Print Friendly, PDF & Email

Bettina Maria König
Alles wird gut.
Short Story

Serges Abgang aus meinem Leben bescherte mir einige Entzugserscheinungen; zum einen eben wegen der besagten Leere, die er hinterließ. Zum anderen aber auch ein bisschen körperliche, denn ich merkte erst im Nachhinein, wie trinkfest ich durch seine Gesellschaft und die seiner Kegel-Kumpane geworden war. Nicht jetzt in dem Sinne, dass ich zur Alkoholikerin geworden wäre. Aber doch so, dass in den Abendstunden regelmäßig ungefragt die Lust auf einen Cocktail oder Weißgespritzten auftauchte – genau zu jener Uhrzeit, in der sonst immer Serge vorbeigekommen war.

Anfangs gab ich der Lust noch nach, aber so alleine machte mir das Süffeln keinen Spaß. Und so sprach ich denn eines Abends ein Machtwort zu mir selbst, schüttete den bunten Inhalt meiner kleinen Hausbar ins Waschbecken und stieg auf Tee um. Noch nicht gleich auf die harte Tour, es war also kein Früchtetee – sondern Grüntee. Gleichzeitig beschloss ich, jegliches männliche Element aus meinem Leben, zumindest für eine Zeitlang, zu verbannen (wieder mal) und mich nun ganz darauf zu konzentrieren, mein Studium zu beenden.

Ich befand mich mittlerweile in meinem 22. Lebensjahr, und es war nicht nur an der Zeit, einen Schlussstrich unter alle die unglücklichen Lieben zu ziehen, sondern auch unter mein Studentenleben. Denn – auch wenn es dem werten Leser vielleicht anders erscheinen mag – ich hatte mich in den letzten Jahren seit meinem Unistart mit 17 nicht nur in Sachen Männer, sondern sehr wohl auch unimäßig voll engagiert und ging nun meine Abschlussarbeit an.

Als Titel meines Elaborats hatte ich passenderweise „Das Frauenbild in den Romanen von Jane Austen“ gewählt – eine Schriftstellerin, die ich glühend verehrte und der ich in meinen heimlich nächtens erstellten, von Romantik triefenden Kurzgeschichten nacheiferte. Der Professor hatte mein Thema wohlwollend akzeptiert, nicht ohne eine spitze Bemerkung über die mangelnde Originalität des Sujets, und entließ mich mit guten Ratschlägen in die Recherche- und Vorbereitungsphase. Gleichzeitig warf ich mich mit Elan in die allerletzten Prüfungsrunden meines Studiums.

Bea, die von der Hochzeitsreise zurückgekehrt war und nun mit Kugelbauch in ihrem Zimmer Bücher, Kleider und Nippes in große Umzugskartons schlichtete, meinte, sie erkenne mich gar nicht mehr wieder, und dass mir diese ausschließliche Ausrichtung auf die ernsten und wirklich wichtigen Dinge des Lebens ausnehmend gut stehe. „Du wirst wohl endlich erwachsen“, murmelte sie noch, bevor sie mit einer Handvoll Tüten im Aufzug verschwand.

Ich konnte ihr nicht böse sein, denn wahrscheinlich hatte sie ja recht: Ich hatte in meinem bisherigen Leben so viel Zeit und Energie auf falsche Männer verwendet, die ich woanders zielgerichteter hätte einsetzen können. Ohne die Riege der Julians, Bens und Serges und wie immer sie geheißen hatten, hätte man mir wohl bereits den Nobelpreis in Literatur überreicht. Als jüngster Preisträgerin ever. Egal, dann machte ich das halt jetzt wett und fing an, mich durch Tonnen von Literatur zu lesen. Dann sollte ich halt die schnellste Dissertationsschreiberin aller Zeiten werden, dachte ich trotzig.

Wie lange sich Bea auch Zeit lassen mochte und absichtlich Kartone ein- und wieder auspackte, irgendwann kam der Tag, an dem das letzte Regal geleert und die letzte Schublade ausgeräumt war. Der Möbelpacker hatte alle Kisten mitgenommen und samt ein paar persönlichen Möbelstücken aus dem Besitz von Bea in ihr neues Heim verfrachtet. Das ehemals so vollgestopfte Zimmer gegenüber dem meinen wirkte nun kahl und verlassen.

Meine BFF saß erschöpft und etwas verloren auf dem Lehnstuhl im Erker und kämpfte mit den Tränen. „Du wirst mir fehlen, mein Dummerchen“, schluchzte sie schließlich, und das waren sicher nicht nur die Schwangerschaftshormone. Mir rannen bereits Sturzbäche aus den Augen, denn ich muss leider gestehen, dass ich von Natur aus recht nahe am Wasser gebaut bin. Ich weiß nicht, ob Sie das schon festgestellt haben, deshalb wiederhole ich es lieber nochmals.

In früheren Zeiten hätten wir wohl eine Cocktailparty geschmissen – jede Gelegenheit zum Feiern ist ja im Leben recht und billig. Aber jetzt umarmten wir uns nur fest und innig und versprachen einander, uns nie aus den Augen zu verlieren und immer in Kontakt zu bleiben. Immer, komme was wolle! Und das inkludierte auch etwaige Geburten, wie jene, die Bea nun bald bevorstand. Und natürlich auch Studienabschlüsse, wie Bea sich noch beeilte hinzuzufügen. Dann drückte sie mir ihre Wohnungsschlüssel in die Hand, wischte ihre Wangen notdürftig trocken und schloss die Tür von außen. Es herrschte Stille.

Wie still Stille sein kann, wurde mir in den kommenden Wochen klar. Nicht die Stille, die man eines Abends überraschend erlebt, wenn die BFF für ein paar Stunden bei ihrem Freund weilt. Nicht die Stille, wenn man nach einem bewegten Abend heimkommt und sich langsam fürs Bett bereit macht. Diese Stille kann man genießen, denn man weiß genau: Sie ist nicht von Dauer. Aber nun  erlebte  ich eine wirkliche, unbarmherzige Stille – die, wenn einem plötzlich bewusst wird, dass das jetzt für immer so bleiben könnte. Eine Stille, die Panik auslöst! Eine Stille, die einen vom Alleinsein zur Einsamkeit hinübergleiten lässt!

Vielleicht war das ja der Grund, weshalb ich eines Tages auf einen Brief von Julian antwortete. Denn so harsch ich ihn am Tag von Beas Hochzeit auch behandelt hatte – Julian war wie ein Bumerang, er kam immer wieder zurück. Unter den fadenscheinigsten Gründen hatte er sich auch in den Wochen danach gemeldet, mich angerufen und mir geschrieben.

Er wolle nur wissen, wie es mir gehe, war sein schlagendes Argument, und dabei berief er sich auf den Fuchs im „Kleinen Prinzen“, einem gemeinsamen Lieblingsbuch: Man sei zeitlebens für das verantwortlich, was man sich vertraut gemacht habe, zitierte er Antoine de Saint-Exupéry, und dieses plötzliche Verantwortungsgefühl machte mich misstrauisch. Das war auch der Grund gewesen, warum ich auf seine konstanten Annäherungsversuche bisher nie eingegangen war. Ich hielt ihn lieber auf Abstand und antwortete nur, wenn es unumgänglich war – etwa, wenn er mich am Telefon überraschte (für meine jüngeren Leser*innen: Die überaus praktischen Displays mit Nummernanzeige gab es damals leider auch noch nicht). Noch einmal wollte ich mir von diesem Mann nicht wehtun lassen.

Aber eines Tages, als die Stille in meiner Ex-WG und neuen Einzelwohnung besonders drückend auf mir lastete, nahm ich ein Blatt Papier und schrieb einen Brief an Julian. Das Blatt genügte nicht, es wurde ein langer Brief, in dem ich mir alles von der Seele schrieb, was ich ihm ankreidete: alle Verletzungen, Enttäuschungen und allen Verrat.

Dann ging ich zur Post und gab den Brief auf. In dem Moment, als er im Briefkasten verschwand, ergriff mich Panik, und ich versuchte verzweifelt, ihn wieder rauszufingern. Was ich sofort aufgab, als eine ältere Dame vorbeikam und mich sehr streng ansah. Ich gab mein Schicksal also in die Hände des Postboten, der mein emotionales Werk in Kürze zustellen würde, und versuchte mich in Pragmatismus. „Wie’s kommt, kommt’s“, dachte ich bei mir, „Hauptsache, ich bin nicht still geblieben.“ Aber ich glaubte mir selber nicht.

Gleich am nächsten Tag geschah – nichts. Und auch nicht am Tag darauf und dem danach. Als ich zwei Wochen lang nichts von Julian gehört hatte, ließ meine Anspannung nach, und ich ging allmählich zur Tagesordnung über. Nach zwei Monaten hatte ich fast vergessen, dass ich diesen Brief jemals geschrieben hatte. Auch, weil ich mich inzwischen durch Frau Austens Ergüsse gekämpft und damit begonnen hatte, meine Analyse ihrer Frauenfiguren in eine wissenschaftliche Arbeit zu gießen, wobei ich wirklich erstaunlich schnell vorankam.

Ich war gerade beim literaturwissenschaftlichen Check von „Überredung“ – übrigens ein sehr empfehlenswertes Buch, in dem es von analysierbaren weiblichen Charakteren nur so wimmelt -, als es an der Tür läutete. So zaghaft, dass ich es fast überhört hätte. Eher widerwillig legte ich den Roman zur Seite und sicherte meine Datei in einem Ordner des Computers – übrigens ein unglaubliches Ungetüm von einem PC, der meinen halben Schreibtisch einnahm und den ich dennoch als bestaunenswertes Wunderwerk der Technik empfand. Dann schlurfte ich zur Tür und blickte durch den Gucker.

Draußen stand Julian, und ich rang eine Minute mit mir selbst, ob ich nicht einfach so tun sollte, als ob niemand daheim wäre. Aber natürlich öffnete ich doch. Als ich ihn so vor mir stehen sah, wie immer ganz in existenzialistisches Schwarz gekleidet, einen schicken Schal wie spontan um den Hals gewickelt (ich wusste allerdings, dass jede Falte Berechnung war, so gut kannte ich ihn inzwischen), meldete sich mein Magen und meine Knie wurden weich.

„Komm rein“, konnte ich noch hauchen, und bat ihn in Beas ehemaliges Zimmer, das ich mittlerweile zum Wohnzimmer umfunktioniert hatte. Dann ließ ich ihn dort alleine, ging in die Küche und kochte erst mal Grüntee. Einmal, damit meine Hände beschäftigt waren, und zum zweiten, weil ich so etwas Zeit gewinnen konnte, um zur Besinnung zu kommen.

Als sich das Wasser dampfend in die Teetassen ergoss, war mein Kopf tatsächlich wieder klarer. Ich setzte mich Julian gegenüber, reichte ihm eine Tasse und fragte: „Und? Warum bist du hier? Was hast du mir zu sagen?“.

Julian studierte intensiv seine Fingernägel. Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte er auf und sah mir direkt in die Augen: „Weißt du…“. Pause. Wieder die Fingernägel. „Ich habe jetzt ja viel Zeit gehabt nachzudenken.“ Wieder Pause. Wieder die Fingernägel, auf die ich langsam wütend wurde. Ich hielt mich mühsam zurück. Zum Glück hatte ich dem Grüntee ein Beutelchen „Finde-zur-inneren-Ruhe“-Tee dazu gegeben. „Du fehlst mir unsäglich“, rang er sich endlich durch zu sagen. „Du bist die Frau meines Lebens, meine Seelenverwandte.“ Es folgte wieder eine Runde Fingernägel-Prozedur.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, ein ungeduldiges „Und?“ einzuwerfen. Pause.
Ich dachte schon, das war’s jetzt, da fing er wieder an zu sprechen. „Ich will dich wiederhaben! Komm wieder zurück zu mir!“, flüsterte er so leise, dass ich es kaum verstand. Und jetzt hob er den Blick und sah mich unverwandt an.

Ich schob den Gedanken beiseite, dass ja nicht ich ihn verlassen hatte, sondern er mich. Weshalb mich seine Formulierung etwas irritierte. Aber das tat der Wirkung der beiden Sätze keinen Abbruch, sie erwischten mich direkt in der Magengrube. Und so sehr ich mich auch bemühte, dem Motto des Tees zu folgen und vor allem Julian gegenüber cool zu erscheinen, nach allem, was er mir angetan hatte – die Emotionen, die er gerade ausgelöst hatte, waren zu stark.

Es kam alles hoch: Die Zurückweisungen, die Unsicherheiten, die Einsamkeit der letzten Tage. Ich konnte nicht anders, ich heulte mal wieder wie ein Schlosshund. Wenn sie, liebe Leserin und lieber Leser, nun genervt mit den Augen rollen, dann halten sie mir bitte mein damals immer noch recht jugendliches Alter zugute und seien Sie gnädig.

Frauentränen sollen ja eine starke Waffe sein, sagt man. Das kann ich eigentlich nicht bestätigen. Ich bin in meinem Leben auf etliche Eisklötze gestoßen, denen ich eine ganze Donau vor die Füße hätte weinen können, es hätte sie nicht weiter berührt. Aber in diesem einen Moment, als ich mit Julian auf meiner Couch in meinem Studentenwohnzimmer saß, da funktionierten die Tränen. Wahrscheinlich, weil sie alles andere als geplant und berechnend waren.

Julian nahm mich zärtlich und vorsichtig in die Arme, küsste mich auf Stirn und Haare und sagte diesen einen Satz, auf den ich Monate gewartet hatte: „Nicht weinen, es wird alles gut! Du bist jetzt nicht mehr alleine!“.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Bettina Maria König

Bettina König wuchs als Tochter eines tüchtigen Apothekers im sehr fernen Außerfern auf, wo es ihr aber bald zu kalt und provinziell wurde. Sie flüchtete nach Innsbruck und mutierte via Studium zum Dr. phil., um postwendend in die Riege der „Tirol Werber“ aufgenommen zu werden. Als das Bedürfnis nach Wärme noch größer wurde, nahm sie eine Stelle als Presseverantwortliche in Bozen an – nicht ahnend, dass es dort mit der Provinzialität noch schlimmer bestellt ist als im heimatlichen Reutte. Dem Berufsbild des professionellen Schreiberlings treu bleibend, durchlief sie in Südtirol mehrere Positionen und war zwischendurch auch freiberuflich als PR-Fachkraft, Journalistin und Texterin tätig. Das Bedürfnis nach kreativem Schreiben befriedigte sie unter anderem durch die Herausgabe eines Kinderbuchs („Die Euro-Detektive“) für eine Südtiroler Bank. Derzeit zeichnet sie für die Unternehmens-Pressearbeit von IDM Südtirol verantwortlich, hat die kreative Schreiblust aber immer noch nicht gebändigt. Zwei erwachsene Kinder.

Schreibe einen Kommentar