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Manfred A. Schmid
Revolution als Weg in die Dystopie
Zur österreichischen Erstaufführung der Oper
„Animal Farm“
an der Wiener Staatsoper

Die Oper Animal Farm des russischen, im Exil lebenden Komponisten Alexander Raskatov beruht auf George Orwells gleichnamigem Roman, in dem er bitter-satirisch vorführt, wie eine Revolution, die aus hehren Motiven entsteht – eine gerechtere, die Benachteiligten und Ausgebeuteten gleich behandelnde Gesellschaft soll geschaffen werden – immer mehr zu einer totalitären Gewaltherrschaft verkommt. 

Diesen Degenerierungsprozess schildert Orwell am Beispiel des Aufstands der Tiere auf einem Bauernhof gegen ihre Herren, die Menschen, in dem sich die Schweine als Anführer verdient machen und sich, nach der Vertreibung der bisherigen Machthaber, nach und nach immer mehr Privilegien zugestehen, die Macht brutal an sich reißen, die ursprünglichen Ziele der Revolution verraten und sich am Schluss von den vorherigen Machthabern und deren Praktiken nicht mehr unterscheiden. 

Die Zustimmung holen sie sich durch manipulative Pressearbeit (einmal wird eine riesige Druckmaschine aufgefahren) und durch die Verfolgung und Ausmerzung aller, die anderer Meinung sind. Schauprozesse und Selbstbezichtigungen der Opfer stehen auf der Tagesordnung.

Daniel Jenz (Mr. Jones), Aurora Marthens (Mrs. Jones), Wolfgang Bankl (Napoleon), Christian Unterreiner (Mr. Pilkington), Holly Flack (Mollie), Ensemble. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn Daniel Jenz (Mr. Jones), Aurora Marthens (Mrs. Jones), Wolfgang Bankl (Napoleon), Christian Unterreiner (Mr. Pilkington), Holly Flack (Mollie), Ensemble

In der Regie von Damiano Michieletto legen im weiteren Verlauf immer mehr der Tiere ihre Schweine-, Esels-, Schafs- und Kuh-Masken ab und werden so selbst zu Menschen, also zu jener Spezies, die sie einst bekämpft haben: Das Unheil ist nicht bestialisch, sondern menschlich. Entgegen ihrer ursprünglichen Faustregel Zwei Beine schlecht, vier Beine gut sitzen die elitären Führer mit den Menschen längst wieder an einem Tisch und sind gemäß ihrer Gesinnung ohnehin schon zu Zweibeinern geworden.

Der Text der in englischer Sprache gesungenen Oper stammt von Ian Burton und vom Komponisten, der als gebürtiger Russe die Satire Orwells, die sich offensichtlich gegen den Stalinismus und seine GULAG-Mentalität richtete, noch verschärft und mit der Figur des sexistisch-brutalen Squealer dem übergriffigen sowjetischen Geheimdienstchef Beria ein verheerendes Denkmal setzt. 

Das Libretto wie auch die Regie hat aber ansonsten nicht so sehr die Kritik am stalinistischen Regime im Fokus – Russen-Bashing ist nicht angebracht – sondern überhöht die Satire zu einer bedrückenden Geschichte, die den Niedergang einer Utopie in eine erschreckende Dystopie schildert: Volksherrschaft verkommt zu Totalitarismus, Demokratie wird zur Diktatur, der Traum zum Albtraum.

Die Musik von Alexander Raskatov ist eklektizistisch im besten Sinn des Wortes. Fast jede Situation wird mit je eigenen musikalischen Mitteln aus dem Fundus der Gegenwartsmusik, aber auch aus der Vergangenheit geschildert. Wie Bruchstücke aneinandergereiht, ergibt es doch ein eindrucksvolles, manchmal auch recht anstrengend zu hörendes Ganzes mit verbindlichen melodiösen Grundlinien und wiederkehrenden Motiven, da jede der insgesamt 15 Personen mit einer ganz eigenen, unverwechselbaren musikalischen Signatur ausgestattet ist. 

Da wird geschrien, gequiekt, gekräht, gequietscht, gemuht, gebrummt, gewiehert und geblökt, der eine singt wie eine Sirene, eine andere piepst lautstark in abenteuerlich hohen Tonregionen: Das lautstarke und abwechslungsreiche Treiben auf einem aus den Fugen geratenen, in einem akuten Ausnahmezustand befindlichen Bauernhof, pardon: Schlachthof. Vierteltöne, Glissandi, rekordverdächtige Koloratursprünge, abgrundtief brummendes und grell-hoch kreischendes Blech.

Stefan Astakov (Boxer), Margaret Plummer (Clover), Isabel Signoret (Muriel), Karl Laquit (Benjamin), Ensemble

Alexander Soddy am Pult des Staatsopernorchesters ist ein großartiger Leiter dieses Klanggestöbers und koordiniert das musikalische Geschehen mit Präzision und Verve und hat auch die starken Auftritte des Projektchor Animal Farm & Chorakademie sowie des Jugendchors der Opernschule bestens im Griff. Dass alle, Chor und Solisten unter den Masken singen können, ist fast ein Wunder, das der für die Kostüme verantwortliche Klaus Bruns möglich gemacht hat.

Regisseur Michieletto verlegt die Handlung von einem Bauernhof in einen Schlachthof. Die beklemmende, aussichtslose Situation der in Käfigen eingesperrten Tiere wird durch Fleischerhaken an der Decke und einen riesigen, mit frischem Nachschub vollgestopften Fleischwolf, der herangefahren wird verstärkt (Bühne Paolo Fantin). Der besoffene Bauer Mr. Jones (Tenor Daniel Lenz), der von seiner Frau (Aurora Marthens) kaum vom Trinken abgehalten werden kann, vernachlässigt das Vieh, weil es ohnehin demnächst auf der Schlachtbank landen wird.

Das veranlasst Old Major, das weise und respektierte Oberschwein, dazu, seine Genossinnen und Genossen zur Erhebung gegen die Unterdrücker aufzurufen. Der Basso Profondo Gennady Bezzubenkov, schon in der Amsterdamer Premiere der Co-Produktion (der Dutch National Opera, der Wiener Staatsoper, des Teatro Massimo Palermo und der Finnish National Opera & Ballett) in dieser Rolle im Einsatz, ist ein Autorität ausstrahlender Auslöser der nun einsetzenden Revolution. 

So tiefe Basstöne wie hier hat man zuvor wohl noch nie vernommen. Alle Achtung, aber schön ist das kaum mehr zu nennen. Aber (stimmliche) Schönheit ist wohl das Letzte, das Raskatov beim Komponieren dieser Oper vorgeschwebt haben dürfte. Orwells Vorbild für diese Figur war wohl Karl Marx, dessen Klassenkampf zwischen Kapitalisten und Arbeiterschaft (Proletariat) vom Old Major auf die Formel Zwei Beine : Vier Beine verknappt wird.

Die Revolution beginnt, die Musik wird extrem expressionistisch. Als treibende Kraft unter den vielen Tieren erweisen sich von Beginn an die Schweine unter ihrem machtbewussten Anführer Napoleon, wohl eine Anspielung auf Stalin, darstellerisch und gesanglich eindrucksvoll gestaltet vom Bassbariton Wolfgang Bankl.

Michael Gniffke (Snowball) und Ensemble

Napoleon ist es auch, der bei der ersten Frage, was nun, nachdem die Herren vertrieben worden seien, mit der Milch geschehen möge, diese für die Schweine beansprucht. Schließlich trügen sie die Hauptlast der Verantwortung. Assistiert wird er vom Tenor Snowball (Michael Gniffke), der alsbald als Verräter (Trotzky?) hingerichtet wird, und vom umtriebigen, aalglatten Squealer (Andrei Popov). Squealer (Schreier) ist der bereits erwähnte Geheimdienstchef, der einer Frau, die sich ihm verweigert, einen Blumenstrauß überreicht. Als sie sich für diese Aufmerksamkeit bedankt, gibt er ihr zu verstehen, dass der Bestimmungsort der Blumen ihr Grab sei…

Die amerikanische Koloratursopranistin Holly Flack ist eine vortreffliche Besetzung für Molly. Eine elegante Stute, die das Luxusleben liebt, gerne flirtet und am liebsten ihre mit Bändern verzierte Mähne striegelt. Molly kann der Revolution wenig abgewinnen und geht lieber eine Liaison mit dem Handlanger der Kapitalisten, Mr. Pilkington ein (darstellerisch wie gewohnt bestens vorbereitet und auch stimmlich gut Clemens Unterreiner).

Aus den vielen Nebenrollen zu erwähnen Elena Vassilieva, Sopranistin und Gattin des Komponisten, als Blacky, Verkörperung des Schwarzen Raben – so nannte man in der Stalinzeit die schwarzen Autos, in denen man die Häftlinge abholte. Eine unheimlich düstere Verkünderin von Tod und Verderben.

Am Schluss sind alle Ideale der Revolution vergessen und werden von den Wänden, auf denen sie als Parolen und Gebote des Animalismus, wie sie ihre Bewegung nennen, aufgemalt sind, abgewaschen. Der Verrat ist vollbracht. Nun heißt es, in grellen Neonbuchstaben: Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere. 

Im letzten Bild thront Napoleon, in einem hellblauen Blazer gekleidet, an einem Tisch, umgeben von fein herausgeputzten Damen und jenen Menschen, die sie einst vertrieben hatten, und hebt das Messer, um auf das Spanferkel, vor ihm zur Verkostung aufgebahrt, niederzustechen. Der Vorhang fällt.

Sehr heftiger Beifall für das Ensemble, für das Leading Team und auch für die neue Oper, der in dieser Stärke aber nicht allzu lange anhält. Bis zum Ende nach fast 10 Minuten Dauer sind dann nur noch wenige unverdrossene Klatscher am Werk. 

Kein Wunder, die schockierend ernüchternde Handlung und der geradezu vernichtende Schluss liefern eine bittere Erkenntnis über den Zustand der (auch unserer?) Welt. Die Warnung scheint angekommen zu sein!

 

Copyright alle Fotos: Staatsoper Wien / Michael Pöhn

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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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