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Manfred A. Schmid
Von der Konkubine zur Influencerin und weiter zum Avatar
Die Metamorphose der Violetta aus Verdis „La Traviata“ in der Inszenierung von Simon Stone
am 5. September 2021 in der Wiener Staatsoper

Verdi legte bei der Uraufführung von La Traviata im Jahr 1853 Wert darauf, dass die Handlung nicht – wie bisher in der Opernwelt üblich – ein historisches Ereignis widerspiegelt, sondern in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt ist. Simon Stones Einfall, in seiner Inszenierung den Schauplatz in das heutige Paris zu verlegen, erscheint so einigermaßen legitimiert.

Stones Violetta Válery ist keine Kurtisane aus dem 19 Jahrhundert, sondern ein IT-Girl, eine Influencerin im digitalen Zeitalter. Noch bevor sie einen einzigen Ton singt, wird während der Ouvertüre auf der kubusartigen, sich unablässig drehenden Bühne von Robert Cousins – in grellen Instagram-Postings, Chats und Selfies – ihre starke Online-Präsenz dokumentiert. Demnach erzielt sie mit ihren Aktivitäten in diversen sozialen Medien enorme Einnahmen, aber auch von ihren gesundheitlichen Problemen ist dort die Rede. Das geschieht in weiterer Folge immer wieder, wenn etwa ihr gesellschaftlicher Stellenwert und Einfluss, aber auch ihre Verschuldung und ihre Krisen in hämmernden Schlagzeilen aufgelistet werden. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Avatar (Videos von Zak Hein) werden dadurch immer mehr verwischt.

Damit hat diese erfolgreiche Frau allerdings kaum mehr etwas mit Verdis ursprünglicher Frauenfigur zu tun. Verdis Titelheldin ist eine von der Gesellschaft geächtete, gemiedene und abgelehnte Frau, die ihre Lebensform als Weg zum Überleben gewählt und damit ihren verfemten Status auf sich genommen hat. Stones Violeta ist eine selbstbewusste, narzisstische junge Frau, die es bis an die Spitze der virtuellen Welt geschafft hat und allseits bewundert, gefeiert und beneidet wird. Als Influencerin ist sie eine tonangebende Autorität. Sie lebt nicht verborgen in der Halbwelt, sondern ist Inbegriff einer erfolgreichen Existenz und wird als Power-Frau, die es geschafft hat, für Millionen Followern zu einem Vorbild.

Der Intervention von Germont, dem Vater ihres Geliebten Alfredo, der ihre Beziehung für nicht gesellschaftsfähig hält und sie aus familiärer Tradition und wohl auch wegen moralischer Bedenken beendet haben will, wird dadurch eigentlich jegliches Fundament entzogen. Wohl deshalb hat Stone im Vorfeld der Pariser Premiere seiner Inszenierung in Interviews auf das gesellschaftliche Vorurteil des Rassimus im Zusammenhang mit seiner Sichtweise auf Violeta hingewiesen und sie mit Meghan Markle verglichen, was aber nur weitere Probleme schafft, weil das dann auf eine stets erforderliche Besetzung der Rolle durch eine farbige Sängerin hinauslaufen würde.

Vieles geschieht vor den unablässig auf den Wänden des Kubus vorbeiziehenden „Messages“, doch der Blick wird immer wieder frei auf eine große weiße, schier unendliche Fläche, die in ein gleißendes Licht getaucht ist. Da steht Alfredo zu Beginn des Ersten Akts beim „Brindisi“ ganz oben an der Spitze einer Pyramide aus Sektgläsern und schenkt den gute gelaunten Partygästen Champagner ein. Im Zweiten Akt, der das trauliche Leben des Liebespaares nach ihrer Flucht auf das Land schildert, dominiert ein roter Traktor die Bühne, und Violetta hantiert mit Heuballen herum (in der Pariser Version melkte sie eine – wirkliche – Kuh!), und Alfredo steigt barfuß in einen Trog, um aus Trauben den Saft zu pressen.

Die Begegnung mit Alfredos Vater findet vor einer Kapelle statt. Eine merkwürdige ländliche Idylle der Kargheit und Bescheidenheit, wo doch sein Vater bei seinem überraschenden Besuch bei Violetta etwas von sich offenbarendem „Luxus“ faselt…

Die zentralen Stellen finden allerdings an weniger romantischen Plätzen statt. Als Violetta aus gesundheitlichen Gründen die Party verlässt, um hinter dem Haus eine Zigarette zu rauchen, gesellt sich Alfredo hinzu, und sie beginnen, zwischen Müllcontainern und leeren Bierkisten, ihr Liebesduett. Anschließend zeigt die Bühne wieder die Festgesellschaft mit ihrem Abschiedschor. Violetta singt ihre Arie allein, die Bühne dreht sich und bleibt beim Start der Cabaletta vor einem Kebab-Kiosk stehen. Gegenüber, in einem Café, tippt Alfredo seine Botschaft in den Computer. Violetta erhält seine Liebeserklärung „Amore e palpito“ online. So wie man es heutzutage eben macht. Und wenn sie sich nach Violettas Einigung mit Vater Germont wieder treffen, ist der Schauplatz ein gut besuchter Garten mit Heurigenbänken. Das Leben wird öffentlich zur Schau gestellt. Privatsphäre scheint nicht gefragt zu sein.

Plump und derb, mit einer Ansammlung höchst merkwürdiger, mehrheitlich abstoßender Masken aus dem Sadomaso-Milieu (Kostüme Alice Babidge) präsentiert sich Violettas Fest, auf dem sie wieder auf Alfredo trifft und bei dem er ausrastet und sich blamiert.

Im letzten Akt sieht man zunächst ein Krankenhaus, in dem diverse Patienten behandelt werden. Violetta liegt wie verloren in einem riesengroßen Einzelzimmer. Unter die Haut geht die Schlussszene, wenn sie sich mit „Strano … cessarano gli spasmi“ von ihrem Bett erhebt und, durch einen Spalt in den Kubus schreitend, im gleißenden Schimmer verschwindet.

Viele von Stones Bilder haben eine starke Aussagekraft, insgesamt aber vermag seine Inszenierung nicht zu überzeugen. Es gibt zu viele Bruchstellen, Ungereimtheiten und unsinnige, sich nicht erschließen wollende Transponierungen. Das Publikum wird dabei zum voyeuristischen Späher, der nach Nachrichten über die neuesten Entwicklungen im Leben Violettas giert. Echte Beteiligung am Schicksal dieser Frau will sich nicht einstellen. Man bleibt emotional unberührt. Diese Traviata ist im Grunde kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern ein Avatar.

Musikalisch gibt es Gutes und weniger Erfreuliches über diese in Co-Operation mit der Pariser Oper entstandenen Inszenierung zu berichten. Von den drei zentralen Partien ist seit der Streaming-Premiere im Mai nur die Titelpartie mit Pretty Yende gleich besetzt geblieben. Gegenüber dem stimmlichen Eindruck, den die südafrikanische Sängerin in der Videoausstrahlung gemacht hat, sind in der nunmehrigen Premiere vor Publikum leider einige Einbußen festzustellen. Zu Recht wird oft behauptet, dass es für die Bewältigung dieser Partie eigentlich dreier Soprane bedürfe. Eine leichter Sopran für den ersten Akt, ein lyrischer für den zweiten und einen dramatischen für den dritten. Yende, die die Violetta bereits in der Originalinszenierung Simon Stones in Paris gesungen hat, ist in erster Linie wohl eine lyrische Sopranistin mit ausdrucksstarker Mittellage und gutem Tiefen-Register. Dazu kommt eine ordentliche Gewandtheit im Umgang mit Koloraturen, was sie für den Belcanto eignet. Kein Wunder, dass ihr Wiener Debüt als Amina in Donizettis „L’Elisir d’amore“ rundum gelungen war.

Es hat harter Arbeit bedurft, um ihre Stimme in der Höhenlage zu festigen. Dennoch ist sie noch nicht eine ideale Besetzung für die Traviata. Verwischte Koloratur-Läufe und Distonierungen sind nicht zu überhören. Ihre schauspielerischen Qualitäten machen einiges wett. Die Wandlung von der selbstverliebten jungen in eine liebende, empathische, opferungsbereite Frau möchte man ihr gerne abnehmen. Es liegt aber an Stones Regiekonzept, dass sie dem Publikum eher fremd bleibt. Wirklich erst in der Sterbeszene nimmt man Anteil an ihrem Leid.

Mit Frédéric Antoun erlebt man einen jungen, stattlichen Tenor bei seinem Debüt an der Wiener Staatsoper. Der kanadische Sänger hat als Alfredo bereits in London gastiert und ist bisher vor allem durch Mozart-Partien (Belmont, Ferrando) aufgefallen. Für den Alfredo scheint es für ihn mit seinem klaren, nicht sehr großen Tenor noch etwas zu früh zu sein. Es fehlt seiner Stimme nicht nur an Eindringlichkeit, sondern auch Ausdruckskraft. Ein bemerkenswertes Potenzial ist aber durchaus vorhanden, und in einigen Passagen wie im zornig erbosten „Oh! Mio rimorso“ oder im sanft-samtig dargebotenem „Parigi o cara“ lässt er aufblitzen, was in ihm steckt. Dass er an die Leistung von Juan Diego Florez, seinem Vorgänger in der Streaming-Premiere, nicht herankommt, ist nicht verwunderlich und wurde auch nicht erwartet. Aber auch diesem Ausnahmesänger hätte man den Alfredo vor ein paar Jahren noch nicht zugetraut. Insgesamt ein Debüt mit Anstand.

Ludovico Tézier als Germont liefert die stärkste und nachhaltigste gesangliche Leistung des Abends. Sein eleganter, fein abgestimmter Bariton ist eine Wohltat, auch wenn er in dieser Partie, die er ebenso wie Yende bereits bei der Premiere in Paris gesungen hat und die sich vor allem in der Mittellage bewegt, stimmlich nicht so sehr gefordert wird. In seiner ersten Konfrontation mit Violetta („Piangi, o, Misera, piangi“) könnte er etwas väterlicher, wärmer klingen, doch in der Arie „Di provenza“ lässt der derzeit vor allem als Scarpia gesuchte Franzose keinen Wunsch offen. Fein und einfühlsam gestaltet er seinen reuevollen Auftritt im 3. Akt, mit souveräner Sicherheit erreicht er das hohe Ges wie gleich darauf auch das hohe F in „No, non udrai rimpoveri“ und übertönt dabei mühelos das Orchester.

In Nebenrollen gut und mehr als rollendeckend eingesetzt sind Ensemblemitglieder wie Szilvia Vörös als Flora, Carlos Usuna als Gaston und Sergey Kaydalov bei seinem Rollendebüt als Baron Douphol. Aus dem Opernstudio melden sich mit starken Auftritten Stephanie Maitland als Annina und Michael Arivony als Marquis von Obigny.

So richtig überspringen wollen die musikalischen Funken, die in Verdis Partitur enthalten sind, an diesem Abend aber nicht. Das gilt auch für das Staatsopernorchester unter der Leitung von Nicola Luisotti, das brav musiziert und zu wenig Dynamik zeigt. Dreimal Verdi zu Eröffnung der Saison, das müsste sich doch eindrucksvoller und geschlossener gestalten lassen.

Das Publikum im nicht ausverkauften Opernhaus reagiert dankbar mit starkem, nicht allzu lange anhaltendem Beifall darauf, dass man Opern endlich wieder live erleben kann.

Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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