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Markus Fenner
Amassas Zeit
Roman in Fortsetzungen
3. Folge:
Sei permisch!

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Der Morgenruf von P. Waggerl, widerlich zu hören in seiner sonoren Aufgeräumtheit, das angeschaltete Licht und die Zimmertür, die der Präfekt der Oberabteilung gemeinerweise offengelassen hatte, brachten Anderl schließlich dazu, dass er die Beine aus dem Bett schwang. Er tappte dem Zug schlurfender Gestalten in Schlafanzügen hinterher, der sich durch den langen Gang zum Waschraum bewegte.

Der gekachelte Raum hallte wider von kaltwasserbelebtem Morgenlärm. Anderl erlahmte schon an der Schwelle. Sein Blick wanderte matt über die Phalanx nackter Oberkörper, 23 Stück, die sich da über vier Reihen von Waschbecken beugten. Er blieb hängen an den milchweißen Muskelpaketen eines kleingewachsenen Vierschrots, der Wasser in eine Seifenschale laufen ließ, er glitt haltsuchend weiter zu dem goldbraunen Torso eines Gutgewachsenen daneben, kopflos durch ein Handtuch. 

Jetzt tauchte das Gesicht aus dem Frottee auf, blitzhübsch unter dem verwuschelten Rabenhaar, weiße Zähne glänzten in einem Grinsen grundlos guter Laune.
“Monday Monday“, sang der Braune, “so good to me!“
„Bestie!“ dachte Anderl und sah weg. „Aufhören!“ rief einer in der Reihe gegenüber; immerhin ein Trost, dass es in diesem Rudel morgenmunterer Tiere noch den einen oder anderen Menschen gab, dem es graute im Morgengrauen.

Ein entsetzliches Geräusch schreckte alle auf. Der Kleingewachsene hatte Salz in die Schale gestreut, das Wasser in die Nase aufgezogen und hing röchelnd und würgend über dem Becken. Man betrachtete ihn kopfschüttelnd.
„Hugo, vielleicht solltest du doch mal zum Arzt gehen – ´nem Nervenarzt! Dem ist nicht mehr zu helfen“.

Anderl spürte eine Wärme aufsteigen. Wie die Nickhaut über dem Vogelauge öffnete sich in ihm der graue Schleier seines Morgenekels, während der Schmale, der den blindlings herumtastenden Hugo in ein Handtuch hüllte, die Spötter zurechtwies:
„Ihr Ignoranten! Die Nasendusche Neti ist das Beste für die Resonanzen, was es gibt! Caruso empfiehlt es wärmstens, gell Anderl?“
Anderl nahm die Zahnbürste aus dem bescheidenen Glas, das seinen Anteil an dem mit Hugos Kosmetika und Medizinen dicht besetzten Bord darstellte, und korrigierte:
„Caruso hat mit Neti nichts zu tun, Caruso empfiehlt, Wasser in die Lunge zu atmen, stimmts, Hugo?“
Dieser nickte, das Gesicht im Handtuch vergraben. „Ach Hugo, atme doch mal Wasser in die Lunge“, wünschte sich einer. Hugo legte das Handtuch weg, setzte die Brille auf und fixierte empört den Zwischenrufer.

„Bist du wahnsinnig? Bei den Halsschmerzen, die ich hab! Alles total entzündet…schau mal“, wandte er sich an Anderl und klappte den Mund beängstigend auf. Anderl beäugte die rosa Höhle, den obszönen Tanz des Zäpfchens. Hugo ließ seine muskulösen Züge zurückschnappen und starrte ihn dringlich an. Anderl hüllte sich in Zahnpasta Schaum.
„Hi-ha!“, intonierte Hugo, „hi-ha…furchtbar! Seit Wochen hab ich keinen richtigen Ton mehr rausgebracht“.

Kichernd spülte Anderl sich den Mund aus. Monday morning, so bad to me…aber es gab Schlimmeres, zum Beispiel all die mornings im Vorjahr, als er seine Morgenmüdigkeit noch allein in den Waschraum, damals im alten Turnsaal, getragen hatte. Damals waren die beiden für ihn auch nur zwei nackte Oberkörper unter den anderen.

Wieder fühlte er diese Wärme, die auch das eiskalte Wasser, das er sich ins Gesicht warf, nicht schwächte.
„Du Armer! Aber weißt du, wenn es mit dem Singen wirklich nicht klappt“, sagte der Schmale neben ihm, der sich konzentriert die schwarzglänzenden Locken kämmte, „dann kannst du immer noch Karriere als der gesündeste Mensch der Neuzeit machen“.

Hugo, der gerade mit einer giftig blauen Tinktur gurgelte, sprudelte etwas hervor, das plötzlich abbrach.
„Ich…ich habs verschluckt“, flüsterte er. Das saftige Gewieher des Schmalen hallte von den Kacheln wider. Hugo musterte ihn tückisch.
„Er ist ja heute blendender Laune, unser…Werni!“
Das Gelächter erstarb sofort. „Werni“ war die unbezahlbare Beute des gestrigen Sonntags, an dem die Mama des Schmalen, bis dahin nur Mythos, auf der Durchreise in die Schweiz, leibhaftig in der Regina erschienen war.

Sie waren nach der Messe die Treppe zur Aula heruntergekommen, als sich über das Stimmengewirr ein machtvolles Organ erhoben hatte, das Anderl träumerisch berührte. Es glich aufs Haar der Stimme des Schmalen, der ahnungslos neben ihm ging. Mühelos übertönte das Organ den Lärm in der großen Halle -„Werni…Werni… hier!“ Es rief beim Schmalen sofort eine kalkige Blässe und zwei brennende Flecken auf den Wangenknochen hervor. Wie ein Schlafwandler war er durch die grinsende Menge auf die winkende, monumentale Gestalt im Lodenmantel zugegangen. 

Sie stand beim Haupteingang, flankiert von der Däumlingsfigur des Generalpräfekten. Anderl, der um jede Mutter einen weiten Bogen machte, von Herzen dankbar dafür, dass sich seine eigene nie im Internat blicken ließ, sah den Schmalen davonziehen und wollte sich erbarmungsvoll seitwärts in den Gang zum Speisesaal schlagen.

Doch Hugo, glucksend und mit funkelnder Brille, zog ihn mit auf das mütterliche Monument zu, das den auffallend schmal wirkenden Sohn an sich gepresst hielt. Seltsam kontrastierte dessen mediterrane Bräunlichkeit, jetzt allerdings kalkig gefleckt, mit der nordischen Mutter-Wucht, dem aschblonden Haar über dem schweren Bäuerinnen-Gesicht, in dem sich nichts regte als die immer wieder oben kippenden Augen und der breite, tragisch herabgezogene Mund. 

Dieser bewegte sich pausenlos, in unablässiger Rede ohne Punkt und Komma. Mit Hugo näherkommend, hörte Anderl wieder die Stimme, die der des Schmalen so ähnelte, nur angereichert durch ein klagendes Tremolo und den Pfeifton ihres Asthmas:

„Na ist das eine Überraschung, mein Bub, ich freu mich ja so, obwohl die Aufregung für mein Asthma, aber davon wollen wir jetzt nicht reden, mein Gott, ich weiß schon, dass du Werni nicht magst, das ist mir so rausgerutscht, das macht doch nichts, mein Gott, jetzt sagen Sie bloß, lieber Pater – äh, so ein sturer Bub, ist er bei Ihnen auch so bockig, Werner, hast du die zwei Hemden nicht gekriegt, die ich dir geschickt hab, mein Gott, da schickt man und schickt man, was, du hast es an, lass anschauen, warum denn das Grüne, ja magst du das Blaue denn nicht, es war so teuer, mein Gott, dir möcht ich es einmal recht machen, was, warum gleichzeitig, ja sei nur recht frech zu deiner Mama, hoffentlich bist du hier in der Anstalt nicht auch so unverschämt, passen Sie nur auf, lieber Pater- äh, dass er Ihnen nicht ausreißt so wie mir, und dann ist er krank geworden, halb tot haben sie ihn mir wieder gebracht, mein Gott, schlecht schaust du wieder aus, wie gespuckt und was sind das für Flecken, hast du Fieber, mein Gott, was für ein Sorgenkind, wer sind denn die zwei, so deine Freunde, warum stellst du sie mir nicht vor, der Hugo aha, na, ist das charmant, Handkuss, klein aber oho, warum machst du sowas nie, ach und der Anderl, guten Tag, mein Gott, schaut der jung aus, und ihr geht wirklich in dieselbe Klasse, gell, du hältst dich aber schon auch an die Älteren, unreif bist du selber, so und jetzt gehen wir schön essen, mein Gott, natürlich kommen deine Freunde mit, keine Widerrede, mein lieber Pater – äh, ein bissel flexibel muss man auch an Ihrer Anstalt sein, mein Gott, diese Diskussionen, wo doch draußen das Taxi wartet…“

Kraft ihrer vereinten, des Generalpräfekten, Hugos und Anderls Gegenwehr, war sie dann doch nur mit dem Schmalen im Schlepptau davon gerauscht. Achselzuckend hatte sie die Aura von Chaos und Macht, einer steinernen Ungerührtheit, die im Zentrum ihrer klagenden Turbulenzen lag, aus der Aula abgezogen, die plötzlich leer und still wirkte.

Anderl war entschlossen gewesen, über den trübseligen Vorfall nie mehr ein Wort zu verlieren, doch hätte er sich ja denken können, dass Hugo bei nächstbester Gelegenheit das als Munition verwenden würde. Tiefgetroffen sah der Schmale Hugo an, seine warmen Tieraugen trübten sich, die zwei Flecken glühten erneut in vorwurfsvollem Rot.
„Mann, bist du gemein…ich hack ja auch nicht auf dir rum mit deiner Mutter!“
„Doch – immer!“
„Ach, bloß weil ich sie paarmal nachgemacht habe…ich find sie halt so lustig…da, schau“, jammerte der Schmale, seine Flecken vor dem Spiegel betastend, „jetzt hab ich wieder meine Mama-Allergie!“
„Ich find deine Mutter eben auch so lustig“, verteidigte sich Hugo. Der Schmale betrachtete sich grämlich im Spiegel. „Dabei hab ich mich so wohl gefühlt…ich hatte einen wunderbaren Traum, wunderbar…außerdem auch wahnsinnig wichtig…und jetzt das, du Sack!“

Um sie herum leerte sich der Waschraum. Frischgewaschen und gekämmt, die Pyjamajacken über die Schultern gehängt, traten ihre Klassenkameraden den Zug in die Gegenrichtung an. Ihre Zurufe schallten draußen auf dem Gang, Türen schlugen. Versöhnt durch Hugos teure Hautcreme, vorsichtig auf die Mama-Allergie getupft, ließ sich der Schmale dann herbei, seinen Traum zu erzählen.

Er, Schmaler, hatte geträumt eine Gebirgslandschaft, ein Schweben von Gipfel zu Gipfel hatte er geträumt, schließlich den allerhöchsten Gipfel hinauf, auf dem ein riesenhaftes Gebilde gestanden hatte: gigantische Buchstaben aus Stein, jeder einzelne hoch wie ein Turm, hinter denen die Sonne aufging und dazu Fanfarenklänge, höchst feierlich, während er darauf zuflog. Die Riesenbuchstaben bildeten den Satz SEI PERMISCH ; er war dann oben auf dem ‚P‘ gestanden, uralten, verwitterten Steinquadern; ein seltsames Zischen sei in der Luft gewesen und tief, tief unter ihm die ganze Welt, klein wie eine Puppenstube…

„Das klingt jetzt alles so dürftig, aber es war einfach großartig. Ich habe ganz deutlich gefühlt, wie wichtig es ist, versteht ihr?“, murmelte der Schmale unsicher.
Grundlose Bedenken. Anderl und Hugo zeigten sich tief beeindruckt. SEI PERMISCH – eine bedeutsame Forderung, ein Kommando voll Tiefe und Nachdruck, richtungsweisend und doch voller Rätsel, ha, ein Imperativ, von dem sie sich direkt aufgerufen fühlten!

Draußen auf dem Gang war es still geworden. Sie waren eifrig dabei, das Wort „permisch“ zu entschlüsseln. Assoziationen zu einer Stadt in Russland, dem Namen eines Erdzeitalters tauchten auf und wurden wieder verworfen. Die Erotik der geheimnisvollen Weisung erhöhte sich dadurch ungemein.

Anderl brach zu der These durch, dass die Bedeutung von PERMISCH vielleicht noch gar nicht existiere, erst geschaffen werden müsse und das sei doch das Wundervolle.

„Was macht ihr denn noch hier? Jetzt aber schleunigst auf eure Zimmer!“, brachte P. Waggerl, der in der Tür erschienen war, die Bedeutung eines anderen Imperativs in Erinnerung. Dann nahm ihm der Imperativ selbst das Wort aus dem Mund. Wieder beherrschten die Klingeln das Haus, während die drei durch den Gang zurück zu ihren Zimmern eilten. In der tiefen Stille nach ihrem Verstummen war der nächste Schlag des Großen Taktells zu spüren – 6 Uhr 30. Frühstudium!

Die Schlafsäle und Waschräume lagen dunkel und leer. Jetzt trat der Studienflügel in seine wichtigste Funktion. Überall in seinen erleuchteten Studiersälen oder Zimmern, in langen Reihen oder fürstlich vereinzelt, blankgestriegelt oder verquollen, zehn- oder zwanzigjährig, saßen an die vierhundert Zöglinge an den Pulten oder den Schreibtischen und begannen mit dem, was sie jeden Tag zusätzlich zum Schulbesuch genau fünf und eine halbe Stunde lang taten: sie lernten.

Nach kurzer Zeit geschah eine schwer greifbare Verwandlung der Stille, die in dem alten Haus stand. Was nur Abwesenheit von Geräusch gewesen war, lud sich mit einer fein singenden Spannung auf. Das ‚Stillschweigen‘ breitete sich im Studienflügel aus. 

In diesem jesuitischen Konzentrat von Ruhe vollzogen in allen Stockwerken die Zöglinge den ersten Schritt in den neuen Arbeitstag. Schließlich taten das auch die drei Nachzügler aus dem zweiten Stock, die endlich in die Kleider gekommen waren und sich an ihre Schreibtische bequemten.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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