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Manfred A. Schmid
Die traurige Aktualität des Femizids
Zur Premiere von Simon Stones
"Wozzek"-Inszenierung
an der Wiener Staatsoper am 21.März 2022

Verdis „La Traviata“ hat Simon Stone, der australisch-schweizerische Theater-, Film- und Opernregisseur, für die Staatsoper bereits in die Gegenwart versetzt. Man erinnert sich an den Traktor fahrenden Alfredo und an die Kuh melkende Violetta sowie daran, dass dieser Zeitsprung nicht ganz aufgegangen ist, sodass es in dieser schicken Inszenierung an mehreren Ecken und Enden merkbar knirscht.

Im Falle von Alban Bergs Wozzeck geht der von Stone angestrebte Transfer ins Heutige  hingegen weitgehend klaglos über die Bühne, auch wenn Wien darin wohl etwas zu klischeehaft festgemacht wird. Es gibt aber in der Tat auch heute noch Deklassierte und Ausgegrenzte, die ausgebeutet werden, sich und ihre Angehörigen, mehr schlecht als recht, mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, bis ihre Familien auseinanderbrechen, sie arbeits- und obdachlos werden und – in manchen Fällen, wenn sie psychisch labil sind – überall Verschwörungen wittern und letztlich von Opfern zu Tätern werden.

Georg Büchners unvollendetes Drama „Woyzeck“ – der Titel „Wozzeck“, unter dem Alban Berg das Fragment erstmals auf der Bühne erlebt hatte und den er für seine Oper  verwendete, ist die Folge eines Lesefehlers – beruht auf einem wahren Kriminalfall, in dem zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit eines Täters verhandelt worden war, und aus dessen Gerichtsakten Büchner, selbst Arzt, sein Material bezog.

Franz Woyzeck wurde demnach als zurechnungsfähig eingestuft und 1824 hingerichtet. Heute geht man davon aus, dass er wohl unter Depression, Schizophrenie, Verfolgungswahn und Depersonalisation gelitten hat. Diese Meinung dürfte auch Büchner vertreten haben, der den Antihelden in seiner Dramatisierung nicht hinrichten, sondern Selbstmord begehen lässt. Ganz klar ist das allerdings nicht. Stirbt er vielleicht nur als Folge eines Unfalls, weil er das blutige Messer weit weg im Wasser versenken will?

In Stones Interpretation, der den Mord an seiner Partnerin Marie und seinen eigenen Tod irgendwo an der Donau, naheliegend wohl auf der Donauinsel, stattfinden lässt, wird eher diese Alternative nahegelegt.

Besonders wichtig ist für Stone die systematische Entwicklung der Tragödie hin zum Frauenmord. Wozzeck ist für ihn kein Affekttäter, Stone stützt sich vielmehr auf mehrere Indizien und Aussagen, in denen Wozzeck schon sehr früh erahnen lässt, dass Aggressionspotenzial in ihm angelegt ist, und alles einmal in Gewaltausbrüchen münden wird. Damit legt der Regisseur, wie er in Interviews im Vorfeld feststellte, den Finger in eine klaffende Wunde im österreichischen Sozialgefüge: Die alarmierend hohe Zahl an Femiziden, die in den letzten Jahren, wie auch im laufenden Jahr, zu verzeichnen ist.

Bevor es aber so weit kommt, erlebt man den Leiharbeiter Wozzeck beim Rasieren des Hauptmanns im Frisiersalon (Bühne Bob Cousins), als diätologisches Versuchskaninchen des Doktors bei einer Darmspiegelung, zu Hause bei Marie und deren etwa dreijährigem Sohn, gehetzt wie immer in einem aussichtlosen Überlebenskampf, so dass er für ein Familienleben keine Zeit hat, was dazu führt, dass sich die vernachlässigte Marie am Würstelstand in einen feschen Tambourmajor verschaut, der ihr schmucke Ohrringe und die kurze Hoffnung auf sozialen Aufstieg schenkt.

Merkwürdigerweise findet sich Wozzeck auch in einem Fitnessstudio (!) ein, wo er vom Hauptmann und dem Doktor mit Hinweisen auf die Untreue seiner Frau aufgestachelt wird. Diese Begegnung im Fitnesscenter wäre erklärbar, wenn Wozzeck als Putzkraft dort Zusatzgeld verdienen würde, aber man sieht ihn selbst kurz beim Training an einem Gerät, was schon allein bei den hohen Einschreibkosten ausgeschlossen ist. Ganz zu schweigen davon, dass die beiden feinen Herren wohl kaum einem Club angehören würden, zu dem auch Wozzeck Zugang hätte.

Wozzeck und sein Freund Andres werden beim Arbeitsamt vorstellig, wo sie sich in eine lange Schlange einreihen. Nach einem nicht ganz einsichtigen Kostümfest, wo alle in drollig-putzigen Tierkostümen herumtollen, zwei Handwerksburschen nihilistischen Unsinn brabbeln und ein Chor das Lied vom „Jäger aus der Kurpfalz“ johlt, findet sich Wozzeck im Morgengrauen in der U-Bahn-Station Simmering wieder, die hier als Sammelplatz der Ausgestoßenen und Übernächtigen, die ihren Rausch ausschlafen, dient. Eine letzte, von latenten Drohungen und Gewalt aufgeladene Begegnung zu Hause mit Marie – und das Unheil nimmt seinen Lauf und steuert auf die finale Katastrophe zu. Am Schluss sitzt Maries Sohn am Ufer der Donau und singt vor sich hin.

Das alles geht unter die Haut und verfehlt seine Wirkung nicht. Die paar erwähnten Ungereimtheiten fallen nicht sehr ins Gewicht. Man nimmt sie in Kauf, weil die Geschichte insgesamt stimmig ist und berührt. Vor allem ist da ja auch die einzigartige Musik Alban Bergs, der es zu verdanken ist, dass Wozzeck – nach den Opern von Puccini und Strauss – die meistgespielte Oper des 20. Jahrhunderts ist.

Philippe Jordan begleitet die Sängerinnen und Sänger, denen Berg einen ganz besonderen Sprechgesang abverlangt, mit sehr viel Gefühl und Verständnis. Um das bei einer Literaturoper wichtige Textverständnis nicht zu behindern, sind diese Passagen sehr sparsam instrumentiert, orchestralen Vollklang gibt es nur in den Zwischen- und Überleitungsstücken.

Philippe Jordan findet stets das richtige Maß und zeigt am Pult des Staatsopernorchesters, dass diese intellektuell komplex strukturierte Musik eine große emotionale Aussagekraft hat. Besondere Erwähnung verdient die Wirtshausmusik (beim Kostümfest), bestehend aus zwei Fiedeln, die um einen ganzen Ton höher gestimmt sind als übliche Violinen, Klarinette in C, Ziehharmonika, Gitarre, Basstuba und ein verstimmtes (!) Klavier. Diese Besetzung legt nahe, dass der Wiener Alban Berg hier dem Wiener Heurigen Tribut zollt. Ein weiteres schlagkräftiges Argument für Simon Stones Wahl der Stadt Wien als Ort der Handlung.

Christian Gerhaher, der diese Partie schon in Zürich und München gesungen hat, ist ein vortrefflicher, in jeder Phase wortdeutlicher Wozzeck, gesanglich und darstellerisch überzeugend und überaus berührend. Er stellt den Antihelden nicht einfach als einen Irren dar, sondern als einen Mann, der im Kampf ums Überleben immer mehr auf der Strecke bleibt, sich nach Kräften bemüht, aber schließlich kapituliert, als er herausfindet, dass alle seine Bemühungen, den Zusammenhalt der Kleinfamilie wenigstens finanziell zu stabilisieren, nichts fruchten, sondern das Gegenteil erreichen.

Von seinen „Gönnern“ körperlich und psychisch kaputt gemacht, wendet er sich aber nicht gegen die Gesellschaft, weil er sie, allen Enträtselungsversuchen zum Trotz, nicht durchschaut. Er akzeptiert seine miese Lage gewissermaßen als gottgegeben und unveränderbar, wenn er vermutet, dass er und Seinesgleichen auch im Himmel dazu eingeteilt wären, beim Donnern helfen zu müssen. Diese Verschwörungstheorie hat gewissermaßen eine transzendentale Dimension. Daher wendet sich seine Aggression zunächst gegen sich selbst, er spricht einmal von Selbstmord, und letztendlich gegen Marie.

Anja Kampes Marie liebt ihr Kind und bedauert die ewige Gehetztheit und Unruhe Wozzecks, anders als dieser aber ergreift sie, sich im Stich gelassen fühlend, die erstbeste Gelegenheit, um ihre Lage zu verbessern. Durch die Liaison mit dem Tambourmajor erhofft sie einen sozialen Aufstieg. Doch der Betrug an Wozzeck verschafft ihr nur quälende Gewissensbisse. Dass moralisch sein ohne Geld schwierig ist, ist eine Erkenntnis, die sie mit Wozzeck teilt.

Karikaturenhaft überzeichnet, wie im Libretto vorgesehen, stellen Jörg Schneider und Dmitry Belosselskiy den Hauptmann und den Doktor dar. Beide spielen sich gegenüber Wozzeck als Gönner auf, machen ihm schwadronierend moralische Vorhaltungen, beuten ihn in Wahrheit aber nur unbarmherzig zu ihren Zwecken aus.

Ensemblemitglied Schneider verleiht seiner Figur durch pointiert gesetzte, quiekende Spitzentöne ein eigenes Profil. Der russische Bass Belosselskiy traktiert Wozzeck mit grausamen Experimenten, quacksalbert in einem fort von Wissenschaftlichkeit, ist aber nichts anderes als ein Vorläufer der späteren KZ-Ärzte im angeblichen Dienst der Wissenschaft.

Ein Kabinettstück ist der Auftritt der beiden übermütig faselnden Handwerksburschen (Peter Kellner und Stefan Astakhov), ein bisschen blass hingegen Sean Panikkar als Tambourmajor, dessen Eitelkeit und Stolz im Zauber der Montur unterbelichtet bleibt. Solide Josh Lovell als Andres, Wozzecks Freund, der die zunehmenden Phantastereien seines Kumpans besorgt zur Kenntnis nimmt. Thomas Ebenstein zeigt als Narr wieder einmal seine Fähigkeit, auch aus kleinsten Auftritte etwas zu machen.

Der Zeitsprung ins 21. Jahrhundert, den Simon Stone in seiner Inszenierung wagt, weist einige – aufgezeigte – Schwachstellen auf. Dass es so aber gelingt, die leider weiterhin gegebene Aktualität des Femizids in unserer Gesellschaft beispielhaft sichtbar zu machen, überwiegt die Mängel bei weitem.

Viel und langer Applaus zeigt, dass diese Inszenierung gut angekommen ist. Und es wäre nicht Wien, wenn nicht ebenso ein paar Buhrufe zu verzeichnen gewesen wären

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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