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Alois Schöpf
Zu satt, zu ignorant und zu selbstbezogen
Der Jammer der Kulturschaffenden über ihre Bedeutungslosigkeit, an der sie selbst schuld sind.
Essay

Aus den Zimmerfluchten seiner römischen Renaissancepaläste rief Papst Franziskus zur Unterstützung der Kulturschaffenden auf: „Die Welt braucht Schönheit, um nicht in Verzweiflung zu versinken.“ Nicht minder deutlich formulierte es Riccardo Muti beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, wenn er meinte, die physische und psychische Gesundheit seien das Höchste, wobei für letztere die Musik unverzichtbar sei. Eher nostalgisch äußerte sich die Sängerin, Regisseurin und ehemalige Intendantin des Tiroler Landestheaters Brigitte Fassbaender, wenn sie in einem Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 26. November 2020 davon schwärmte, wie hoch unmittelbar nach dem Krieg und inmitten von Trümmern und größter Not der Stellenwert der Kunst gewesen sei und die Menschen Konzerte und Theater besucht hätten, „um dem Überleben Sinn und Ziel zu geben.“ Ganz im Gegensatz zu heute! Da leide kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich mehr unter den Einschränkungen aufgrund der Pandemie als die Kultur und die Kulturschaffenden, deren Nöte fast kein Gehör in der Gesellschaft fänden. Dabei seien, wie Fassbaender in Übereinstimmung mit Muti betont, Musik, Literatur, Malerei, Theater, Galerien und Museen etwas vom Wichtigsten im Leben. Ihr Fazit: Wir seien, um dies zu erkennen, inzwischen „zu satt, zu ignorant, zu selbstbezogen und zu oberflächlich geworden.“

Brigitte Fassbaender ist eine weltgewandte und höfliche Dame. Daher spricht sie elegant von „wir“, um uns, das Publikum, auf das die Kulturschaffenden angewiesen sind, nicht mit einer Stellungnahme zu beleidigen, in der sie um Sympathien für ihr Anliegen wirbt. Sie spricht aber auch von „wir“, weil sie weiß, dass auch Kulturschaffende, die hoffen, uns, das Publikum, zu erreichen und von ihm geschätzt zu werden, zugleich selbst Publikum sind, das sich mit schlechtem Gewissen immer wieder eingestehen muss, zu wenig Zeit und Energie zu haben oder aufwenden zu wollen, also zu satt und zu selbstbezogen zu sein, um die Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen vor allem im Bereich des Konzertlebens und der dramatischen Künste Oper und Theater, die von Covid 19 am massivsten betroffen sind, mehr als nur oberflächlich zu würdigen.

Ihr „wir“ ist also in zweifacher Hinsicht stimmig, insofern es auf ein Publikum abzielt, das anderen Erwerbstätigkeiten nachgeht, aber auch ein Publikum anspricht, das zu einem nicht unerheblichen Anteil aus uns selbst, auch dem Autor dieser Zeilen, besteht. Damit jedoch ist die Frage naheliegend, ob „wir“, wenn „wir“ schon in unserer Rolle als Publikum zu satt, zu ignorant, zu selbstbezogen und zu oberflächlich geworden sein sollten, dies möglicherweise auch als Künstler und Kulturschaffende wurden?

In diesem Zusammenhang gilt es, Fassbaenders nostalgische Bemerkung von der Bedeutung der Kunst in der unmittelbaren Nachkriegszeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Ohne hier billigem Antifaschismus zu huldigen, dürfte inzwischen soweit Einigkeit über die geschichtliche Entwicklung bestehen, dass die Katastrophe der Nachkriegszeit nur dadurch bewältigt werden konnte, dass die noch viel größere humanitäre Katastrophe der Kriegszeit und hier vor allem die Abgründe des Holocaust radikal verdrängt wurden und gleichsam mit unschuldigem Herzen und reinem Gewissen das Ideal des klassischen Bildungsbürgertums vom Geistesadel und einem Volk der Dichter und Denker wieder aufgenommen wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Ideale in Gestalt von kunstsinnigen und zugleich pathologischen Tätern und ebenso kunstsinnigen und karrierebewussten Opportunisten mit nur wenigen rühmlichen Ausnahmen ihre Untauglichkeit bewiesen hatten, der Tötungsmaschinerie einer Diktatur zu widerstehen.

Ganz in diesen psychischen Überlebensprozess des Verdrängens passen denn auch die Pultstars der philharmonischen Konzerte, die nach oberflächlicher Entnazifizierung gleichsam den Führerkult statt vor der Wehrmacht nunmehr als Kulturschaffende vor dem Orchester zelebrieren durften. Es genügt an dieser Stelle auf die spektakuläre Verfilmung einer Aufführung der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven unter der Leitung von Herbert von Karajan zu verweisen, in der suggeriert wird, der in seiner Allgewalt fuchtelnde und mit Stenz-Frisur aufgeschmückte Maestro habe aus den Tiefen seiner schamanistisch-vulkanischen Seele heraus das Werk selbst komponiert und die armen Musiker der Berliner Philharmoniker seien lediglich seine Exekutiv-Marionetten. Die Sehnsucht, statt eines politischen Führers zumindest zu großen Dirigenten und mit ihnen zu den hehren Werten der Kultur aufblicken zu dürfen, führte denn auch in Folge zur Bereitschaft Deutschlands und Österreichs, sich zwecks Entlastung des schlechten Gewissens mittels massiver öffentlicher Subventionen zu Kulturnationen umzudeuten, ein eigenartiges posthöfisches Amalgam, das, wie etwa an der Entwicklung der Salzburger Festspiele abzulesen ist, speziell in Österreich zu einer neuen, kulturtouristisch äußerst gewinnbringenden Identität führte, die den Wiederaufbau und das beginnende Wirtschaftswunder durch den Glauben an das Wahre, Gute und Schöne psychologisch und kommerziell unterfütterte.

Dass diese heile Welt, der Brigitte Fassbaender etwas zu naiv nachtrauert, auf einer zwar psychohygienisch verständlichen, jedoch langfristig unhaltbaren kollektiven Lüge aufbaute, an den Untaten des Naziregimes gar nicht oder nur am Rande beteiligt gewesen zu sein – dies zu dekonstruieren blieb der sogenannten 68er-Generation vorbehalten, die, in der reinen Luft der unbefleckten Humanismus-Ideale aufgewachsen und erzogen, plötzlich deren die Vergangenheitsbewältigung verhindernde Funktion durchschaute: als Kulisse des Schönen zur Vertuschung des Allerschrecklichsten zu dienen, für das die Verantwortung zu übernehmen sich die Elterngeneration in eisernem Schweigen weigerte. Nicht nur politisch, sondern vor allem kulturell sollten die Folgen dieser Erkenntnis dramatisch ausfallen. Denn so effizient sich in der Politik ein starker Staat gegen den Terror von Dilettanten in Gestalt der Roten-Armee-Fraktion zu wehren wusste, so lange dauerte es, die utopischen Idyllen des Marxismus, Kommunismus, Leninismus, Trotzkismus und Maoismus als bestialische Alternative zu einem immer mehr Bürger miteinbeziehenden Wirtschaftswunder bloßzustellen. Noch im Jahre 1968 ließ ein windschlüpfriger Hans Magnus Enzensberger in seinem Kursbuch Peter Weiss von seiner schwedischen Holzhütte aus dazu aufrufen, es sei Zeit für die Kollegenschaft, nunmehr ihre Schreibtische zu verlassen und zum Gewehr zu greifen. Die klammheimlichen Heilserwartungen an eine Revolution sind das Myzel geblieben, von dem der Schimmelbefall des Regietheaters bis heute lebt. Eine ganze Generation ursprünglich durchaus zu Recht rebellierender Kulturschaffender verstand es, ihre Karrierechance zu nützen und sich auf den Sesseln jener breit zu machen, die zuerst von den Nazis vertrieben und wohlweislich aus dem Exil nicht mehr zurückgeholt wurden oder die aufgrund von Mittäterschaft zumindest eine Zeit lang aus dem Verkehr gezogen werden mussten und anschließend mit den Fährnissen eines fragwürdigen Rufes zu kämpfen hatten. Mit dem Furor von ihren Eltern hinters Licht Geführter und dem Fortschreiten der Geschichte Verpflichteter stellten sie das kapitalistische Abendland als Ganzes unter Faschismusverdacht und bürsteten die je nach Lust und Laune zur Exekution freigegebenen Werke der Oper oder des Theaters im Sinne antifaschistischer Hygienemaßnahmen gegen den Strich.

Es seien hier nur einige der besonders anpassungsfähigen Persönlichkeiten und paradigmatischen Karrieren im Bereich der Musik und des Theaters erwähnt. Sie stehen für eine Entwicklung, die zu einer so nachhaltigen Verärgerung und Abwanderung des Publikums geführt hat, dass es nicht weiter verwundert, wenn ausgerechnet die Nöte jener, die früher stolz die Spitzen der Hochkultur repräsentierten, heute einer breiten Bevölkerung vollkommen gleichgültig geworden sind.


1. Für die Musik: Pierre Boulez

Richard Strauss schrieb im Jahre 1948 als eines seiner letzten Werke „Vier letzte Lieder“, die mit Eigenzitaten und Zitaten aus dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms nicht nur einen Abgesang auf das eigene Lebensende darstellen, sondern auch als letzte melodische Morgengabe nach der Finsternis des Naziterrors eine Jahrhunderte währende Entwicklung der abendländischen Musik abschließen. Die Uraufführung des Liederzyklus fand 1950 in London statt, Richard Strauss war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. Wilhelm Furtwängler, wie Strauss der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt, leitete das Konzert.

Zwei Jahre später besuchte ein gewisser Pierre Boulez zum ersten Mal die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“ in Darmstadt, deren Anliegen es war, die während der Nazizeit aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit entschwundene internationale Entwicklung der zeitgenössischen Musik in Deutschland nachzuvollziehen. So wurden Werke von Arnold Schönberg, Anton Webern, Igor Strawinsky und Béla Bartók zum ersten Mal aufgeführt, noch viel wichtiger jedoch als diese Konzerte war der Aufmarsch von Theoretikern, unter ihnen auch Theodor W. Adorno, der bekanntlich den Jazz als ein nicht ernst zu nehmendes Trivialprodukt der Kulturindustrie und Dimitri Schostakowitsch, eines der größten Musikgenies des 20. Jahrhunderts, als epigonalen Neoklassizisten abqualifizierte. An der Seite solch musikalischer Chefideologen, die von nun an den Komponisten vorschreiben sollten, wie ihre Werke zu klingen hatten, kamen auch Komponisten wie Edgard Varèse, Olivier Messiaen, Ernst Krenek oder John Cage. Letzterer wurde vor allem berühmt durch sein Stück „4’33″“, über das in Wikipedia zu lesen ist: „Da während der gesamten Spieldauer der Komposition kein einziger Ton gespielt wird, stellt ihre Aufführung die gängige Auffassung von Musik in Frage. „4′33″“ wurde so zu einem Schlüsselwerk der Neuen Musik und regt dabei Zuhörer wie Komponisten und Interpreten gleichermaßen zum Nachdenken über Musik und Stille an.“

Vor dem Hintergrund solcher Verschrobenheit wundert es nicht, dass der rührige und marketingbewusste Pierre Boulez, der mit Unterstützung der französischen Regierung im Centre Pompidou in Paris ein Forschungsinstitut für Akustik/Musik (IRCAM) gründen konnte, seine berühmte Forderung erhob, die Opernhäuser der Welt in Flammen aufgehen zu lassen. Diese radikale Absage an die neben den Kirchen bedeutendsten sakralen Zentren der abendländischen Kultur hinderte Boulez jedoch nicht, ab den 1960-er Jahren zuerst als Gastdirigent, dann als Chefdirigent die Leitung bedeutender klassischer Orchester wie des Cleveland Orchestra, des BBC Symphony Orchestra und als Nachfolger Leonard Bernsteins das New York Philharmonic Orchestra zu übernehmen. Höhepunkt waren dabei als geradezu grotesker Kontrast zu den Sprüchen vom Beginn seiner Laufbahn jene Dirigate in Bayreuth, dem absoluten Zentrum großbürgerlicher Hochkultur, wo er neben „Parsifal“ musikalisch einen „Jahrhundertring“ betreute, in dem der junge französische Regisseur Patrice Chéreau der festlich gekleideten deutschen Plutokratie marxkompatibel ihre eigene Verkommenheit vor Augen führte.

Die Kompositionen von Pierre Boulez sind hochkomplex, verkopft und nur für Personen genießbar, die über eine große Hörerfahrung in Sachen klassischer bzw. zeitgenössischer Musik verfügen. Über die Eigenschaft großer Musik, die in der Lage ist, grundlegende menschliche Emotionen auszuformulieren, weshalb sie immer wieder angehört werden möchte, verfügen die Werke von Boulez nicht. Sie müssen ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung auf die liebende Zuwendung eines größeren Publikums immer noch verzichten und werden diese Zuwendung auch niemals erhalten. Sie repräsentieren vielmehr paradigmatisch eine Musik, die sich vom Anspruch verabschiedet hat, nicht nur emotionaler Echoraum eines kulturell interessierten, ästhetisch gebildeten Abonnement-Publikums zu sein, sondern auch in der Pop- und Breitenkultur die musikalische Themenführerschaft im Hinblick auf die gerade aktuellen Hits und Gassenhauer innezuhaben.

Die zeitgenössische Musik wurde unter dem Diktat ihrer avantgardistischen Herrscher, die bis heute über ihre Theoretiker und Kulturredakteure die Claims subventionierter Überlebensnischen verwalten, zu einer Angelegenheit abgehobener und distinktionsgeiler Spezialisten, die ihren Selbstwert daraus beziehen, Klänge genießen zu können, vor denen das breite Publikum, zwar beschämt ob seiner Dummheit, die Flucht ergreift. Die Klage über die pandemiebedingte Not ihrer Tonschöpfer rührt die Öffentlichkeit also umso weniger als der künstlerische Hungertod einer im Greisenalter erstarrten Avantgarde als Silberstreifen am Horizont die Hoffnung aufkommen lässt, der sogenannten neuen Musik könne doch noch irgendwann eine neuere folgen, die sich auf den päpstlichen Traum von der Schönheit, was immer das sein mag, besinnt und der schon viel zu lange dominierenden Kakophonie in den Konzertsälen und Opernhäusern ein Ende bereitet.

Fortsetzung am 15. 01. 2021:
Für das Theater: Peter Handke, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard

https://www.sueddeutsche.de/muenchen/gastbeitrag-brigitte-fassbaender-krise-kultur-corona-lockdown-1.5128731


Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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