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Markus Fenner
Amassas Zeit
Roman in Fortsetzungen
4. Folge
Vom inneren Gesetz

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Der von den vier Hügeln umschlossene Talboden hatte dem mittelalterlichen Valduns genügend Raum geboten. Doch seit dem neunzehnten Jahrhundert war das Städtchen die Hügel-Zwillinge auf der östlichen Talseite hinaufgekrochen; deren Hänge waren sanfter als das felsige Pärchen im Westen. Der Krahlsberg war städtisch bebaut, sein Pendant jenseits der Ill, der Wehnesberg, hatte Gartencharakter .

Dort wohnten die besseren Leute von Valduns, vor allem an der Wehnesbergstraße, die sich auf halber Höhe den Hügel entlang zog. Oberhalb der Straße lagen die Villen, durchwegs älteren Baujahres. Nur auf einem Grundstück stand ein Neubau. 

Das Haus hatte die erlauchten Proportionen eines Ziegelsteines, allerdings deformiert durch das ortszwängliche Giebeldach. Sonst war auch hier alles wie bei den Nachbarn: unten an der Straße die in den Hang gebaute Garage, der steile Kiesweg, der an Rabatten vorbei zur Terrasse hinaufführte. 

Hinter dem Haus der eigentliche Garten, der lang und schmal den Hang hinaufzog. Das war das Anwesen der Familie Tschol. Der Mann war vor Jahren gestorben, der Sohn und die ältere Tochter hatten bereits eine eigene Familie. So wohnten hier nur mehr die Witwe und ihre jüngste Tochter, welche die Maturaklasse des Bundesgymnasiums besuchte.

Anna war heute ungewohnt früh aufgewacht und hatte im Bad mehr Zeit als üblich. Da war es wie ein rosa Nebel über sie gekommen, eine plötzliche Lust an der Pflege ihres Körpers. Sie war völlig versunken in die zärtlichen Anwendungen des Spülens und Frottierens, des Bürstens, Cremens und des Einmassierens. Sogar die Zehennägel hatte sie sich gemalt, mit Mamas Lack.

Rosig, schimmernd und kostbar duftend kam sie aus dem Bad, aus dem Schutz dieser feuchtwarmen Muschel, die sich um sie wie um ein zartes Weichteil geschlossen hatte. In ihrem Zimmer war es kühl. Ein feuchter Streifen am Rücken ließ sie erschauern. Sie blieb am Fenster stehen. Plötzlich erlahmte sie. Die perlmutterne Empfindung ihrer eigenen Köstlichkeit fiel aus ihr heraus und sie verdüsterte sich tief. 

Jetzt tauchte in ihr wieder die Erinnerung an den gestrigen Abend auf, die wohl auch ihren sonst ehernen Morgenschlaf unterminiert hatte. Anna hatte ihre Klassenkameradin Gerda, mit der sie auch für die Reifeprüfung in vier Monaten lernte, im Weinhaus Lingg getroffen. Verabredet war, ausnahmsweise mal nicht über Fächer, Stoffe und Lehrer zu reden; nur über Persönliches, trotzdem nicht über Männer, kurz, über ihre Zukunft.

Die Art, wie Gerda ihre Pläne am Schnürchen hatte: Studium Germanistik und Geschichte, und zwar in Graz, wo ihr Freund studierte, offen war nur noch die Frage der Unterkunft, hatte Anna nicht nur eingeschüchtert. Sie war obendrein ansteckend und hatte sie dazu verleitet, ähnlich über Anglistik zu sprechen. Denn dieses Fach hatte sie eingetragen, als die Liste mit den jeweiligen Studiums-Absichten in der Klasse rumging.

Anna hatte also über ihren geplanten Sprachkurs in Oxford und ein Semester in Amerika geredet und war sich dabei immer dämlicher vorgekommen. Plötzlich wusste sie, worüber sie mit Gerda, die schon immer etwas Bestimmtes und Klares an sich gehabt hatte, eigentlich sprechen wollte.

Sie war damit rausgeplatzt, daß sie das eigentlich gar nicht ernst meine, weil ihr das alles so fürchterlich beliebig vorkomme. Wenn sie tatsächlich Anglistik studieren würde, dann bloß deshalb, weil sie ein paarmal bei ihrer Tante in England gewesen sei und Englisch besser könne als Latein oder Mathe, also eigentlich aus Bequemlichkeit. Genauso gut könne sie auch Archäologie machen oder Betriebswirtschaft. Der einzige Unterschied sei, daß es wahrscheinlich unbequemer wäre.

Gerda behauptete, eine solche Unsicherheit zu kennen, allerdings sei es bei ihr bereits länger her. Vor einem Jahr habe sie stark geschwankt, ob sie das Klavierspielen nicht zum Beruf machen und ans Konservatorium nach Wien gehen solle. Sie habe es sich dann aber doch nicht zugetraut und im letzten Jahr auch viel zu wenig geübt, und das, was ihr Freund von Germanistik erzählte, habe ihr dann ganz gut gefallen und für Geschichte habe sie sich schon immer interessiert. So hätte sich das eben langsam ergeben…

Anna, die sich gerade eine Zigarette anzünden wollte, warf das Feuerzeug auf den Tisch. „Aber das ist doch wie im Schuhgeschäft! Du probierst bisschen rum und zum Schluss nimmst du eben die Passendsten im Angebot. Sorry, ich rede ja hauptsächlich von mir selber. Ich hab eigentlich nur gedacht, daß es bei dir irgendwie anders gewesen ist“, sagte sie zu Gerda, die sie gekränkt anstarrte.

„Hör mal“, sagte Anna, „mein ganzes Leben habe ich getan, was im Angebot gewesen ist. Solange man Schüler ist, ist das auch ganz normal. Aber jetzt geht die Schule zu Ende und der einzige Unterschied zum Studium kann doch nicht bloß der sein, daß man nun ein bisschen mehr Auswahl im Angebot hat. Es muss doch jetzt eine Notwendigkeit geben, die alle anderen Möglichkeiten ausschließt, da du dann einfach weißt, das ist es, das mach ich“, sagte Anna und ihre Zigarette machte suchende Bewegungen. Gerda fragte, ob sie etwa ein Interesse meine. Anna bejahte etwas unsicher.
„Und dieses wäre?“, fragte Gerda spitz. Anna wurde rot.

„Na ja, eigentlich habe ich keines. Ich interessier mich für nichts so besonders und ich kann nichts Besonderes, keine Begabung oder so was, das ist schon wahr. Kann ja nicht mal Klavierspielen wie du … Aber das ist eigentlich normal, das ist doch bei den meisten so. Wenn jemand ein Interesse hat, dann hat sich bei ihm ja schon etwas entwickelt. Was ich meine, das liegt noch davor, so eine Art Gesetz, nach dem dann auch ein Interesse entsteht. Ich meine, man hat doch in sich drinnen ein Gesetz, natürlich ziemlich unbewusst, das muss man erst finden. Aber es gibt doch Situationen, wo etwas völlig Neues und Unbekanntes auf dich zukommt, und doch weißt du, was du tun sollst, es gibt gar keine andere Möglichkeit oder irgendeine Wahl. Es geht nur mehr darum, daß du es schaffst, und das ist eben das Gesetz, verstehst du …“
Gerda betrachtete ihre tastenden Gesten und seufzte, das klinge etwas theoretisch.

Anna schoss einen kühnen, harten Blick an ihr vorbei zur Decke und sagte, „Überhaupt nicht!“. Sie habe das schon selbst erlebt und ihrer Ansicht nach könne jede wichtige Entscheidung überhaupt nur so passieren. Gerda schwieg erwartungsvoll, aber Anna brachte keine Beispiele. Sie zündete sich nur endlich ihre Zigarette an. „Aber diesmal funktioniert es nicht?“, fragte Gerda schließlich.
„Ich bitte dich, es sind noch fünf Monate zur Matura!“
„Was hat denn die Matura damit zu tun?“

Anna war verdutzt. „ Na alles! Die Schule ist doch so eine Welt für sich. Solange ich in ihr drin bin, bin ich eine verfluchte Schülerin und alles, was ich tue, ist eben irgendwie schülermäßig. Oder glaubst du vielleicht an den Quatsch von wegen nicht für die Schule, sondern fürs Leben?“

„Eben nicht, das ist es doch gerade!“, sagte Gerda, die sich nun auch ereiferte. „Deswegen reicht es überhaupt nicht, wenn du bis zum Ende der Schule nur Schülerin bleibst. Ich gehe schon lange mehr nebenher in die Schule, kann ich dir sagen! Das ist nur mehr ein Job, den ich einigermaßen abschließen muss, damit ich das machen kann, was ich eigentlich vorhabe. Die Matura ist doch bloß so eine Art Fahrkarte nach – Mensch, ich muss mal!“

Aber dann blieb sie doch noch am Tisch stehen und sagte: „Weißt du, wie du mir vorkommst? Für dich ist die Matura so ein entscheidender Lebenseinschnitt, irgendwas Dramatisches. Und das ist doch genau der romantische Schmarren, den sie immer bei den Schulfeiern verzapft haben, du weißt schon hinaus ins Leben treten und sowas, wobei die Matura eine Art Tor sein soll und dahinter dann natürlich das Leben liegt. Hast du wirklich geglaubt, daß du nach der Matura plötzlich schlauer sein wirst als vorher?“

Es war nur gut, daß Gerda nun aber wirklich aufs Klo musste. So war Anna erstmal für sich mit der Möglichkeit, dass sie, die sich immer für eine besonders skeptische Schülerin gehalten hatte, doch nur besonders naiv der Schulideologie aufgesessen sein sollte. Sie, Anna, also nur eine bravere Schülerin als Gerda, die doch schon immer eine ziemlich biedere Maus gewesen war?

Eine Welle von Unsicherheit lief durch sie hindurch, bis sie auf etwas Undurchdringliches stieß, nämlich die tief in ihr ruhende Gewissheit, die Anna von sich selbst hatte. Von wegen, Gerda hatte nicht recht! Anna hatte es schon erlebt, es gab solche Entscheidungen, und sie hatte den Mumm dafür. Sie hatte es erlebt und es würde wieder passieren, jetzt, wo es um ihre ganze Zukunft ging, und sie würde bereit sein. 

Gerda war so vernünftig wie sie bieder war. Sie hatte nie was riskiert. Das macht man, wenn man vernünftig ist. Aber bei ihr war es anders, das wusste sie… Anna hatte bereut, daß sie überhaupt das Thema angeschnitten hatte. Das ganze Gespräch gestern war unerfreulich gewesen.

Es verdarb ihr auch jetzt die Laune an diesem Morgen. Finster und reglos starrte sie durch die Scheibe hinab auf die Lichter der Stadt, die in der Morgendämmerung noch leuchteten. Ihr nackter Fuß stapfte auf den Bodenschalter der Lampe; das Licht verwandelte das Fenster in einen Spiegel. 

Vor ihren Augen erschien ihr Oberkörper, die kleinen Brüste mit den braunroten Spitzen in der milchweißen Bikinizone. Finster starrte sie darauf und versackte in eine überaus dichte Erinnerung, wie sie mit elf oder zwölf Jahren, voller Ärger über ihre damals hässlich aufschwellenden Brustwarzen, einmal versucht hatte, die Dinger abzuschneiden. Nur probeweise, bis sie gespürt hatte, wie weh das tat.

Trotzdem war jetzt der Sog so stark, daß sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen, nach der großen Papierschere am Fensterbrett langte. Traumwandlerisch legte Anna sie an der linken Brust an. Der Hof wurde graupelig unter dem kalten Metall. Langsam schob sie die geöffneten Schenkel der Schere vorwärts, bis die hart gewordene Warze die Schärfe der Schneiden spürte.

Draußen am Gang klappte die Badtür; Mama war aufgestanden. Annas Befangenheit platzte und sie sah sich im Fensterspiegel, nackt mit einer großen Schere an der Brust. Sie errötete und warf die Schere aufs Brett. 

Der Wecker am Nachttisch zeigte halb acht. Höchste Zeit, sich für die Schule fertigzumachen.





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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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