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Markus Fenner
Amassas Zeit
11. Folge
Forelle

Die „68er Jahre“ in der Vorarlberger Provinz: die Aufbruchsbewegungen erreichen das Jesuiten-Internat REGINA CAELI nur als fernes Rauschen. In der geschlossenen Kollegs-Welt brüten die Zöglinge ANDERL, HUGO und der SCHMALE einen vertrackten Verweigerungs-Trip aus. Er soll sie nicht etwa zu „sich selbst“, sondern zur Aufhebung ihres Ichs führen.

Mehr vom emanzipatorischen Zeitgeist beseelt ist dagegen die Maturandin ANNA, die beharrlich nach dem wahren Ansatz für ein selbstbestimmtes Leben sucht. Schwärmerische Ziele, für die etwa ihr schräger Fast-Freund Anderl nur Hohn übrighat.


Anna hatte sich bisher aus Tennis nie viel gemacht. Doch in diesem letzten Frühjahr vor ihrer Matura begann sie, wieder zu spielen; anfangs mit echtem Eifer, doch bald erlahmte sie wieder. Irgendwie war Tennis nicht das Richtige: die Verabredungen zum Spiel, das Herumsitzen im Clubhaus, bis die Halle frei war. Auch das Spiel mit dem Partner selbst störte sie, dieses ständige Gegenüber.

Nach der Rückkehr aus dem Osterurlaub sah sie im Schaufenster eines Sportgeschäftes Spikes liegen. Lange drückte sie sich davor herum, lief dann nach Hause und nahm ihre Spardose aus. Sie kaufte die Rennschuhe. Glücklicherweise reichte ihr Geld und sie musste nicht ihre Mutter darum bitten; die Frage nach dem Grund für den Kauf hätte sie in Verlegenheit gebracht.

Doch als sie dann die Schuhe aus der Schachtel zog, ihr Piranaprofil studierte, ihr weiches Antilopenleder betastete, war sie ganz aufgeregt. Sie hielt den Schlüssel zu etwas Neuem in der Hand, davon war sie überzeugt. 

Noch am selben Abend ging sie, die Turnhose unter dem Rock, die Spikes in einer Tüte versteckt, auf den Sportplatz ihrer Schule. Sie musste über den Zaun klettern. Das Gelände lag menschenleer, wie sie erleichtert feststellte. Es waren ja immer noch Ferien. Sie zog den Rock aus und schlüpfte in die Rennschuhe, dabei immer wieder nach allen Seiten sichernd. Wenn irgendjemand sie dabei sah, hätte das alles kaputtgemacht.

Anna hatte keine Beziehung zu Sport, abgesehen von Skifahren und Tennis. Doch das galt eigentlich nicht als Sport, es gehörte zur Lebensart von Annas Hintergrund. Sport war ein Unterrichtsfach und wurde in den Turnstunden absolviert. 

Anna hatte schon immer überdurchschnittliche Zeiten beim Laufen erzielt, war aber noch nie auf die Idee gekommen, dass das außerhalb der Turnstunden irgendeine Bedeutung haben könnte.

Jetzt stakste sie unbeholfen und verlegen über den Rasen des Fußballfeldes, in den die Spikes sich tief eingruben. Sie kam auf die Aschenbahn. Sie begann zu traben. Die Spikes erwachten zum Leben und warfen ihre Beine nach vorne raus, die Rückenlage verstärkend, zu der Mädchen ohnehin beim Laufen neigen. 

Beschämt hielt sie an, sah sich noch einmal um. Aber es war ja nicht schwierig. „Man muss eben vor den Beinen laufen“, dachte Anna.

So fing es an. Die Spikes gaben einen Rahmen, der eng genug war, dass das Ganze sich nicht in allgemeinen Körperübungen zerstreute. Anna machte den 75 m-Sprint, der außer den 100 m auf der Bahn markiert war. Unter dem Vordach des Geräteschuppens fand sie die Startblöcke, kam schnell auf die richtige Einstellung und versank in den Mysterien des Tiefstarts, jener ausgeklügelten Technik, die Ähnlichkeit mit einem vehementen Stolpern aus dem Stand hat. 

Der Tiefstart leitet den Lauf dadurch ein, dass man zuerst einmal beinahe hinfällt, und zielt somit direkt auf die unwillkürlichen Reflexe.

Dieses Starten wurde zu einer regelrechten Sucht. Zwanzigmal und mehr konnte Anna sich in die Blöcke kauern, aber ohne voll durchzulaufen. Mit dem Sprinten selbst war sie eher enthaltsam. Ansonsten absolvierte sie eine Reihe einfacher Übungen, die sie sich zurechtgelegt hatte.

Als die Schule wieder anfing, waren die Sportplatzbesuche schon zu fest etabliert, als dass sie vom normalen Trainingsbetrieb sich davon hätte abhalten lassen. Anna kam eben später und wich auf die Wochenenden aus. An den Sonntagen ging sie schon nachmittags auf den Platz, mit einer mittlerweile ziemlich vollen Tasche, darin außer den Spikes auch noch ein Handtuch, ein Buch, Zigaretten und etwas zu trinken. Denn das Laufen war nicht mehr das ausschließliche Thema an diesem Ort.

Der Sportplatz liegt auf der Sattelhöhe an der Straße nach Liechtenstein, gegen diese durch eine hohe Hecke geschützt. Etwas unterhalb das Schulgebäude, an ihm vorbei sieht man weit über das Städtchen. Aber auch für sich ist der Platz eine Weite, vor allem, wenn man in den Startblöcken kauert und die Gerade der Aschenbahn entlangsieht. Die kann dann endlos wirken. 

Der Startraum ist immer schattig von einer Gruppe wuchtiger Kastanien. Am Stamm des Baumes, der dem Eckpfosten des Fußballfeldes zunächst steht, ruhte Anna sich aus, wenn sie eine Runde mit Warmlaufen, ihrer anspruchslosen Gymnastik, mit Antrittsübungen, einigen Starts und einem vollen Sprint hinter sich gebracht hatte. 

Sie saß, den Oberkörper im Schatten des Stammes, die Beine mit den sandigen Knieen in der prallen Sonne des Spätfrühlings. Und sank ein in das Intervall zwischen größter körperlicher Aufgebrachtheit, in der sie sich eben noch befunden hatte, und der Ruhe, die über dem Gelände lag. Und diese ging nun, wo auch sie wieder Ruhe gab, in sie über. Ruhe und Leere ringsum, ruhige Leere auch in ihr.

Das mitgebrachte Buch nahm sie fast nie zur Hand, gewöhnlich musste sie sich mit nichts beschäftigen. Aber eine Zigarette rauchte sie dann gerne, wenn sie, noch schwitzend, aber schon wieder mit gleichmäßigem Atem am Baum lehnte und spürte, wie ihr eben noch auf höchste Touren getriebener Körper sich nun wie ein Gefäß um diese Leere zu schließen begann. Der kleine Schwips vom Rauchen machte sie nicht benommen, er steigerte die Empfindung. Anna kam sich vollends vor wie ein innen blankgeputzter, spiegelnder Topf.

Ein Auto kam die Sattelhöhe heraufgerauscht, versank aufbrummend hinter die Kuppe. Die Stille schloss sich wieder. Jetzt fiel mit einem zarten Klingen etwas in den Topf: „kühl und kapriziös“…

Das hatte sie von ihrer Schwester erfahren, bei der Boy gepetzt hatte. Einerseits hatte er sich nach ihrer ersten und letzten Liebesnacht tatsächlich wieder bei Anna gemeldet, und tat es auch weiter, als könne er Annas plötzlichen Mangel an Bereitwilligkeit nicht fassen. Andrerseits hatte er doch bei Irene sein Mütchen kühlen müssen, indem er Anna so charakterisierte.

Natürlich hatte Anna sich darüber geärgert, doch in diesem Moment war ihr etwas anderes wichtiger, der Ton, in dem die große Schwester das angebracht hatte: „Was hast du eigentlich mit Boy angestellt?“ Ziemlich seltsam, erst der Mann, vor dem man sich „in Acht nehmen müsse“, und jetzt, dieser fast vorwurfsvolle Beiklang…

In einer großen Helligkeit erkannte Anna, dass sie selbst eben „etwas anstellte“ und ihre Schwester, Irene die Schöne, lebenslange Beunruhigung für Anna in ihrer sanften, ausdrücklichen Weiblichkeit, die auf Annas Selbstbewusstsein drückte – mit Irene wurde eben etwas angestellt.

Plötzlich war da auch Gerda, ihre Schulfreundin, die ihr vorgestern noch ernste Vorhaltungen gemacht hatte, als herauskam, dass Anna immer noch keine Ahnung davon hatte, welches Studium sie wählen soll.. Einfach kindisch hatte Gerda das gefunden und war nach Graz abgereist, wo ihr Freund ein Zimmer gefunden hatte.

Annas inneres Panoptikum bevölkerte sich mit anderen Mädchen, die sie kannte. Sie waren alle ganz verschieden, nur nicht in einem bestimmten Punkt, der ihr in dieser Hellsichtigkeit verblüffend deutlich hervortrat; nämlich dort, wo es um die „Perspektiven“ ging. An diesem Punkt tauchte bei ihnen immer erstmal ein Mann auf oder die Erwartung eines Mannes und dann kam die Perspektive. 

Für ein Kurzes erschien in dieser Sammlung die schwarze Haarsträhne und das Madonnengesicht von Bibi auf, doch es passte nicht dazu. Bei Bibi war es nochmal etwas ganz Eigenes. Doch bei den anderen war es durchwegs dasselbe…

Anna sog tief den Rauch ein und das würzige Gift machte ihr einen kleinen Schwindel. Sie schloss die Augen und die Innenschau wandelte sich. Aus den Mädchen waren Robben geworden, sanfte, großäugige Robben mit weich sich windenden Körperchen, die sich auf einer Felsenbank am Meer tummelten. 

Niedlich waren sie, wie sie sich mit zierlicher Umständlichkeit am Rande des Wassers hin und her bewegten, ganz beschäftigt, ganz versunken auf und ab watschelnd. Dann hoben alle wie auf ein Kommando die anmutigen Köpfe und im nächsten Moment waren sie, überraschend geschmeidig, in die anrollenden Wellen weggetaucht.

„Aber ich bin eine Forelle“, sagte Anna und errötete, da es, so laut ausgesprochen doch ziemlich peinlich war. Sie drückte die Zigarette aus, ließ sich ins Gras fallen und fuhr, die Beine in der Luft, ein bisschen Rad. Und hielt mit aufgerissenen Augen wieder an. Es war fast ein Schock. Das hatte sie noch nie erlebt. Sie kreiselte erneut und wieder war in der Bewegung dieses unglaubliche Gefühl – das perfekte Schwingen von Kolben an gutgeölten Achsen. Sie schnellte in den Stand, ging zum Start, stieg in die Blöcke – alles eine einzige fließende Bewegung. 

Sie ordnete die Finger auf der Linie, hob den Hintern, wartete mit hängendem Kopf auf den kleinen Kurzschluss im Hirn, der den Start auslöst. Ihren Körper fühlte sie wie eine wuchtige, ruhende Maschine.

Da flammte das Fünkchen im Kopf auf und Anna stieß es nach vorn. Wie jedes Mal, wenn der Start gut war, fuhr ihr der Schreck in die Brust. Der Boden sprang ihrem gesenkten Gesicht entgegen und wurde vom ersten, vom zweiten Schritt niedergehalten. Sie musste nicht extra darauf achten, nur ja vorne zu bleiben, noch nie hatte sie sich so selbstverständlich von der anwachsenden Schrittlänge aufrichten lassen. Und dann begann die Maschine, in der Anna steckte, zu beschleunigen.

Die 50 Meter, sonst die Marke, in dem sie ihre Endgeschwindigkeit erreichte, spielten für die Maschine keine Rolle. Die Schrittlänge wurde immer noch größer, die Beschleunigung ging einfach weiter, wobei sich die Maschine immer mehr verwandelte. 

Alle ihre Bewegungen verschmolzen zu einem einzigen mächtigen Vorwärts – wie die Forelle in höchster Fahrt durch die Wasseroberfläche bricht und für ein Kurzes fliegt, so brach Anna auf der letzten Etappe durch die Grenze ihrer Höchstgeschwindigkeit, mit zurückgeworfenem Kopf, den Mund aufgerissen in einem Triumphschrei, der nicht zu hören war.

Sie war bis zum Rande des Platzes ausgelaufen, wo es in einer Böschung zum Schulhof hinabging. Lange stand sie dort, die Hände in den Hüften und nach vorne spähend, während der Schlag ihres Herzens sich schon wieder normalisierte. 

Anna sah nicht das Städtchen im Tal. Was sie sah, war eine Linie, die aus dem fabelhaften Kraftgefühl kam, das immer noch in ihr nachklang. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie die Linie entlang, die ihr unbekanntes Potential über Tal und Hügel hinweg an den Horizont schoss. Es war da, es übte schon!

An dem föhnigen Nachmittagshimmel war nichts Bestimmtes zu erkennen; kein Wunder, vom Schulsportplatz aus gesehen und noch Monate bis zur Matura!

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Markus Fenner

Markus Fenner stammt aus München, begann als freier Schriftsteller, brach mit der Literatur, wurde TV-Redakteur, später Drehbuch-Autor, lebt heute als Dorfschriftsteller am bayerischen Alpenrand: Erzählungen, regionale Theaterstücke, stellenweise Lyrik. Weitere Informationen: http://www.markus-fenner.de/

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