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Markus Fenner
Amassas Zeit
16. Folge
Flucht aus der Zündholzschachtel

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. 

In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge Anderl, Hugo und der Schmale einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. 

Mehr ein Kind dieser schwärmerischen Zeiten ist die Maturandin Anna. Beharrlich sucht sie nach dem Ansatz für ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben. Ihr schräger Fast-Freund Anderl hat für derlei nur Hohn übrig.


Draußen war strahlendes Wetter, nach den Regenfällen der letzten Tage kündigte sich der Frühsommer mit Macht an. Der Schmale nahm das nur am Rande wahr. 

Brütend erging er sich in der Ahornallee, dann rund um den Sportplatz, immer im Kampf mit dem Engel. Auf dem Platz kickten ein paar aus der Sechsten auf kleine Tore. Gelegentlich ließ der Schmale den fahlen Blick auf den Buben und ihren welpenhaften Vergnügungen ruhen, indes er rang.

Er rang um die neue Perspektive. Sie war erregend, sie bot ungeahnte Möglichkeiten. Sie ließ aber auch eine kleine Frage offen, die, beim näheren Hinsehen, schnell größer wurde: Auch wenn Phönix A. sich in Mordechai G. verwandelte, war dann schon klarer, was er im Einzelnen tat?

Übrigens: Was tat denn Phönix A. selbst? Nun gut, er war zum Beispiel die treibende Kraft hinter der Brandstiftung von Ephesos, er nagelte nachts das Fass des schlafenden Diogenes zu… aber was sagte er? Die große Abrechnung mit der platonischen Ethik, wo blieb sie? Und überhaupt, was sagte Sokrates denn so, genau, im Einzelnen?

Der Schmale rang mittlerweile nur mehr um Fassung. Es fühlte sich so an, als würde er nur kurz und schmerzhaft auf die eine Frage aufprallen, um sogleich auf die nächstschlimmere abzurutschen. Gesetzt den Fall, er wüsste, was Sokrates sagte, würde er jemals wissen, was Axolotl dagegen sagen sollte?

Auch an dieser Frage rutschte er nur vorbei und, nach einem atemlosen Moment freien Falls, knallte er auf die schlichte Tatsache, dass all diese Fragen keine Rolle spielten. Denn da war die Gewissheit, dass er sich nicht mehr vors weiße Blatt setzen würde, um sie zu beantworten.
Der Aufprall darauf entlockte ihm ein Ächzen, es drehte ihn einmal um die eigene Achse. Im selben Schwung rannte er los, quer über den Platz, auf die Jungs zu.
„He ihr… darf ich mitspielen?“

Die Kicker hatten ungleiche Mannschaften und waren einverstanden. Der Schmale feuerte Schuhe und Strümpfe beiseite. Barfuß warf er sich ins Spiel, das ein Genuss war, mit all den Finessen und trickreichen Flachpass-Kombinationen, die das kleine Feld erfordert. Er hätte endlos weiterspielen können. Doch nach einer halben Stunde mussten die noch voll unter der Dienstordnung stehenden Buben ins Strengstudium. Den Ball vor sich her bolzend, trabten sie in Richtung Turnhalle davon.

Der Schmale zockelte hinterher, die Schuhe in der Hand, wieder mit sich allein. Und machte die Erfahrung, dass Zustände wie jener, dem er zuvor entflohen war, einfach warten, bis man wieder frei für sie war. Da wurde ihm ein wenig wirr. 

Gerade noch hatte er den Ball aus der Luft genommen, mit halber Drehung flach eingeschossen und das unter allen Glücksgefühlen, die so etwas macht. Jetzt holte ihn sein Elend wieder ein, völlig unverändert. Was sollte er jetzt bloß tun?

Erst einmal wusch er sich im Becken vor der Turnhalle die Füße, schlüpfte in die Schuhe. Zog mit dem rechten Fuß eine lange saubere Furche durch den Kies. Stand wieder reglos im Hof, in der zitternden Helligkeit dieses Maitages. Das Tal badete in der Sonne, nichts rührte sich, die Regina lag im Stillschweigen des Strengstudiums. Der Schmale sah ein, dass er jetzt nur noch zu Anderl gehen konnte. Auch wenn er ihn bei der Arbeit störte, auch wenn dadurch alles herauskam. Unsinn, das sollte es ja… bedingungslose Kapitulation! Nur kein Theater mehr!

Er trottete los. Voll Scham dachte er daran, wie bescheiden ihm das Schinkenfälscher-Projekt erschienen war, gemessen an Phönix A. Jetzt hatte er die Quittung für seinen Größenwahn… Anderl war schlau, er machte was Kleines, aber Machbares.

Der Schmale war so kleingeworden, dass er bei Anderl sogar anklopfte. Es rührte sich nichts. Er schlüpfte hinein und prallte auf die Hitze im Raum wie auf eine Wand. Die Sonne kam durchs geschlossene Fenster, der Ofen glühte rot. Er betrachtete Anderl auf dem Bett, das schweißnasse Gesicht, den großen Speichelfleck auf dem Kissen. Schon wieder, das wurde ja eine Sucht mit dem verdammten Ofen…

Er zog das Kabel aus der Steckdose und inspizierte den Schreibtisch. Völlig leer? Aber er musste doch wenigstens ein paar Blätter… in all den Tagen?
Er fand sie im Papierkorb, einen dünnen Stoß, einmal durchgerissen. Vorsichtig äugte er darauf hinab, drehte den Kopf, um die großen Buchstaben, die quer übers oberste Blatt geschmiert waren, lesen zu können: „verdammter Kit-„. Dann kam der Riss. Der Schmale empfand Erleichterung, dann schämte er sich. Es war doch traurig – naiv, skurril ganz leicht, ganz klein und jetzt bloß „Kit-„!

Aber ein Trost war es trotzdem. Er riss das Fenster auf, hängte sich weit hinaus. Frische Luft, der kühle Aushauch des Flusses. Nach den letzten Regentagen ging der Fluss hoch. Der Schmale starrte auf die glasige, fast muskulös wirkende Wassermasse. Schnell und lautlos glitt sie dahin, das zog, das drängte. Eine Hitze stieg ihm in die Augen und sein Blick verschwamm.

Etwas drang ein, kam immer näher und zog ihn nach oben – ein Geräusch, eine monoton sprechende Stimme. Anderl wollte nicht. Er krümmte sich um sich selbst, schloss es aus. Es wurde ferner, als eine krachende Erschütterung dazwischen fuhr. Mit einem wütenden Grunzen fuhr er hoch und sah den Schmalen am Fußende des Bettes stehen, das er gerade fallengelassen hatte. Der Schmale lächelte ölig.
„Na, wie gehts uns denn heute?“
„Du Arsch, was soll das?“, greinte Anderl, „der Onkel Doktor persönlich?“ Der Schmale kicherte. „Still lächelt Doktor Pelikan, denn er hat seine Pflicht getan“,

Anderl ließ sich ächzend zurücksinken. „Idiot, hol mir lieber was zu trinken“
Der Schmale ließ sich dann doch dazu herbei, den Weg nach hinten bis zum Waschraum zu machen. Anderl versuchte noch einmal sich einzuigeln, umsonst. Er war völlig benommen, aber wach.
Der Schmale kam, nimm das, Liebling, es wird dir guttun, zurück mit einem Glas Wasser. Anderl trank gierig, goss Wasser in die Hand und spritze es sich ins Gesicht. Der Schmale hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und fragte noch einmal: „Na, wie fühlst du dich jetzt?“
Anderl stellte das Glas ab. Allmählich wurde er klar. Er fixierte den Freund und fragte hämisch zurück: „Und wie fühlst du dich?“
Das doktorale Lächeln des Schmalen erlosch. Er sah auf dem Schreibtisch umher und zischte ausweichend: „Abisssliwasssjanet!“
Er verzog mürrisch das Gesicht. „Genug gezischt… dann halt ich lieber noch das Maul“

Er hatte am Schreibtisch Streichhölzer gefunden und machte sich fieberhaft darüber her.
„Weißt du, vielleicht war ich eh nie ein Mann des Zischens“. Die Streichhölzer knackten. „Ich glaub, ich bin ein Mann der Stille“.
Anderl starrte ihn unverwandt an und endlich blickte der Schmale auf. Eine Strähne hing ihm in die Stirn wie eine geknickte Rabenfeder, die Nasenflügel bebten, die schönen braunen Tieraugen trübten sich, ihr Blick zerfloss…

Aha, dachte Anderl, mit einem Stich von Erheiterung über die Ausdrucksmacht des Freundes, die nie erlahmte. Aha, soso…Sofort stieg Erleichterung in ihm hoch und ein kleiner Widerwille dagegen. Er ließ sich zurückfallen und murmelte: „Gut, seien wir lieber still“.

Langsam streckte er die Beine in die Höhe und fand, dass er nicht so verdammt zimperlich sein sollte. Es war einfach ein Trost! Am Arsch, aber doch gemeinsam am Arsch! Halt, noch nicht ganz gemeinsam, das war nicht gerecht!

Er stützte hoch in die Kerze und sagte gepreßt: „Ich hab noch was zum Lesen für dich. Nur ruhig, nichts von mir! Ein Brief von Vernon, weißt schon, meinem glorreichen Ex-Freund. In der Schublade“
Der Schmale kramte das Couvert aus der Lade. Anderl senkte langsam die Beine hinter den Kopf und genoss es, nicht edel zu sein. Der sollte ruhig auch was davon abkriegen.

Der Schmale entfaltete den gestern eingetroffenen Brief, der Anderl auf seiner einwöchigen Talfahrt vollends den Rest gegeben hatte. So dass er sich eingestanden hatte, dass auf dieser Welt zwei Dinge niemals würden geschrieben werden: Erstens die Geschichte von Schinkenfälscher und zweitens eine Antwort auf Vernons Brief. Vor diesem Eingeständnis war er kopfüber in den Betäubungs-Schlaf geflohen.

Jetzt las also der Schmale Vernons Mitteilung, daß er aus dem Gymnasium ausgetreten sei und damit dem jahrelangen Zerriss zwischen Schule und Konservatorium ein Ende gemacht habe. Vernon schrieb von seinen Fortschritten am Cello, die die Schule immer mehr zur Zeitverschwendung gemacht hätten, von seinen Eltern, die sich inzwischen auch wieder beruhigen würden, von seiner Vorbereitung auf den Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb, dem letzten Auslöser für seine Entscheidung. Und er schrieb, daß er gerne wieder von Anderl hören würde…

Das Blatt raschelte und Anderl wusste, dass der Schmale jetzt bei den Fragen auf der Rückseite war – wie Anderl es ergehe beim Wohnen unterm Krummstab? Vor allem, was er denn derzeit schreibe? Immer noch Gedichte oder sei er schon zur Prosa durchgedrungen? Ob Anderl ihm etwas schicken wolle? Er sei sehr interessiert.

Es war ein ziemlich kurzer Brief, an dem der Schmale auffallend lange hin las. Als er endlich das Blatt sinken ließ, saß Anderl längst wartend auf der Bettkante. Der Schmale sah auf mit ironisch hochgezogenen Brauen. Er wollte was sagen, räusperte sich aber nur, warf verächtlich den Kopf zurück, trommelte mit den Fingern. Und dann ließ er die Faxen und nickte Anderl zu.

„Angekommen!“, murmelte er. Sorgfältig legte er den Brief in die Lade zurück.
„Äh…tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe“ Sie grinsten beide schwach. Der Schmale erhob sich mit einem Ruck und starrte blind über Anderl hinweg.
„Im Ernst, war ein Fehler! Was sollen wir sonst schon tun… in den Fluss springen? Wär ja erfrischend, aber ich glaub nicht dran. Also. Stell ich dir halt wieder deinen Ofen an“. Er bückte sich danach und schlenkerte ihn am Bügel hin und her.
„Und dann geh ich zu mir und stell meinen Ofen an… was für ein Glück, dass wir wenigstens Öfen haben, gell?“, spottete er verzerrt, hob ihn hoch und betrachtete ihn angewidert.
„Das haben wir – Öfen!“, brüllte er, „sonst haben wir nix, nur schöne heiße ÖÖÖ-“ und im Schrei warf er ihn zum Fenster hinaus. Das hinterherwedelnde Kabel schlug noch einmal gegen den Rahmen, dann von unten ein Platschen. Der Schmale stand reglos, in der Wurfbewegung versteinert.

„Aah“ schrie Anderl auf, schnellte hoch vom Bett, aus dem Zimmer, schlitterte auf Strumpfsocken durch den Gang zwei Türen weiter und ins Zimmer des Schmalen. Dort gab es einen kurzen Schreckmoment, bis er das Gerät oben auf dem Schrank fand. Der Elektro-Ofen des Schmalen war eine prunkvolle Angelegenheit mit drei Heizstufen, Thermostat und leuchtend blauem Gehäuse. Er ging mit ihm zum Fenster, öffnete es und sah bei sich drüben den Schmalen weit aus dem Fenster lehnen. Ein Lachen ging über dessen Gesicht, als er den Ofen sah.

Anderl nahm von draußen die Empfindung von Helligkeit und Frische mit, als er sich ans hintere Ende des Zimmers zurückzog. Von dort aus lief er an, sprang auf die helle Öffnung zu und schleuderte mit einer Bewegung, die wie Wein durch den ganze Körper rollte, den Ofen hinaus. Er kam hoch ab, flog in einem weiten Bogen, blitzend in der Sonne, fast bis zur Flussmitte und stürzte mit einem letzten Blau-Blitz – „eisvogelblau“ dachte Anderl und musste schlucken. Ein sattes Platschen, ein blauer Schemen im eiligen Wasser, das ihn mit sich nahm.

Anderl eilte zurück, wippend, dann schon tänzelnd und mit jedem Schritt mehr aus dem Elend der letzten Wochen herausfedernd. Im Zimmer sprang der Schmale vom Fensterbrett herab, auf dem er gestanden war und mit begeistertem Lachen gingen sie auf einander zu, die Arme ausgebreitet. Fast kam es zur Umarmung, im letzten Moment verwandelte es sich in beidseitige Backengriffe. Sie beutelten sich an den Wangentaschen hin und her, erst feierlich, dann artete es aus, sie wechselten die Griffe, wuchteten sich herum, krachten verknäuelt zu Boden und blieben keuchend liegen.

Sahnige Ruhe zog ein. Anderl, halb über dem Schmalen liegend, fühlte dessen klopfendes Herz, die unterirdischen Erschütterungen des abziehenden Gelächters. Ihm war ein bisschen matt, eine köstliche Gelöstheit erfüllte ihn. Er rückte sich auf dem Schmalen zurecht und seufzte. „Ach weißt du, jetzt ist mir besser“ 

Der Schmale knurrte und schob den Ellbogen weg, der ihm in die Rippen drückte. Anderl erkannte, dass er das lieber nicht laut hätte sagen sollen. Unterhalb seiner Erlöstheit kroch die Frage heran: was war eigentlich passiert, das vier Wochen Zündholzschachtel, eine Woche Röntgenauge ungeschehen machen sollte?

„Weißt du was?“, sagte der Schmale, „heut Abend gehen wir in die Stadt. Heut Abend will ich was erleben, etwas Großartiges, hee!“ schrie er empört, da Anderl ihm mit der flachen Hand auf den Bauch geschlagen hatte. „Ich auch“, rief Anderl begeistert.

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. fenner judith

    Ja, das ist recht spannend mit den Gefühlen, wie du die ausdrückst, und die mich auch voll mitgenommen haben. Das Einzige, das mich etwas verwirrt hat, war wie Anderl seine Füße hinter den Kopf schlägt. Da bin ich irgendwie nicht mitgekommen. Ansonsten hat es riesig Spaß gemacht zu lesen.

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