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Markus Fenner
Amassas Zeit
8. Folge
Speisesaal 2

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die weltweiten Aufbruchsbewegungen erreichen auch das Jesuiten-Internat „Regina Caeli“ als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ihren eigenen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen. Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin Anna, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrig hat.


„Also hört mal, jetzt verzettelt ihr euch aber!“, dröhnte Prim dazwischen. Er war ein hochgewachsener junger Mann aus der Schweiz mit dem gesetzten Gehabe des Erwachsenen. Seinem von sportfeindlichen Zungen in die Welt gesetzten Spitznamen zum Trotz, war sein Ansehen in der Klasse beträchtlich. 

Mit seinen 20 Jahren nahm er natürlich nicht an allen infantilen Bewegungen seiner im Schnitt zwei Jahre jüngeren Kameraden teil. Doch bei wichtigen Angelegenheiten pflegte er sehr wohl einzugreifen und rückte, bedächtig und mit runden Gesten sprechend, die Dinge zurecht.

„Ihr habt ja völlig auf den Pekoy vergessen! Anderl, hör mal zu“, sagte er sonor und nicht unfreundlich, „ein Kamerad von uns, auch von dir, Anderl, ist wegen einer lächerlichen Sache geschasst worden! Und du willst dazu nur sagen, das sei erstens in Ordnung und zweitens langweilig?!“
Mit innigem Vergnügen sah Hugo, wie Anderls Gesicht unter diesen väterlichen Vorhaltungen immer länger und schlaffer wurde.
„Genau, Herr Pfarrer“, sagte er träge, „bis auf die Kameraden stimmts. Sowas hab ich nicht, nicht dass ich wüsste“.
„Hast du wirklich nicht“, schrie Prol, „für mich bist du kein Kamerad, für mich bist du bloß ein Arschloch!“
Anderls Gesicht wurde vollends schafmäßig, als er es über den Tisch an den wütenden Prol heranschob.
„Mein Schatz, weil du es bist, darfst du mich“.

Erschüttert sah Hugo, wie Prim den explodierenden Sportsfreund auf den Stuhl niederdrücken musste und leise auf ihn einredete, den „Hurisäckchel“ doch nicht zu beachten. Samy erheiterte sich hemmungslos. In seinem gluckernden Gelächter verflachte die Spannung und als er dann noch mühelos der Situation eine Wendung gab und in unbefangenem Ton das Verhalten des Presskopfes aufs Tapet brachte, war es fast Bewunderung, die Hugo für ihn empfand.

Samy zeigte sich herzlich enttäuscht von dem Pater, den er, abgesehen von seinen cholerischen Anfällen, bislang für einen intelligenten Mann gehalten hatte. Dass er als Lehrer plötzlich Polizist spiele und Zöglinge abschieße, hätte er ihm nicht zugetraut.

Hugo, bemüht, die Lage weiter von der plötzlich aufgeklafften Möglichkeit zu Gewalttaten zu entfernen, merkte an, dass bei Fanatismus Intelligenz keine Rolle spiele und der Presskopf sei eben ein Fanatiker. Er sei mal bei ihm in dessen Zimmer gewesen und da habe ihm der Presskopf seine alte Geißel gezeigt.
„Na, du warst natürlich begeistert!“ sagte der Schmale grinsend. Recht eindrucksvoll, räumte Hugo ein. Der Presskopf habe ihm von seiner Novizen-Zeit und den Exerzitien erzählt. „Do hab ´ch m´ch gegeijjsselt“ habe er mit leuchtenden Augen gerufen, er sei richtig aufgetaut und habe ihm auch die Holzscheite gezeigt, auf denen er beim Beten kniee.

„Na na, nun übertreib mal nicht“, ließ sich Götz vernehmen.
„Ich bitte dich, ist doch eine alte Gebetspraxis“, schaltete sich der Schmale ein. In einem erörternden Ton, hinter dem Hugo ebenfalls ablenkende Absichten vermutete, wandte sich der Freund gegen die Charakterisierung des Presskopfes als Fanatiker. Nach seiner, des Schmalen, Ansicht, bestehe das Wesen des Presskopfes eben in einer ungeheuren Gepresstheit: „Schau dir seinen Kopf, schau dir seinen Hals an!“
„Na ja, auf mehr als fünf Zentimeter bringt er´s nicht“, gab Hugo zu.

„Von wegen, der Hals fehlt einfach“, rief der Schmale schwungvoll, „sein Kopf ist einfach mit namenloser Gewalt von oben auf die Schultern gepresst worden, versteht ihr? Und jetzt stellt euch das mal vor – da steht dieser Mensch in seiner ganzen Gepresstheit unten an der Säule, blickt mühsam aufwärts und muss zuschauen, wie dem Culk seine Beine leicht, tänzerisch nach oben entschweben. Das ist zu viel für ihn, natürlich haut es ihm den Pfropfen raus!“
„Komische Psychologie: nur weil sein Hals zu kurz ist, liefert er den Pekoy ans Messer“, gab Götz zu Protokoll.

Hugo war zufrieden damit, dass die Situation zuverlässig im neuen Bett lag. Doch er erkannte, dass es dem Schmalen um weit mehr ging. Der zeigte sich von seinen Anfechtungen völlig erholt.In der Art, wie er die Rabenmähne zurückwarf, war nichts mehr von der wehen Bedrücktheit, die ihn zuvor umfangen hatte.

„Was heißt denn hier ’nur‘, das Körperliche ist nie ’nur'“, beschwor er Götz, „die Gepresstheit geht bei ihm durch, seelisch, religiös – alles beispiellos gepreßt beim Presskopf. Deshalb auch sein Bedürfnis nach Kasteiungen, natürlich extrem gepresster Art. Da ist das Knieen auf Holzscheiten, scharfkantigen Holzscheiten das Mindeste, ach was!“, unterbrach sich der Schmale. Er starrte mit geweiteten Augen auf eine offenbar gerade vor ihm aufgetauchte Vision, und lächelte schmelzend.
„Blödsinn, viel zu lasch, viel zu ungepreßt“, verbesserte er sich, „einfach nur draufknien, oh nein!“
Jetzt war er in voller Fahrt, zusätzlich beflügelt dadurch, dass man auch an den Nebentischen mitzuhören begann.
„Ein Presskopf kniet sich nicht einfach auf die Holzscheite, ein Preßkopf springt!“, rief er in sein schnell wachsendes Auditorium. Hugo sah entzückt, wie immer mehr Köpfe im Saal sich zu ihrem Tisch wandten.
„Aber aus großer Höhe“, soufflierte Anderl.
„Genau, aus der Höhe“, jubilierte der Schmale und sprang vom Stuhl auf, „aus großer Höhe vollzieht der Preßkopf den mystischen Kniesprung!“
„Jetzt dreht er durch“ dröhnte Prim.
„Spinner, alles Spinner“ fand Prol.
„Pssst, seid still!“, machte der begeisterte Samy.
„Was fürn Sprung?“, wollte eine Stimme aus der Türreihe wissen.

„Den Kniesprung! Und für den Kniesprung reicht ihm nicht der Stuhl und auch nicht der Schreibtisch, das ist dem Preßkopf alles zu nieder und auch zu niedrig!“, donnerte der Schmale. „In seinem Streben nach der extremen, der wahrhaft gepressten Kasteiung greift er nach Höherem, er greift nach den Sternen, kurz…“, er brach dramatisch ab. Vibrierende Pause. Dann, im Gesprächston: „Er klettert auf den Schrank“.
Gelächter. Jetzt hatte er den ganzen Saal in der Hand. „Die Hose, doch nicht mit der Hose“ tuschelte Hugo ihm zu. Der Schmale nahm es dankbar auf.
„Natürlich nicht mit der Hose, sowas hält doch keine Hose aus! Bei seinen asketischen Exzessen macht der Preßkopf nicht vor Hosen Halt, er zieht sie vorher aus! In Unterhosen, in weiten, sackarschigen Jesuiten-Unterhosen klettert er ächzend auf den Schrank“. Gelächter.

Die Meinungen gingen später auseinander, wann P. Waggerl in den Speisesaal gekommen war. Viele glaubten, schon vor den Unterhosen. Es blieb ungeklärt, da er offenbar eine ganze Weile, ohne sich bemerkbar zu machen, in der tiefen Türöffnung stehengeblieben war. Der Schmale war jedenfalls weit darüber hinaus, ihn zu bemerken und seine Zuhörer mit ihm. Mit seherisch gehobenen Armen beschwor er weiter die Vision:
„Und dann kauert der Preßkopf, unser schlichter Pater mit dem gepressten Namen Wlk (Gelächter) oben auf dem Schrank. Er befiehlt seine gepresste Seele in einem Stoßgebet dem Herrn und stürzt sich hinab, mit flatternden Unterhosen, die knotigen Knie voraus, hinab auf die scharfkantigen Holzscheite!“
„Aua!“ schrie Samy, der winselnd vor Lachen sich auf die Schulter von Götz stützte.
„Von wegen! Kein Mucks, kein Schmerzenslaut, wie ihm die scharfen Kanten unter die Kniescheiben dringen“, grollte der Schmale. Zwei, drei Schritte und er stand auf dem Podest. Rumpelnd brach er in die Knie.
„So kniet er da, die Holzscheite in den Meniskus gepreßt… und er senkt den Kopf und er faltet die Hände mit einer Glut, dass das Blut unter den Nägeln hervortropft, und er sammelt sich in einer namenlosen Konzentration und dann, mit einem über Menschenkraft hinausgehenden Nachdruck, presst sich aus ihm hervor – sein Nachtgebet!“

Eigentlich erstaunlich, dass P. Waggerl immer noch nicht eingriff. War er gelähmt vor Verblüffung oder erlag auch er dem Wunsch, den jeder im Saal hatte, nämlich das kleine Nachtgebet des Presskopfes zu hören?
Der Schmale kniete unbehelligt auf dem Podest, die Hände ineinander verkrampft, das Kinn auf der Brust und aus seinem verzerrten Mund kam mit Inbrunst:

„Miide b´n ´ch, gäh zur Ruh (Gelächter, das eine leichte Unruhe an den hinteren Tischen, wo P. Waggerl endlich bemerkt wurde, übertönte) – schliisse meine Eiglein zu (Gelächter) – Votrrr!“, röhrte er erschreckend auf, „loß die Eiglein dein (starkes Gelächter) – ibrr meinem… Brrrräässskopf sein!“(brüllendes Gelächter). Es zerfiel und versickerte, als P. Waggerl endlich nach vorne eilte.
„Cmala!“
„Amen“ flüsterte der Schmale und sah aus tiefster Konzentration heraus an den Hosenbeinen der Obrigkeit aufwärts, die plötzlich in sein Blickfeld getreten waren. 

Eine stolze Röte, die des jungen Schauspielers, der während der Kleintheater-Aufführung den berühmten Regisseur im Publikum erkennt, schlug über sein Gesicht. Umständlich erhob er sich.
„Du bist wohl verrückt geworden“, rief P. Waggerl mit erstickter Stimme. „Raus mit dir! Warte vor meinem Zimmer!“
Der Schmale knickte leicht in der Hüfte ein und ging ab durch die Mitte, begleitet von geducktem Gelächter. P. Waggerl wandte sich zum Saal. Sein Kiefer mahlte, sein bebrilltes, noch jungenhaftes Gesicht war bleich, wohl von der durchwachten Nacht und dem Standgericht, bei dem er als verantwortlicher Erzieher sicher keinen leichten Stand gehabt hatte.

„Ich wollte euch eigentlich mitteilen“, sagte er mühsam beherrscht, „dass euer Kamerad Pekoy sich Dinge hat zuschulden kommen lassen, die seine Zugehörigkeit zur Regina untragbar machten. Die Leitung sah sich gezwungen, ihn zu entlassen, sehr zu ihrem Bedauern. Aber ich sehe, dass dieser traurige Vorfall euch gar nicht weiter berührt, dass ihr in… in der ordinärsten Weise euch belustigt… ich finde das sehr enttäuschend. Ihr solltet euch schämen!“

Abrupt verließ er das Podest und ging zwischen den Reihen zur Tür. In dem betretenen Schweigen hörte man eine gaumige Stimme: „Ja wirklich, ein Skandal!“
Eine zweite Stimme pflichtete nasal bei: „Unerhört, das war infam!“
Mit angehaltenem Atem verfolgte der Saal, wie der Präfekt rot anlief, aber weiter der Tür zusteuerte.
„Was heißt infam, das war Blasphemie“ ertönte es ziemlich gaumig. Überaus nasal kam darauf: „Unerhört, ich bin empört, so wie sichs ghört“

Der Pater, schon in der Tür, fuhr herum: „Amerang, Obexel! Ihr kommt auch zu mir!“ Seine Stimme überschlug sich, er stürzte hinaus. Nach einem Moment dröhnender Stille kehrte das Gespräch in den Saal zurück, raunend und eher gedämpft. Immer wieder gingen die Blicke zu Hugos Tisch, wo Götz, säuerlich grinsend, dem vom Lachen ganz zermürbten Samy ein Glas Wasser reichte. Hugo sprang auf.

In ihm flammte die Erkenntnis, dass er sich jetzt die erste Disziplinarstrafe seines Lebens abholen würde. Sieben, nein acht Jahre atemlosen Bravseins… so brav, dass er nicht einmal am Beichtstuhl von Pater Enis auf dem mit „P. ENIS“ beschrif-teten Pappschild den Punkt ausradiert hatte, das wohl häufigste und ungefährlichste Delikt an der Regina, und jetzt das – eine öffentliche Provokation, ha! Obendrein mit Nestroy! Ha, was für ein Leben!…

Fieberhaft flüsterte er „Ha!“ und sah ungeduldig auf Anderl. Doch der trank noch sein Wasserglas aus und stellte sein Geschirr ineinander. Hugo ahmte das nach. Gemächlich räumten sie zusammen.
Prim sah ihnen mit zuckendem Schnauzer zu und platzte heraus: „Ich versteh euch nicht! Erst hetzt ihr ihn auf und dann fallt ihr ihm in den Rücken, verdammte Sauerei!“
„Säckchel…Säckchel“, wühlte Prol. Anderl grinste im Stehen auf sie hinab.
„Liebe Leut, redts net, des verstehts net!“
„Und das reimt sich!“ zischte Hugo im Abgehen. 

Sie stellten ihre Teller im Essenswagen ab und verließen den Saal. Mit Gelächter und Stimmentumult erreichte der Lärm schnell wieder die gewohnte Höhe. Samy putzte seine beschlagene Brille, gelegentlich noch von Lachstößen erschüttert. Prims großflächiges Haupt schwang zu ihm herum.

„So zum Lachen finde ich das eigentlich nicht, Samy“, kam es sonor unterm Schnauzer hervor, „langsam wird das untragbar, wie die drei sich aufführen“
Samy ließ die Brille in den Schoß sinken und spähte Prim kurzsichtig, braunäugig an. „Ach… untragbar für wen, lieber Philippeter?“, fragt er kühl. Götz diktierte ins Protokoll: „Hässliches Wort – untragbar“.

Prim wurde sich auf einmal bewusst, dass er von den zwei Leuten strafend gemustert wurde, die in seinem ansonsten massiven Selbstbewusstsein eine schwache Stelle repräsentierten; die Folge einer lautlosen, vielleicht nur von ihm selbst gefühlten Niederlage, die er vor Jahren, bei seinem Eintritt in die Regina und in diese Klasse, zu deren Führung er doch eigentlich prädestiniert gewesen war, erlitten hatte durch dieses mittelgroße, zwei Jahre jüngere Freundespaar. Prim spürte das nicht andauernd, aber jetzt, wo die beiden ihn so anstarrten… Und der alte Verdacht zog in ihm wieder vorbei, dass sie vielleicht doch die Urheber dieser dämlichen Spitznamen…

Samy lächelte plötzlich, setzte die Brille auf und sagte mit seiner angenehm belegten Stimme, in seiner nachlässigen Art zu niemand Bestimmtem: „Komisch, klingt fast nach gesundem Volksempfinden, nicht?“
„Und ähnlichen Kryptofaschismen“, spitzte Götz zu.
„Wer redet denn davon“, murrte Prim, „ich sage nur, dass mich die drei genervt haben“
„Klar, das ist Geschmacksache“, sagte Samy freundlich und nahm sein Geschirr auf, „ich fand es großartig. Ciao!“
Er steuerte auf den Wagen zu, gefolgt von Götz. Prim sah ihm nach mit einem Blick, in dem ein Hauch Unerlöstheit lag.
„Die übertreiben es auch mit ihren Haarspaltereien“ sagte neben ihm der treue Sportsfreund, „He, ich könnte schwören, ich hatte noch ein Stück Fleisch auf dem Teller!“

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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