Markus Fenner
Amassas Zeit
10. Folge
Haut ohne Schlange

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die Aufbruchsbewegungen erreichen das Jesuiten-Internat REGINA CAELI nur als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ANDERL, HUGO und der SCHMALE einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen.

Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin ANNA, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrighat.


Von den vier Hügeln, die Valduns einschließen, ist der Stadtschrofen auf der linken Illseite geradezu der Hausberg der Regina. Weite Partien gehören zum Kollegsgelände und seine schroffe Felswand direkt am Fluss ist eine Internats-Einrichtung wie Studienflügel oder Hauptgebäude.

Vor dieser Felswand steht noch ein Haus. Im Vergleich zu den Riesenkästen am Flussufer wirkt es klein und behäbig. Sein Dach mit den zwei stummeligen Ecktürmchen wird von großen Kastanien überragt, so liegen die kurze Vorderfront und der längere, nach hinten abgehende Flügel immer im Schatten. Abgeschliffene Steinstufen führen zum Eingang hinauf, dessen Tür altertümlich hoch ist und schwer geht.

Hat man sie aufgestemmt, steht man in einem weiten, dämmerigen Treppenhaus. Geradeaus führt ein langer Gang in den Flügel. Dort ist es finster, ein muffiger Anhauch dringt heran. Von rechts kommt Licht durch eine Glastür und der unschuldige Geruch frischer Wäsche. 

Doch sind es nicht Gerüche, die den Ort beherrschen. Ein Gewirr der verschiedensten Klänge schwebt und tanzt in der Luft, mischt sich im halligen Schacht des Treppenhauses bunt durcheinander.

Beim Aufwärtssteigen auf den ausladenden Holztreppen werden die Geräuschquellen auch sichtbar. Im ersten und im zweiten Stock reiht sich eine Tür an die andere und hinter ihnen quillt das hervor: das verbissene Sägen auf einer Anfängergeige, von den Läufen einer fortgeschrittenen Klarinette elegant umnäselt, der quiekende, dann sich kräftigende Einsatz eines durchschnittlichen Cellos und dazu gleich mehrere Pianos, in verschiedenen Stufen der Könnerschaft. 

Aber nein, das eine Klavier, das im zweiten Stock ertönt, kann doch nur von der Schallplatte sein, wie es mit virtuosem Schwung durch die Rachmaninow-Etüde segelt! Doch plötzlich bricht es ab, ein wütender Schrei dringt durch die Tür. Die Stelle wird wiederholt, das Klavier segelt in großem Stil weiter…

In das Klanggewolke schiebt sich von unten ein anderer Ton, ein zischendes Geräusch. Drunten im Erdgeschoß zischt jemand immer lauter, verbunden mit krähenden Ausrufen. Das Krähen und Zischen bewegt sich in Richtung Wäscheabteilung und verstummt, verschwindet wieder aus dem Gewebe der Klänge, das im Treppenschacht steigt und sinkt.

Der dritte Stock trägt akustisch nichts mehr bei. Das Dachgeschoß scheint verwaist, die größeren Abstände zwischen den Türen lassen auf regelrechte Zimmer, nicht nur auf Übungskammern schließen. Geht man den Gang in den Flügel hinunter, kommt man nach zwei Kammern zu einer eisernen Speichertür.
Plötzlich rührt sich hier doch etwas. Aus der Kammer zur Rechten kommt ein Klavier-Anschlag, wuchtige Rockakkorde, und dann singt jemand in keuchendem Parlando: 

„Und heute ist es wieder schlimm / das ist ein Tag von diesen Tagen / an denen ich die Tage krieg“
Es ist eine seltsame Stimme, die sich zum hämmernden Klavier immer mehr entfaltet, nervös nasal, mit einem Vibrato voll unterschwelliger Hysterie:
„Das macht: mir fehlt etwas / ich such nach was / voll schlimmer Gier / dafür beschwingt zu tänzeln / auch über Leichen für und für / doch würd´ ich, kriegte ich ´s zu fassen / auch nur mein Wasser darauf lassen“.

Wenn junge Leute zum ersten Mal versuchen, sich selbst oder etwas auszudrücken, indem sie etwas verfassen, kann das zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Die einen arbeiten weiter, beflügelt oder auch unzufrieden mit den ersten Versuchen. Andere brechen schlagartig ab, auf Grund einer Begegnung mit sich selbst, die schockartig ist. Sie erleiden eine seelische Implosion, die das schiere Gegenteil des Ausdruckswillens ist.

Dabei hatte Hugo bei der ersten eigenen Vertonung seines Lebens klugerweise einen fremden Text verwendet, ein Gedichtfragment von Anderl, das dieser, außerstande es fertigzustellen, ihm achselzuckend überlassen hatte, als Hugo behauptete, dass darin Liedqualitäten steckten. Mit Text und Tonband zog Hugo sich wieder in das Speicherkammerl zurück, das er vor zwei Jahren als privates Studio in Beschlag genommen hatte, der stillschweigenden Duldung des Musikpräfekten gewiss, der seinem beifallumrauschten ‚Orfeo‘-Darsteller der glorreichen Monteverdi-Aufführung jenes Jahres so ziemlich alles durchgehen ließ.

Die letzten Tage war es wieder wie in den alten Zeiten gewesen, als Hugo in seinem damals liebevoll ausstaffierten Studio noch fleißig gearbeitet hatte an diesem „erstaunlich reichen, zu professionellen Hoffnungen berechtigenden Material“, wie ihm seinerzeit der Kritiker des ‚Vorarlberger Tagblattes‘ in beherrschtem Überschwang attestiert hatte. Es war wieder wie früher und doch ganz anders, und das nicht nur, weil das Kammerl jetzt kahl und von allen Symbolen und Devotionalien entblößt war, die er inzwischen alle in sein schönes Zimmer im Studienflügel überführt hatte.

In dem schmalen Raum mit dem uralten Piano gab es keine stimmbildenden „Noa Noa“-Girlanden mehr, kein „Sinn-non-nüü“ oder „Culk-murrst-du“, keine Wagnerschen Dirigierräusche von der Platte, zusammen mit dem Ölkopf Ganthaler, kein Rollenstudium mit dem emsig am Klavier schollernden Musikhaus-Freund. Denn hier wurde nicht mehr gelernt und geübt, hier wurde geschaffen!

Weißglühende Stunden; in Riesenschritten gings voran. Zitternd hatte er gestern in der Abendfreizeit die endgültige Fassung auf Band aufgenommen. Sich das Lied noch in Ruhe anzuhören, dazu war er in seiner fiebrigen Benommenheit außerstande gewesen.

So war es heute in der Nachmittagsfreizeit ein feierlicher Moment, als er dann die Taste drückte und sich bei klarem Bewusstsein vorspielte, was er geschaffen hatte. Er ließ es zweimal durchlaufen, spulte nach einer langen Stille wieder zurück, spielte mittendrin an, schlug auf die Stopp-Taste… Und stand in sausender Stille, reglos, den Mund wie greinend verzogen. Und fühlte, wie die eisige Kälte, die sich schon beim ersten Mal in ihm ausgebreitet hatte, verschwand, so wie jetzt alles verschwand.

Da war nämlich ein Loch in ihm. Da musste ein Loch sein, denn der Rand des Loches kam spürbar näher. Er kam dem Rand näher. Und aus dem Loch kam ein Sog. Es war wie ein Druckabfall, der schoss durch das Loch ins Leere und saugte und zog an ihm, wollte ihn mitreißen…

Es war eine Erlösung, als sich ein Klopfen an der Tür in sein bereits halb abgestürztes Bewusstsein schob und hinter ihm Ganthaler, der auf Besuch kam. Sein von all dem unberührtes Außen verjagte das Ungemach. Hugo wurde vor Erleichterung richtig herzlich, was sich dann schnell wieder dämpfte, als Ganthaler eine kleine Dirigiersitzung vorschlug. Hugo winkte ab, der Musikhaus-Freund bestand auch nicht weiter darauf.

Es war wohl eher als nostalgische Geste gemeint, denn offensichtlich suchte Ganthaler nur das Gespräch. Durch Hugos Rückkehr ins Musikhaus in den letzten Tagen hatte sich der durch Anderl und den Schmalen fast erloschene Kontakt mit dem scheuen dicklichen Jungen neu belebt. Ganthaler kam, ohne seine gewohnten Umständlichkeiten, auf das zu sprechen, was ihm am Herzen lag, seine Sonate, deren zweiter Satz fast fertig sei. Bald könne er sie Hugo vorspielen…

Eine nervöse Bewegung Hugos entging ihm. Der Ölkopf war zu geladen. In dem bis hart ans Phlegma zurückhaltenden Jungen rumorte es, die Ohren glühten, das Gesicht glänzte wie frisch eingecremt. Ein Stück Papier kleiner faltend, sagte er:
„Mir ist gerade was passiert…ich hab vorhin bisschen weiter gemacht, eine tolle Idee für den dritten Satz, wirklich toll, und dann hab ich dran denken müssen, wieviel doch bei mir passiert ist in der letzten Zeit…na ja, objektiv ist das alles wahrscheinlich nichts Großartiges, aber es ist ja auch erst der Anfang, oder?“
Der Ölkopf warf das Papier weg und trat geradezu über die Ufer.
„Und da hab ich plötzlich so ein Gefühl gekriegt, ganz komisch, so als ob etwas bei mir platzt, weißt du, und darunter wird etwas frei…weißt du, wie bei einer Schlange, der die alte Haut reißt, ehrlich, als ob sich meine alte Haut irgendwie abstreift.“

Er verstummte betreten, denn Hugo hatte sich abgewandt. In ihm war ein zappelndes Durcheinander aus dem Gefühl, es wahrlich besser zu wissen, und nacktem Neid auf das Erfülltsein des Ölkopfs. Und es explodierte in einer maßlosen Wut. Hugo fuhr herum und schrie blindlings:
„Na, dann häute dich nur weiter, du Trottel“ – und im selben Moment kam ihm die Erleuchtung – „wirst schon sehen, wo du dann bleibst. Aber bestimmt nicht bei der Schlange!“
Er ging auf den Ganthaler zu und höhnte in dessen erschrockenes Gesicht: „Weißt du, was ein guter Witz ist? Wenn die alte schlappe Haut saublöd an sich runterschaut, weil ihr leider, leider die Schlange abgehaut ist…zum Totlachen, was?!“

Er riss Mantel und Mütze vom Klavier und stürmte türwerfend aus dem Kammerl, aus dem kein Laut mehr kam. Polternd die Treppen hinab und mit einem erneuten Wut-Schub unten an der Haustür hinaus, die wie immer mühselig zu öffnen war. Er versetzte ihr einen Tritt, der durch den ganzen Schacht hallte.
Musikhaustür, ha! Haa!

Mit ihr hatte es angefangen, damals, als die kleine Hugolaus entdeckte, daß hinter dieser Tür die drei weltbestimmenden Kategorien des Prügelns, Sportelns und Streberns außer Kraft gesetzt waren, dass diese Tür also ein Ausgang war mitten im Internat. Durch diesen Ausgang war er ab der dritten Klasse in jeder Freizeit geflohen und damit hatte seine Entwicklung begonnen… na großartig, von der Hugolaus zu Hugo dem Sänger bis hin zu Hugo mit dem Loch, welch Karriere!

Die Wut wühlte auch im Freien unvermindert. Im Laufschritt kam er zum Sportplatz, stand dort ratlos herum, wusste dann auf einmal, dass er raus musste. Nicht nur ins Freie, sondern raus aus der Regina. Dem stand nichts im Wege, es war Mittwoch, Ausgangstag und noch zwei gute Stunden bis zum Strengstudium. Sogleich ergrimmte er über seinen kriecherischen Blick auf die Zöglings-Uhr und beschloss, zur Strafe ins Cafe zu gehen, allein, was er noch nie getan hatte. Er trabte los in Richtung Cafe Krahl.

Einen Vorteil hatte die Wut: er war nach wie vor derart mit ihr beschäftigt, dass er mit echter Achtlosigkeit das Cafe betrat und sich an irgendeinen freien Tisch setzte. Glücklich angekommen, griff der Ort dann doch fordernd nach ihm. Zuerst einmal galt es, die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu erregen. Hugo probierte es eine Weile. Zermürbt von seinen vergeblichen Beschwörungen dieses blind und taub umherhuschenden Phantoms schwankte er zwischen dem Gefühl, daß er ohnehin gar nichts trinken wolle, und der abenteuerlichen Möglichkeit, einfach laut „Fräulein“ zu rufen… vielleicht herrisch und desinteressiert zugleich, wofür sich die Sprechweise Oskar Werners am besten eignen würde? Er fuhr zusammen, als dicht hinter ihm eine Stimme fragte, was es denn sein dürfe. Er schluckte Speichel und brachte den Wunsch nach einer Tasse Schokolade hervor.

Durch diesen Überfall wurde ihm etwas anderes bewusst, was er bislang ganz vernachlässigt hatte: er saß hier ja mitten unter fremden Menschen! Aufgeschreckt musterte er den Raum, der von den kleinen Kunststoffsesseln bis zu den löchrigen Tütenlampen in einem reinen Stil der Fünfziger Jahre eingerichtet war. Das Cafe war halbleer, doch an die zehn Personen waren allemal anwesend, alles ältere Leute zwischen 25 und 70, die da einzeln oder zu mehreren an den asymmetrischen Tischen saßen.

Hugo machte eilig Front dagegen, er warf sich im Stuhl zurück, einen Arm sorglos über die Lehne gehängt, und ließ im Gesicht den Abglanz jener tiefinnigen Selbstzufriedenheit erscheinen, welches Opernsängern der alten Schule nachgesagt wurde. Sonnig und global erheitert schaute er durch den Raum, an dessen Ende jetzt die Kellnerin mit dem Tablett erschien. Es war offenbar für ihn bestimmt. Sie kam durch den ganzen Raum auf ihn zu. Sie brauchte dazu nicht lange, doch immerhin lange genug, daß sie die Schokolade schließlich bei einem nervös aufgesetzten Hugo abstellte, der mit der Hand die Krümel auf der Tischplatte abdeckte, die gar nicht er gemacht hatte.

Als das überstanden war, wechselte Hugo zu einer Außenattrappe über, die von innen leichter zu halten war. Er hüllte sich in bleich verschattete Abwesenheit, wie sie etwa bei einem jungen, nun ja, erstaunlich jungen Tondichter ganz natürlich wäre, welcher, ermattet und zugleich aufgepeitscht von den Schwierigkeiten seines ersten großen Werkes, sich hier auf der Durchreise nach – na! – eben in das Oberengadin befand, wo in dünner Höhenluft der Kampf mit dem Engel vollends zu Ende gekämpft werden sollte. 

In diesem Zusammenhang holte Hugo Notizbuch und Stift aus dem Mantel. Er zog Notenlinien, begann das Motiv der Weltennacht aufzuschreiben, erinnerte sich nur mehr undeutlich, malte dann einfach Noten und zuletzt ein Doof-Männchen.

Hinter dieser Brustwehr lugte er heimlich in seine Umgebung hinaus, was er allerdings auch unverhohlen tun hätte können. Offenbar war es den anderen ganz egal, ob sie gesehen wurden. Offenbar war es ihnen auch egal, wie sie dabei wirkten: es herrschte allenthalben eine rätselhafte Unbekümmertheit in diesem Punkt. Hugo überprüfte den Sitz seiner vorgeschnallten Charaktermonstranz und betrachtete die Unbekümmertheit mit dumpfem Staunen.

Am wenigsten staunte er noch bei der Frau drüben am Fenster, ziemlich hübsch und vergleichsweise jünger. Zum dritten Male senkte sie jetzt vor Lachen den Kopf, strich dann ihre langen, schönen Haare aus dem Gesicht, sandte dabei einen kalten und gleißenden Rundblick durchs Lokal, der nirgendwo haltmachte und sich dann im Rückschwenk auf ihr männliches Gegenüber schlagartig erwärmte und befeuchtete – das war zwar fremdartig, aber doch verwandt. Das verstand Hugo noch ganz gut.

Aber was war mit den drei Damen am Tisch gegenüber? Die eine aß Torte und ballte die Hand an der Wange in vornehm verzügelter Ekstase, die andere breitete mit unerbittlicher Miene ein Strickmuster am Tisch aus und die letzte verdreifachte ihr Kinn, um einen Fussel von ihrer taubengrauen Seidenbrüstung zu entfernen und blieb völlig ungerührt, als ihr Blick sich kreuzte mit dem gehässigen Aufwärtsschielen der zwei ineinander verbissenen Füchse auf ihrer Brust. Jener Füchse immerhin, die vorhin bei einer zufälligen Bewegung ihrer Besitzerin einen derart spöttischen und entlarvenden Blick aus ihren Glasaugen auf Hugo geschossen hatten, daß dieser das Notizbuch vor ihnen abdeckte.

Oder was war mit dem weißhaarigen Herrn, der durch eine vorgehaltene Brille auf eine Zeitung spähte und mit der anderen Hand Rhythmen am Tisch mitklopfte, die nur ihm selbst hörbar waren? Oder mit dem Herrn um die Dreißig, der überaus regelmäßig die Seiten einer Illustrierten umblätterte und sich nur unterbrach, um mit einer kühnen Armbewegung die Manschette von der Armbanduhr zu stoßen und die Stirn zu runzeln, worauf er taktfest weiterblätterte? Ganz zu schweigen von anderen Personen an anderen Tischen, die sich eigentlich gar nicht verhielten; die es offenbar nur so gab?

Die waren alle einfach vorhanden. Die gaben sich nicht einmal die Miene, sondern sahen automatisch und ohne jede Absicht nach etwas aus, das allem Anschein nach sie selbst waren!

Der Blick, mit dem hier ein stämmiger Junge, fast mittelgroß und mit schwerer Brille, diese zufällige Versammlung von Menschen betrachtete, hatte Ähnlichkeiten mit dem staunenden Starren eines Schimpansen auf das andere Sein vor seinen Gitterstäben. Allerdings fehlte ihm völlig die animalische Selbstvergessenheit. 

Denn jetzt geschah es Hugo, dass er sich selbst wieder einfiel, und das nicht mehr im Hinblick auf die anderen. Es war wieder wie vorhin im Kammerl, nur wurde er jetzt nicht mehr vom Ganthaler davor bewahrt. Das Außen im Cafe, das ihn soeben noch gespannt hatte, wurde plötzlich zum verschwommenen Hintergrund und es gab nur mehr ihn allein, Hugo mit dem Loch. Der Sog war viel stärker als vorhin. 

Wahrscheinlich war durch seine krampfhaften Selbstdrapierungen in ihm eine zusätzliche Abschüssigkeit entstanden, so daß sich schon ein regelrechter Trichter gebildet hatte, in dem er auf das Loch zu rutschte. Und dann fiel er endlich.

Er fiel hinein, aber nicht hindurch. Es war ein Wegsacken in die unermessliche Leere, doch der Moment wiederholte sich pausenlos und fließend, so, dass er immer nur in ein erneutes Wegsacken sackte. Es war eine endlos sich fortsetzende Linie von Abstürzen ohne den Sturz, der ja die Erlösung gewesen wäre. Hugo verlor auch keineswegs das Bewusstsein, er nahm ganz deutlich wahr, wie er, trotzdem er unablässig ins Nichts absackte, immer noch ganz zivil im Sessel vor seinem Tisch saß; ein schwindelerregender Zerriss, daß er meinte, gleich, in Krämpfen sich windend, zu Boden zu fallen.

Schweißgebadet, mit einer verzweifelten Anstrengung, raffte er sich auf, um die Toilette zu erreichen, und hatte die Empfindung, daß seine Bewegungen ungeheuer verlangsamt seien. Außerdem zog jede Bewegung eine lange Schleppe erstarrter kleiner Teilphasen hinter sich her.

Andrerseits kam er unleugbar in normaler Zeit und Gangart im Klo an. Sein organischer Gleichgewichtssinn funktionierte wie ein Ford Motor. Die Hoffnung, vielleicht nur krank zu sein, war hinfällig, ebenso die Vermutung, ob dies etwa der Wahnsinn sei. Er hatte nur das Aufklaffen einer grundlosen Leere in sich, in die er sackte, ohne recht vom Fleck zu kommen; sonst hatte er nichts.

Er drehte auf ‚Besetzt‘, verkroch sich in die fötale Haltung, die die Klomuschel vorgibt. Langsam, langsam verloren die Abstürze an Schärfe, verflachten, hörten auf. Hugo hockte in regloser Betäubung. Und das wohl ziemlich lange. Denn als ein Frösteln ihn zusammenfahren ließ, war sein zuvor automatisch entblößter Hintern schon ganz gefühllos. Er vollzog, was der Ort nahelegte, wusch sich im Vorraum Hände und Gesicht, putzte die Brille… und horchte ängstlich in sich hinein. Doch da war jetzt alles ruhig.

Er kehrte zu seiner erkalteten Schokolade zurück und sah an der Wanduhr über der Tortentheke, daß er kaum zehn Minuten weg gewesen war. Es brauchte also nicht viel Außenzeit, gut zu wissen. Denn wer wusste schon, wann ihm von neuem passieren würde, was jetzt nur als eine entzündete Stelle in seinem Bewusstsein glomm: die Tatsache, daß in seinem sogenannten Innersten einfach Nichts war.

Und jetzt wallte von dort etwas auf, schlug heiß und stolz in ihm hoch. Entflammt schaute Hugo im Cafe umher, las mit plötzlicher Klarheit in all diesen Gesichtern etwas, wovon diese selbst nichts wussten.
„Schaut bloß nicht so massiv, ihr Affen, bei euch ist es ganz genau so! Ihr spürt es bloß nicht mehr. Aber ich, ich weiß es wenigstens!“

Sein kühn und geringschätzig schweifender Blick blieb an einem neuen Gast hängen, der sich während seiner Abwesenheit hinten in der Ecke eingenistet hatte. Der Neue sah aus dem Fenster, mit grämlicher Miene. Dann fixierte er düster seine Cola, hob langsam das Glas, vergaß zu trinken, sah matt zur Decke, massierte sich die Augen…

Trotz abgründiger Versunkenheit spürte er die Beobachtung und drehte den Kopf herüber. Sie sahen sich an: Hugo, unwillkürlich grinsend über das, was er so gut verstand wie bisher nichts anderes im Cafe, der Neue vorsichtshalber gelangweilt blickend, bis er Hugo erkannte. Ihre Blicke blieben ineinander hängen und plötzlich entstand ein reiner Wahrnehmungsstrahl zwischen ihnen, unverhüllt, alles enthüllend. Er verschmolz Erkennen und Erkanntwerden in eins und riss sie in eine Intimität ohne Rest.

Es war gewalttätig und süß. Und steigerte sich, bis es unerträglich wurde. Die lusterstarrte Brücke zwischen ihnen zerbrach, Hugo sah beim anderen den Widerschein der Röte, die ihm selbst übers Gesicht schlug. Im nächsten Moment begann Anderl zu grinsen und winkte. Hugo, dessen unzurechnungsfähiger Unterleib wieder einmal verrückt spielte, hatte keine Lust, mit der dicken Beulung in der Hose aufzustehen, und winkte auffordernd dagegen.

Als Anderl mit seiner Cola am Tisch Platz genommen hat, redeten sie nicht wie sonst von allen Seiten aufeinander ein. Anderl sagte nur, dass er Hugo im Musikhaus gesucht habe, und schwieg dann wieder. Hugo spürte immer noch die überwältigende Klarheit, die zwischen ihnen zustande gekommen war, und wollte sie nicht verlieren.

Nach einer langen Pause murmelte Anderl, sein Glas auf dem Tisch umherschiebend: „Nix geworden?“
Hugo schüttelte den Kopf.
„Na ja, kein Wunder bei dem Text“.
„Der Text ist gar nicht übel… du solltest mal die Musik hören“.
„Wird auch schon nicht so schlimm sein…aber ich weiß, was du meinst. So hat das einfach keinen Sinn, pfuschen und üben -„
„ Besser pfuschen, weiter üben“, flüsterte Hugo.
„Weißt du, was Sinn macht? Hör zu… Was kann das Holz dafür, daß es als Violine aufwacht?“
„Das ist gut, was ist das?“
„Rimbaud. Briefe des Sehenden… dass jemand seine Entwicklung zum Dichter sich selbst verdanken soll, seinem Pfuschen und Üben, darüber kann der bloß lachen. Man war Blech und plötzlich ist man Trompete. Man wacht auf und ich ist ein anderer“, zischte Anderl, die Augen zur Decke gedreht. Dann wurde sein Gesicht schlaff und er nahm einen langen Schluck.

„Bei Arthur dem Großen hat das geklappt“, sagte er missmutig, „als er das formuliert hat, war er achtzehn und hatte schon das Trunkene Schiff geschrieben…und jetzt frag bloß nicht, was hat das mit uns zu tun?“
„Tu ich doch gar nicht“, beteuerte Hugo und fühlte, wie eine warme Welle der Zuversicht durch ihn hindurch lief.
„Pass auf, wir finden ihn schon noch, den Dreh mit der Violine“.

 


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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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