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Markus Fenner
Amassas Zeit
9. Folge
Boy und Männer überhaupt

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


Toni selbst verblasste sehr schnell für Anna. Zurück blieb die tief eingeätzte Erinnerung an ihre gemeinsame Tat. Sie verwandelte sich in eine grundsätzliche Aussage, in eine Art Reinschrift. Was sie dann später mit Boy erlebte, war in manchem deren direkte Anwendung.

Sie lernte Boy im Kreis ihrer älteren, nach Vaduz verheirateten Schwester kennen, wo das inzwischen achtzehnjährige Annaküken nun schon auch mit den Stummelflügeln wackeln durfte. Boy, ein trotz seines Namens sehr erwachsener Mann Ende Zwanzig, Junggeselle, erfolgreich und kultiviert, hatte bei Geselligkeiten überraschenderweise dem Küken einige Male Beachtung geschenkt; was Annas Schwester zu der ernsten Warnung veranlasste, dass Boy ein Mann sei, vor dem man sich in Acht nehmen müsse. 

Als Boy sich dann tatsächlich mit Anna verabredete, war ihre Bereitwilligkeit natürlich grenzenlos und es fanden einige gehobene Unternehmungen statt, Segelfliegen in Göfels, Oper in Bregenz, zu denen sie, ganz Crepe de Chine und Pfirsichwange, schwankend zwischen Verdutzt- und Geschmeicheltsein, im gedämpft surrenden Rover entführt wurde. Das war ja toll, wenn es ihr bloß nicht so unwahrscheinlich vorgekommen wäre.

Dieses Gefühl wurde sie auch nicht los, als die Vertrautheit zwischen ihnen zunahm und ebenso die Vertraulichkeiten, die nun immer häufiger in sanften Tropfen auf Anna niedergingen. 

Sie empfing sie zwar durchaus blütenartig, brachte es aber doch nicht fertig, dabei an eine naheliegende Vermutung im Ernst zu glauben. Wenigstens nicht bis zu jenem Abend in dem besonders feinen Restaurant vor Vaduz, an dem es eindeutig klar wurde, dass sie heute Abend aber nun verführt werden würde. 

Etwas wie Erleichterung überkam da Anna; endlich Gewissheit über den Grund, den offenbar doch völlig ausreichenden Grund für all diesen sündhaften Aufwand. Sie fühlte sich eigentlich gut aufgehoben in dieser Perspektive und in der einfachen Rolle, die sie in dem Ablauf zu spielen hatte. Sie musste ja lediglich dazu beitragen, was sie ohnehin war: jung, hübsch und hinlänglich beeindruckt, um den Ablauf nicht zu stören, für den Boy ganz allein verantwortlich war. 

So trank sie zum Zander kein Cola, sondern den Weißwein, den Boy ihr aussuchte und ließ sich von ihm nicht nach Hause, sondern in seine Wohnung bringen, an ihn geschmiegt im Rover, dessen Surren voll onkelhafter Beschwichtigungen war.

Die weiteren Ereignisse verliefen dann allerdings nicht mehr so glatt, was jedoch nicht an Boy lag. Es lag einfach daran, daß Anna aus ihrer Rolle fiel, indem sie zwar noch jung und hübsch, aber schnell immer weniger beeindruckt war von der Art, wie Boy vorging; man kann sie nur als sehr gepflegt bezeichnen. 

Dadurch reduzierte sich auch Annas mädchenhafte Nervosität, die doch so begreiflich und erwärmend gewesen war. An deren Stelle breitete sich ein kühles Staunen in ihr aus, das spätestens da zu einem heimlichen Stirnrunzeln wurde, als sie ungläubig feststellte, dass Boy, kurz im Badezimmer verschwindend, ein Mundwasser benutzt hatte. Als einige Absätze weiter unten dann die Gepflegtheit immer mehr von anderem überlagert wurde und Boy, animalisch zwar berechtigt, aber immer noch aufreizend wohlriechend auf Anna einzustöhnen begann, wuchs sich Annas Stirnrunzeln zu Unwillen aus und schließlich entschlüpfte ihr das auch noch:
„Um Himmelswillen, führ dich doch nicht so auf!“

Was für ein Skandal. Lange vermochte Anna, über ihren Fauxpas aufrichtig beschämt, den fassungslosen Boy nicht zu beruhigen. Erst das listige Geständnis, sie hätte einfach Angst vor ihm ge­kriegt, das sie mit orchideenhaftem Schaudern an seiner kalten Schulter tat, brachte die Versöhnung. Schließlich ging es weiter. 

Doch obwohl ihr daran, zwecks Wiedergutmachung, wirklich gelegen war, war die Sache verbockt. In jedem Detail spitzte der Kobold hervor. Allein die Art, wie Boy sich nun Exzessives be­herrscht verkniff, die heillos an sein dezentes Aufstoßen hinter der Serviette beim Essen erinnerte! 

In ihrem halbexaltierten Zustand balancierte sie die ganze Zeit quälend nahe entlang der Lachschwelle, so dass, als endlich Boys Erleichterung sie durchfuhr, tatsächlich Erleichterung auch sie durchfuhr.

Ihr Kontakt brach übrigens danach nicht ab. Obwohl Anna wahrlich zum letzten Male verführt worden war, zeigte Boy weiterhin Interesse. Er wurde eigentlich erst jetzt richtig warm. Es kam zu weiteren Unternehmungen, die ohne Umweg vor der Haustür von Anna endeten, welche sich hinter ihrer Minderjährigkeit und der angeblich verschärften Wachsamkeit ihrer ahnungslosen Mama verschanzte.

Obwohl sie ihr Scherflein (zahlbar in Kükenfleisch und Pfirsichhaut) also nicht mehr entrichtete, genoss sie den gehobenen Stil dieser Treffen nun ohne den Schatten einer Beunruhigung. Der Verdacht der Zechprellerei, eine wesentliche Frage immerhin für Anna, die Ehrenfrau, war zwar bei ihr schon aufgekommen, konnte dann aber rundweg abgewiesen werden.

Wie damals, als sie darauf gekommen war, dass Toni nicht wegen ihr, sondern für sich selber die Dachrinne raufgeklettert war, war das wieder ein wichtiger Augenblick, als Anna erkannte, dass man hier nicht nur Liebe als Erklärung weglassen konnte, sondern sogar sexuelles Verlangen. Denn in dieser kühlen Klarheit, die sie wieder überkommen hatte, war ganz deutlich, dass Erfüllungen, wie Anna sie geboten hatte, ganz gut zu entbehren waren. Offensichtlich kam Boy also gerade durch das, was er von ihr nicht bekam, auf seine Kosten, und wenn er auch gelegentlich seufzte, so hing das damit zusammen, daß er das (seufzen) ganz gerne tat. Sie waren also quitt.

Anna schätzte die Konstellation ziemlich richtig ein, und das ganz ohne die persönlichen Beweggründe Boys zu durchschauen, wozu ihre Menschenkenntnis auch gar nicht ausgereicht hätte. Boy hatte nämlich, wie nicht selten bei dynamischen Geschäftsmännern, in der Liebe eine Neigung zum Schöngeist und war, wenn sich die Gelegenheit ergab, der Sublimierung nicht abgeneigt.

So durchkostete er bei diesem seltsam ungerührten kleinen Mädchen, gelegentlich und zitatweise wieder die Entbehrungen des Jugendlichen und hatte auch nichts dagegen, weil er selbst keiner mehr war und sonst durchaus nichts zu entbehren hatte. Allerdings interpretierte er Anna als kühl und kapriziös, worin doch eine leise Gekränktheit anklang. Ihr Verhältnis mündete schließlich in onkelhafte Bahnen ein; so hatte das beschwichtigende Brummen des Rovers zuletzt doch nicht gelogen.

Anna nahm es tatsächlich kühl, soweit hatte Boy schon recht, wenn auch nicht damit, dass Anna kapriziös sei; eine etwas krampfhafte Umschreibung dafür, dass sie schon merkwürdig genau wusste, was ihr nicht imponierte. Sie genoss das Angebot, das Boy ihr machte, vorwiegend kulinarisch, ohne es ernst zu nehmen. Damit verzichtete sie auf den Reife-Schritt, den ein ausgewachsener interessanter Mann für ein Mädchen ihres Alters zweifellos darstellte. Ihr Selbstbewusstsein war allerdings noch einmal um ein Stück gewachsen.

Mit ihren achtzehn Jahren war Anna, ungewöhnlich für eine höhere Tochter im sexuell gänzlich unbefreiten Valduns, schon mit zwei sehr verschiedenen Männern intim gewesen. Bei beiden hatte sie die Erfahrung gemacht, dass eine Liebesbeziehung nur störend gewesen wäre.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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