der Dunkelheit. Ich hörte, wie er hinten die Türen des Transporters öffnete. Dann tauchte er auf meiner Seite wieder auf.
„Come on!“, zischte er durch den Fensterspalt.
Gehorsam stieg ich aus und folgte ihm zum Heck des Transporters. Der Mond prangte am Himmel, orange und voll, wie ein leuchtender Fußball, den ein wütender Spieler in eine frisch geteerte Strasse getreten hatte.
„Okay, es geht los“, sagte Henk.
„Verdammt, was geht los?“, fragte ich.
„Hast du’s immer noch nicht kapiert?“
„Was kapiert?“, fragte ich. Aber natürlich hatte ich kapiert.
Henk antwortete auch nicht, sondern riss an einer Alu-Rampe, die im leeren Transporter lag.
„Fass mal mit an“, sagte er.
Wir brachten die Rampe in Stellung. Sie war kurz und steil.
„Komm!“, befahl er.

Mit eingezogenen Köpfen, wie zwei Typen die zu einem Helikopter eilen, bewegten wir uns auf das Haus zu. Es lag jetzt vollständig im Dunkeln, nur der Lichtschalter neben der Haustüre glühte rot und bonbonsüß.

Ich verspürte das dringende Bedürfnis Henk etwas zu fragen. Sinnlos. Wenn man in einen Abgrund springt, fragt man ja auch nicht, in welche Richtung es geht.
Henk verschwand in der offenen Garage. Ich blieb stehen und blickte mich um. Das nächste Haus, ein Schattenriss in der Nacht, lag ein Steinwurf entfernt. Es sah aus wie der Zwillingsbruder der Rockerhütte. Whipping Post und Harley Davidsons in Reihenhäuschen. So etwas macht leichtsinnig.

„Henk, du willst das Teil doch nicht etwa klauen“, sagte ich in normaler Lautstärke. Sie hätte am Weihnachtsabend ein Murmeltier aus dem Bau geholt.
„Bist du wahnsinnig“, zischte Henk. „Halt die Schnauze. Der Typ ist gefährlich.“
Er griff nach dem Lenker der Harley und kickte den Ständer um.
Ich blieb demonstrativ untätig und stopfte meine Hände in die Taschen.
„Verdammt, nein. Wir klauen das Ding nicht. Nicht wirklich. Na ja, wir klauen es zurück. Sozusagen. Der Kerl ist mit den Raten in Verzug. Das Bike geht zurück zum Eigentümer. Tu was. Hilf mir.“

Wir schoben die Harley zum Transporter. Meine Hände lagen auf den Sattel. Er fühlte sich an wie ein toter Nilpferdarsch auf Rollen. Dann ging im Haus das Licht an.

„Scheiße“, presste Henk zwischen den Zähnen durch. Und während ich an dem toten Lederarsch anschob, warf ich einen Blick zurück. Ich sah den Schattenriss des allerersten Menschen der Neuzeit in Unterhosen vor seiner Behausung stehen. Der riesige Schatten einer Keule fiel auf die Hauswand. Was für ein archaisches Bild. Ich schob schneller. Es lief richtig gut.

Wir bekamen das Motorrad in einem Anlauf in den Transporter. Es rumpelte und schepperte und jagte Adrenalin in meine Adern. Henk warf die Rampe in den Transporter, als wäre sie aus Sperrholz. Keine Zeit die Tür zu schließen. Wir liefen zum Fahrerhaus. Der Rocker war nicht zu sehen, aber ich fühlte seine Anwesenheit. Ich riss die Tür auf, Henk startete den Motor. Ein Schatten kam heran. Ich zog den Kopf ein. Dann schlug eine Granate in den Transporter. Genau da, wo ich noch vor einer Sekunde gestanden hatte. Ich sah, wie er zum zweiten Mal ausholte.

Henk trat das Gaspedal durch, jagte den Transporter die Strasse hinunter, die offenen Türen knallten und schepperten und die Scharniere knirschten. Wir hörten die Harley herumrutschen, schwer und eisern. Ich sah, wie Henk angewidert das Gesicht verzog. Das ganze Chrom, die Pedale, die Sturzbügel. Aber er bretterte mit zusammen gekniffenen Lippen über die Zufahrtsstrasse und trat erst auf die Bremse, als wir die Autobahnauffahrt erreichten.

Wir stiegen aus und zurrten die Harley mit Gurten an der Wand fest. Es war nicht zu erkennen, wie viel sie abbekommen hatte. Wir schlossen die Türen. Henk betrachtete die tiefe Delle neben meiner Tür, die der Baseballschläger hinterlassen hatte. Er zuckte die Schultern. Es war nicht sein Transporter.

„Du Arschloch“, sagte ich. „Der hätte mich fast erwischt.“
„Mach dir doch nicht im Nachhinein ins Hemdchen. Du kriegst deinen Anteil.“
„Ja, Scheiß mit Reis!“, sagte ich.
„Warum bist du immer so negativ? Das Leben kann doch so schön sein. Schau den Mond, die Sterne. Ist doch echt super alles.“
Wir stiegen wieder ein. Henk lächelte wie ein oral befriedigter Maikäfer.

Es war tatsächlich eine schöne Nacht. Wir fuhren von der Hügelkuppe hinunter in die endlos scheinende Ebene mit dem Geflecht aus flickernden Lichtern. Alles war gut.
„Ich denke, wenn Biker sich die Zähne putzen“, sagte Henk mit seinem Maikäfergrinsen, „wird es auch schwule Fußballer geben. Glaubst du nicht auch?“, sagte Henk.
Der Fahrtwind streichelte meine Wange. Er duftete nach Kiefern.
„Ich wünschte, Duane Allmann hätte uns sehen können.“
„Konnte er doch“, sagte Henk. „Konnte er doch.“

Andreas Niedermann

Andreas Niedermann, 1956 in Basel geboren. Nach einer Laborantenlehre einige Jahre in Europa unterwegs. Informelle Ausbildung zum Schriftsteller in genau 50 ausgeübten Berufen. U.a. als Steinbrecher, Alphirte, Kranführer, Kinobetreiber, Krafttrainer, Koch und Theatertechniker. Seit 1989 mit Familie in Wien lebend. Gründete 2004 den Songdog Verlag. Publizierte einige Romane, Storybände und Novellen. Zuletzt „Blumberg 2 (Die Wachswalze)“ bei Edition BAES.

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