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Markus Fenner
Amassas Zeit
Roman in Fortsetzungen
5. Folge
Die Affaire Pekoy

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Fünf höhere Schulen gab es in Valduns, und das in einer Gemeinde von nicht einmal 20 000 Einwohnern – zu Recht wurde Valduns das Studier-Städtle genannt. Das schulische Angebot war als erfreulich anzusehen, das räumten sogar die kritischen Beobachter an der Regina ein, die sich vor allem für die weiblichen Ausbildungsverhältnisse interessierten, unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung von Verhältnissen mit der Weiblichkeit. 

Neben den zwei eingeschlechtlich geführten geistlichen Instituten, die nicht in Betracht kamen, gab es immerhin drei Schulen, die herrlich gemischt und wundervoll weltlich waren und mehr als genug Mädchen ins Angebot einbrachten, freilebende, an den Umgang mit Jungen durchaus gewöhnte Mädchen. 

Die hübschesten und freiesten Exemplare brachte das Landesgymnasium am Krahlsberg hervor, das war statistisch belegt. Allerdings waren sie mit beklagenswerten Vorurteilen gegenüber den Caelanern behaftet, die bei ihnen unter dem humanistisch gebildeten Schimpfnamen Caeloten liefen.

Die zweite geistliche Schule neben der Regina war das Institut Heiliger Joseph, ein von Nonnen geleitetes Mädcheninternat auf halber Höhe des Wehnesbergs. Sein wuchtiges U-förmiges Gebäude wirkte im Vergleich zu der lagernden Masse des Jesuitenzwingers unten im Tal freilich nur wie ein Zwingerchen.

Die Heiligkeit war tatsächlich Programm, wie jedem Betrachter klar wurde, der die grämlich gehaltenen, uniformierten Welpinnen aus dem Zwinger gesehen hatte. Ab und zu erschienen sie in der Stadt in gesichtslosen Pulks, blauer Rock, weiße Bluse, interpunktiert vom Ausrufungszeichen der Krawatte, und das Ganze noch einmal in Gänsefüßchen gesetzt durch das Schwarz zweier Nonnen mit Habichtaugen.

Warum hatte sich Pekoy nun gerade darauf versteift? Kam er bei den Schönen vom Landesgymnasium nicht über die Caeloten-Hürde? Suchte er die größere Herausforderung? – Jedenfalls gelang es ihm, die schwarzen Gänsefüßchen zu umgehen, er löste eine Welpin aus dem weißblauen Kollektiv so weit heraus, dass sie sich ihm vereinzelte, und drang durch zu dem, was auch bei einer Welpin unter der dunkelblauen Krawatte pocht.

Pekoy ging noch weiter. Er setzte fortschrittliche Technik ein und beschaffte zwei Walkie-Talkies, eines für sich, eines für die Welpin. Räumliche Entfernungen sind in Valduns das kleinste Problem und vom Klo im vierten Stock des Studienflügels aus pflegte er jeden Tag zu festgesetzter Zeit Funkverbindung. „Maria ruft Joseph“ und „Joseph ruft Maria“ antwortete, ebenfalls von einem Klo aus, die kühne Welpin. Humor hatten die beiden offenbar auch.

All dies war natürlich fürchterlich geheim. Es wurde einem kleinen Kreis von Mitwissern erst im Zuge eines Verhängnisses bekannt, das in einem anderen Zusammenhang entstanden war. Doch führte es schließlich dazu, dass an einem wintertrüben Januartag in dem neuen Jahr 1969 Pekoy neben hastig gepackten Koffern im Zug nach Salzburg saß und mit großer Geschwindigkeit außer Kurzwellenreichweite geriet.

Begonnen hatte das Verhängnis in der Vornacht damit, dass er am Fuße einer Eisensäule angetroffen wurde. Die Säule stand in dem großen Hof vor dem Studienflügel, der durch einen mit Eisenspitzen bewehrten, trotzdem nicht ernstzunehmenden Zaun vor der andrängenden Altstadt von Valduns geschützt ist. 

Pekoy, der von einem Faschingsball kam, wollte an der Säule zur Galerie im ersten Stock des Studienflügels hinaufklettern, um von dort in sein Zimmer einzusteigen. Es war sein gewohnter Weg bei derartigen Exkursionen, nur wurde er diesmal vom Presskopf, der ebenfalls aus der Stadt heimkehrte, erwischt, als er gerade den schlanken Eisenstamm zwischen die Beine nahm.

Presskopf, ein tschechoslowakischer Pater mit dem bürgerlichen Namen Wlk, entfesselte ein Höllenspektakel, böhmisch gefärbt. Es galt nicht dem Pekoy, der resigniert, doch in guter Haltung an der Säule stehenblieb, sondern den Beinen seines Kumpanen, die sich oben auf der Galerie strampelnd übers Geländer kämpften, wie sehr der Pater sie auch beschwor: „Dohir bleib, dohirr sog ´ch, kommst du zerrick, Deiflsbrodn!“

Die Beine verschwanden in der Dunkelheit und blieben unidentifiziert. Eine Razzia durch die gesamte Oberabteilung kam zu spät. In allen Zimmern hoben sich nur großäugige Engelsköpfe von den Kissen. In dunstiger Frühe trat die Obrigkeit zum Standgericht zusammen. Der Fall war zwar sehr bedauerlich, aber unkompliziert, da Pekoy schon im Vorjahr nur durch besonderen Gnadenerlass an der Relegation vorbeigeschrammt war. 

Nun sah man sich endgültig gezwungen, ihn der Außenwelt, für die er solch unbezähmbares Interesse zeigte, zu überantworten. Seufzend, denn einen Zögling wie Pekoy ließ man ungern ziehen, forderte man ihn auf, die Koffer zu packen.

Durch die Regina ging ein Donnerschlag. Ein Rausschmiss war immer eine große Sache, doch hier ging es nicht nur um eine kleines Nichts aus dem Souterrain des Stockes. Wann hatte jemals schon eine Persönlichkeit aus der erlauchten Oberabteilung, sogar der Maturaklasse, die Koffer packen müssen?… Die Chronisten wollten sich an einen nebelhaften Fall aus der Vorkriegszeit erinnern.

Der ganze Stock summte und schwirrte vor Erregung. Für die Kleinen war es natürlich ein Fest, wollüstig kosteten sie den dumpfen Bumms aus, mit dem sich ein Halbgott aus den oberen Sphären da in den Staub gebohrt hatte, in dem sie tagaus, tagein ihr Leben zubrachten. 

In den höheren Klassen nahm es menschlichere Züge, in der Oberabteilung schon die der Betroffenheit an. Bei den Klassenkameraden von Pekoy sah man nur versteinerte Mienen. In der großen Pause standen sie abseits vom Gesumme im Schulhof, in düsteren Gruppen und schwer nickend wie ein griechischer Chor. Ein Kamerad, eine Bruderexzellenz dahingerafft und obendrein auch noch Pekoy, Fürst unter den Exzellenzen, Pekoy der Glänzende, der Schwierige… einer ihrer, wenn nicht der Beste überhaupt!

Das Blöde an der Achten war, dass sie zwar den Faltenwurf, aber nicht die Redseligkeit eines Tragödienchores entwickelte. Die Achte hielt dicht, teilnahmsvolle Erkundigungen wurden mit Verachtung gestraft. Gegenüber den unteren Chargen gehörte sich das auch so. Dass aber auch Leute aus der Siebten, Oberabteilungs-Mitglieder immerhin, nichts Genaues erfuhren, das war ja wohl reichlich verkrampft.

Man wusste nicht einmal, wer der Spießgeselle gewesen war, dessen Preisgabe Pekoy vor dem Standgericht mit schlanker Gebärde abgelehnt haben soll – „Meine Herren, bemühen Sie sich nicht! – „Wahnsinn, aber das hat ihm natürlich das Genick gebrochen“ – „Überhaupt nicht, der P. Franck hat eine Rede gehalten, dass das doch für dem Pekoy seinen Charakter spricht – Wisst ihr, dass das Frugilein geheult hat, richtig ge-heult? – Wo hast du denn den Blödsinn her, er hat nur seinen Rücktritt als OA-Präfekt angeboten! – Ach, und woher weißt du das?“

Hugo hielt sich abseits vom Gesumm, er beteiligte sich nicht an den leidenschaftlichen Gesprächen. Zum Sturz vom Pekoy hatte er nichts zu sagen, obwohl ihm einiges dazu einfiel, aber das war das Falsche: dass Pekoy eben zu den Säcken aus der Achten gehörte, in deren Gehirnen die Erinnerung an die Hugolaus immer noch klebrige Fäden zog. Und dass er einer der Schlimmsten gewesen war.

In Hugos Alptraumrepertoire, mit dem seine Vergangenheit in der alten Klasse ihn nächtens wieder einholte, war jene Szene ein festes Motiv, in der Pekoy einmal die Laus zum Mann und Menschen zu erziehen versucht hatte. In den verschiedensten Zusammenhängen konnte das wieder auftauchen, Pekoys halb zur Seite gewandtes Gesicht, das ganz nah auf ihn zukam, mit den irre nach oben gedrehten Augen, dem verzerrten Mund, der heiser zischte: „Schau, ich machs dir leicht, jetzt hau zu, trau dich, zuhauen, sag ich, du Stück Scheiße, hau endlich zu“…

Die letzten vier Monate zusammen mit Anderl und dem Schmalen waren die glücklichsten in seinem Leben an der Regina gewesen. Aber begonnen hatte dieses Leben überhaupt erst damit, dass er in der Fünften durchgefallen war. Davor, in seiner alten Klasse, war nur ein in den ersten Jahren angsterfülltes, später schmachvolles Vegetieren gewesen, bis ihn dann die erbarmungsvolle Peristaltik des Schulversagens eingesaugt und in die nächstuntere Welthöhle des Regina-Kosmos´ versetzt hatte. 

Dort fand er sich in einem funkelnagelneuen Lebensraum wieder, wohin kein Ruch von der Hugolaus gedrungen war. Dort ließ sich eine bereits weitgehend zivilisierte Gemeinschaft willig belehren, wer dieser kurzgewachsene Neuzugang war – Hugo der Sänger und nichts anderes.

Dass gerade der Aufstieg in die Oberabteilung ihn wieder mit den Repräsentanten seiner lausigen Vergangenheit zusammengebracht hatte, war eine Ironie, die ihm anfangs die Freude an den Privilegien im gläsernen Hochgeschoß des Stockes vergällt hatte. 

Doch es zeigte sich, dass nach acht Jahren hierarchischer Abschottung die neue Maturaklasse nichts von plötzlicher Brüderlichkeit in der Abteilung hielt. Man hielt auf Distanz gegenüber der Siebten; über gelegentliche Geselligkeit in Aufenthaltsraum und Raucherzimmer ging es nicht hinaus, ein Unfug, auf den Hugo ohnehin leicht verzichten konnte. Die Exzellenzen blieben unter sich in ihrem eigenen Stockwerk, in ihrem Waschraum und nahmen auch das Essen in ihrem eigenen Speisesaal ein. Hugo sah sie immer nur von weitem.

Damit war zu leben. In vier Monaten gingen die Säcke ohnehin in die Matura und würden verschwinden, endgültig halleluja! Der Pekoy, diese zum hoffnungsvollen jungen Mann mutierte Bestie, hatte, wenn man Hugo fragte, den preiswürdigen Abgang eben etwas früher gemacht… aber das war wohl kein zulässiger Standpunkt?

In der allgemeinen Ereiferung über Pekoys Schicksal wurde er von Phantasien heimgesucht, wie seine ganze alte Klasse schön aufgereiht an der Eisensäule Schlange stand, nur um von dem böhmisch spektakelnden Presskopf erwischt und zum Standgericht abgeführt zu werden, einer nach dem anderen; bedrückenden, weil doch zutiefst lausartigen Traumbildern, über die nicht zu reden war, nicht einmal mit Anderl, der ihn zum Mittagessen abgeholt hatte.

Sie gingen über die Brücke, hinter ihnen das massierte Getrappel einer Unterklasse, die von ihren Präfekten zum Essen geführt wurde. Hugo verlangsamte das Tempo, da er die Gruppe von Exzellenzen, die vor ihnen dahintrottete, nicht zu überholen wünschte. 

Bei ihnen war auch Samy, der als einer der wenigen bei den Exzellenzen anerkannten Siebtklässler, mit Selbstverständlichkeit an dem leisen Gespräch teilnahm. Da der lange Culk, bester Freund des verblichenen Pekoy, das Wort führte, war klar, worüber sie redeten.

Hugo fand es erleichternd, dass Anderl, langstielig neben seinen eigenen kurz gestochenen Bühnenschritten einherlatschend, über Schüttelreime sprach, eine Hugo herzlich gleichgültige Versart. Doch jetzt war er froh darüber, wie der Freund sich darüber verbreitete. In seiner Mischung aus Stumpfsinn und Vertracktheit, behauptete Anderl, übe der Schüttelreim eine nervenzerrütttende Faszination aus. „Ich hab mich gestern das ganze Strengstudium damit rumgequält. Hör mal… Ich bin vom Schlag der Dichterlinge / doch fehln im Kopf die Lichterdinge …findste das?“
„Aua“, sagte Hugo.
„Na gut, aber ich sag dir, das ist auch wahnsinnig schwierig. Weiter…Wo ich mir meine Märchen klau / das findt sogar mein Klärchen mau“.
Sie durchquerten die Aula und bogen in den langen Gang zu den Speisesälen ein. Hugo fand das schon besser.
„Haha, pass auf, die Krönung…Jetzt geht es mit dem Mädel schief / und schuld ist nur mein Schädelmief… nicht schlecht, was? Du Ignorant, das sind kleine Wunderwerke, gemessen an der Abgefeimtheit des Schüttelreims!“

Hinter ihnen rappelten die Kleinen in ihren Saal, die Exzellenzen waren, wohl Samy zuliebe, vor der Tür ihres Saales stehengeblieben, der von Subexzellenzen nicht betreten werden durfte. Culk redete bleich und stoßweise auf Samy ein, der, bei ihm ein ungewöhnlicher Anblick, ein ernstes Gesicht machte.
„Schau dir das an. Die Bürger von Calais sind dagegen die reinsten Juxbrüder“, war Anderls gaumige Stimme zu hören, während sie die Gruppe passierten. Culks vergrämtes Gesicht fuhr zu ihnen herum.
„Traagisch, einfach tragisch“ tönte Anderl gedehnt und nickte ihm teilnahmsvoll zu. Hugo sah vorsichtig über die Schulter auf die misstrauischen Mienen der Säcke. 

Unter dem Schreck über Anderls Frechheit, mitten aus dem Knäuel seiner widerstreitenden Empfindungen quoll ein Kichern hoch. Hastig verschwand Hugo in der Tür zu ihrem Speisesaal.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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