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Manfred A. Schmid
Wandlung des Kritikers vom Saulus zum Paulus
Hans Neuenfels´ Inszenierung
von Mozarts "Entführung" neu bewertet

Manchmal geschieht Unverhofftes. Da sitze ich in der Staatsoper, frei nach Goethe, so vor mich hin, und nichts zu suchen ist mir im Sinn, und werde nach und nach mit unwiderstehlicher Kraft in etwas hineingezogen, das mich bei der Premiere im Herbst 2020 noch überhaupt nicht überzeugt hatte.

Damals vermochte ich dem doppelt gemoppelten Besetzungseinfall von Hans Neuenfels wenig abgewinnen und habe das auch unmissverständlich zu Papier gebracht. Erst spät und nach langem Zögern, ob ich mir das nochmals „antun“ sollte, habe ich mich zu einem erneuten Besuch von Mozarts Singspiel in dieser Inszenierung entschlossen. Vor allem der bezaubernden Musik wegen und wegen der fabelhaften Sängerinnen und Sänger, die mich schon bei der Premiere begeistern konnten und diesmal wieder – bis auf eine Ausnahme – zum Einsatz kommen sollten.

Vom viel beschworenen Theaterzauber des kürzlich verstorbenen Regisseurs, dessen Angedenken die laufende Vorstellungsserie gewidmet ist, erwartete ich mir hingegen wenig bis nichts.

Es ist wohl dieser nicht auf etwas Spezifisches gerichteten Erwartungshaltung und der stattdessen vorliegenden generellen Achtsamkeit und Unvoreingenommenheit geschuldet, dass ich an diesem Opernabend an mir eine Wandlung vom Saulus zu Paulus erleben durfte.

Was bei der ersten Begegnung als unnötiger Ballast abgetan worden war, erweist sich nun als beglückende Bereicherung. Der beschwingte Umgang von Hans Neuenfels mit der Verdopplung der handelnden Personen hat nichts Schweres, Belastendes an sich, folgt keinem starren Schema, das sich bald leerlaufen und zur Ermüdung führen würde, sondern ist von großer Leichtigkeit geprägt und führt zu ständig neuen, überraschenden und komischen Konstellationen.

Verspielte, sinnliche Komödiantik steht im Mittelpunkt. Von bedeutungsschwerer Neudeutung ist da keine Spur. Neuenfels geht es in erster Linie auch nicht um psychologische Hinterfragung der Charaktere, sondern die lebhafte Gruppendynamik erweist sich als ein treffsicheres Gestaltungsmittel mit hohem komödiantischem Potenzial.

An Absurdität kaum zu übertreffen der Vogeltanz mit den Kindern der Agentur Rising Talents, bei dem Pedrillo ein übergroßes Straußenei zu bebrüten hat. Monty Pythons lassen grüßen, und Mozart, der selbst Produzent skurriler bis deftiger Scherze war, hätte daran sicher Gefallen gefunden.

Es ist ein Vergnügen, die Interaktionen der Sängerinnen und Sänger mit den ihnen jeweils zugeteilten Schauspieler-Doubles zu verfolgen. Es bleibt nicht verborgen, dass auch die Akteure auf der Bühne mit sichtlichem Vergnügen, Spiellaune und Lust ans Werk gehen. So kommt Schwung in die Abläufe, die ein halbes Jahr nach der Premiere noch besser funktionieren. Die von Neuenfels hinzugefügten Texte und Dialoge sind für ein Singspiel passend und peppen es auf. „Der Dicke lässt sich nicht so leicht von der Bühne schieben. Gut, dass wir zwei sind“, sagt Pedrillo eins zu Pedrillo zwei, bevor sie den betrunkenen Osmin auf einem Teppich aus dem Weg räumen.

Musikalisch bestätigt sich der bereits bei der Premiere gewonnene Eindruck, dass in dieser Produktion hervorragende Kräfte am Werk sind. Allen voran die großartige Lisette Oropesa als Konstanze, die mit ihrem leuchtenden, fein timbrierten und fein vibrierenden Sopran nur einen Wunsch offenlässt, sie möglichst bald wieder in Wien erleben zu können. Bei den Salzburger Festspielen wird die amerikanische Sängerin, die eben erst mit einem Solokonzert in der Staatsoper für Begeisterung gesorgt hat, im August als Lucia in Lucia di Lammermoor debütieren.

Daniel Behle ist ein spannender, in den Koloraturen souveräner Belmonte, Regula Mühlemann eine leicht und locker zwitschernde Blonde. Mit Michael Laurenz wird eine tadellose, spielfreudige Hausbesetzung für die Rolle des Pedrillo aufgeboten. Dem Osmin von Tobias Kehrer fehlt stimmlich etwas an Gewicht und Tiefe, wofür er aber, im Verein mit seinem Double Grötzinger, durch drollig überzogene Gestik und Mimik entschädigt und dem rachsüchtigen Bösewicht ein Heiterkeit hervorrufendes Profil verleiht.

Da sie in dieser Inszenierung ein wesentlicher Bestandteil sind, seien hier auch die schauspielerischen Doppelgänger der singenden Schar namentlich erwähnt und pauschal gewürdigt: Emanuela von Frankenberg (Konstanze 2), Caroline Baas (Blonde 2), Andreas Grötzinger (Osmin 2), Christian Natter (Belmonte 2), Ludwig Blochberger (Pedrillo 2).

Antonello Manacorda bringt mit dem Staatsopernorchester die durch Janitscharenklänge angereicherte Partitur Mozarts zum Erblühen und ist den Sängern auf der Bühne und dem zweimal wuchtig in Erscheinung tretenden Chor ein aufmerksamer Partner.

Christian Nickel vom Theater in der Josefstadt ist in der Sprechrolle von Bassa Selim ein auf Würde bedachter Herrscher, dessen innere Zerrissenheit zwischen aufklärerischer Gelassenheit nach Außen und latenter Triebhaftigkeit nach Innen nicht unbemerkt bleibt. Warum er am Schluss eine Mörike-Gedicht zitieren muss, bleibt weiterhin ein Rätsel, zu dem man Neuenfels leider nicht mehr befragen kann.

Viel Applaus schon während der Vorstellung und dann besonders Begeisterung ausdrückend am Schluss. Von den vielen Buhrufen bei der Premiere kaum eine Spur.


PS:

Ehrlichkeit ist gefragt, wenn es darum geht, eine einmal getroffene und veröffentlichte Kritik zu revidieren. In meiner aktiven Zeit als Redakteur und Theater- & Musikkritiker bei der WIENER ZEITUNG hatte mich einmal eine Neuinszenierung von „Der Alpenkönig und Menschenfeind“ am Volkstheater, mit Wolfgang Hübsch, nicht überzeugt und wurde von mir dementsprechend negativ rezensiert.

Erst nachdem ich im Sommer bei den Salzburger Festspielen dieses Stück von Ferdinand Raimund in einer perfekten, aber aalglatten Inszenierung von Peter Stein, mit Otto Schenk und Helmuth Lohner, gesehen hatte, wurden mir die Vorzüge der Inszenierung von Regisseur Michael Gruner richtig bewusst. Gruner erhielt im Herbst für seine Regie den Skraup-Preis. Da ich damals von Volkstheater-Chefin Emmy Werner als Laudator ausgewählt worden war („Bin gespannt, wie Sie das machen. Ihnen hat ja gar nichts gefallen.“), konnte ich in meiner Würdigung unter dem Motto „Liebe auf den zweiten Blick“ meine frühere Beurteilung richtigstellen. Der Text wurde dann auch in der WIENER ZEITUNG veröffentlicht.

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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