Manfred A. Schmid
Die Operette, die Nazis und die Volksoper
Zur Premiere von
„Lass uns die Welt vergessen“

Es ist gar nicht so lange her, da sprach man hierzulande noch von Vergangenheitsbewältigung. Ein Unwort. Denn die Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen, sie kann nur aufgearbeitet werden. Das ist kein einmaliger Kraftakt, mit dem man alles ein für alle Mal bewältigt hat und die Vergangenheit dann endlich hinter sich lassen kann, sondern ein mühsamer, schmerzvoller, andauernder, nie abgeschlossener Prozess, der oft auch mit Trauerarbeit verknüpft ist. 

Es hat lange gedauert, bis die großen Kulturinstitutionen in Österreich sich dieser Aufgabe gestellt haben. Vorbildlich waren etwa die Wiener Philharmoniker, die – allerdings auch erst 2013 – auf Initiative des damaligen Vorstands der Wiener Philharmoniker, Clemens Hellsberg, eine unabhängige Historikergruppe unter der Leitung des Historikers Oliver Rathkolb mit der Erforschung der Vertreibung und Verfolgung der jüdischen Mitglieder des Orchesters betrauten.

Zehn Jahre später ist es nun auch an der Volksoper so weit, dass die Ergebnisse der Aufarbeitung, mit der wohl schon unter den Vorgängern der jetzigen Chefin begonnen wurde, der Öffentlichkeit präsentiert werden. Allerdings in einer Form, die diesem Haus entspricht, nämlich als ein künstlerisches Auftragswerk, das von Lotte de Beer zum 125. Geburtstag der Volksoper vergeben wurde. 

Die kühne und von Regisseur und Autor Theu Boermans und seinem Team, dem beratend die Theaterhistorikerin Marie Therese Arnbom kundig zur Seite stand, kreativ entwickelte und umgesetzte Idee dahinter: Es wird gezeigt, wie sich die politischen Verhältnisse und Vorgänge unmittelbar vor und nach der Machtübernahme durch die Nazis im März 1938 zunehmend in eine Operettenproduktion einmischen, diese immer mehr unterwandern und schließlich total zu einem Machwerk ihrer Gesinnung umfunktionieren.

Geprobt wird die eher harmlose Operette Gruß und Kuss aus der Wachau von Jara Benes (Musik) und Hugo Wiener, Kurt Breoer und Fritz Löhner-Beda, die damals tatsächlich auf dem Spielplan stand. Die jüdischen Sängerinnen und Sänger im Ensemble werden, ebenso wie die leitenden Verantwortlichen, zunehmend unter Druck gesetzt, nehmen die Veränderungen zunächst aber nicht ganz so ernst und halten sie für eher vorübergehende Phänomene, werden im weiteren Verlauf aber doch von Existenzängsten heimgesucht, denken an Auswanderung und Flucht und überlegen, was mit ihren Angehörigen geschieht.

Die beklemmende Atmosphäre wird auf drei Ebenen vorgeführt: Zum einen ist es die Probenarbeit, die von den politischen Veränderungen betroffen ist, und in der künstlerischen Entfaltung gehemmt und letztlich unmöglich gemacht wird. Dazu gibt es Videoeinspielungen von politischen Aufmärschen und Kundgebungen, Reden von Bundeskanzler Schuschnigg, Hitler, Widerstandsäußerungen und Aufrufe, Verkündigung einer Volksabstimmung, die wieder abgesagt wird, und schließlich Einmarsch und Anschluss und bald danach erste Aufnahmen von Juden, die Straßen und Plätze schrubben müssen. 

Die dritte Ebene zeigt die Betroffenen zu Hause, kurze, aber erschütternde Stimmungsbilder und Dokumente wachsender Verunsicherung und Verzweiflung.

Auch die Musik hat drei Ebenen. Da ist einmal die Operette, die geprobt wird. Gängige, charmante, wienerische Melodien und Tänze, die von der Dirigentin Keren Kagarlitsky stimmig aus einem aufgefundenen Klavierauszug neu instrumentiert werden mussten. Die Partitur ist verschollen. Eine heile Welt, wie sie für Operetten in schweren, sich wandelnden Zeiten wohl typisch ist.

Über die wahre Stimmungslage Aufschluss geben allerdings die eingefügten ernsten Stücke von Arnold Schönberg, Viktor Ullmann und Gustav Mahler authentisch Auskunft. Sie machen die bedrohliche Lage, in der sie entstanden sind, die Befürchtungen angesichts des Kommenden beklemmend hörbar. Schließlich ist, je mehr jüdische Künstler abgezogen und durch Kolleginnen und Kollegen aus der zweiten und dritten Reihe ersetzt werden müssen, um den Spiel- bzw. Probenbetrieb aufrechterhalten zu können, eine spürbare Verrohung der Musik zu konstatieren. 

Stampfende Marschmusik und protzige Chorgesänge, von Kagarlitsky treffsicher und entblößend arrangiert, kündigen Unheil an, das dann auch prompt eintritt. Die jüdischen Künstlerinnen und Künstler sind alsbald in alle Welt verstreut, leben als ausgezehrte Gerippe im KZ, wie in schrecklichen Einspielungen zu sehen ist, wurden ermordet oder haben Selbstmord begangen. 

Und während in der Heimat gegrölt und gestampft wird, sitzt in Südamerika ein einsamer Mann am Klavier und träumt vom Wiener Prater, in dem die Bäume wieder blühen…

Ein aufwühlender Abend, exzellent gespielt, allerdings wohl etwas zu lang geraten. Bei der Fülle an tollen Schauspielerinnen und Schauspielern, Sängerinnen und Sängern fällt es schwer, einige speziell hervorzuheben. 

Genannt seien, pars pro toto, Marco Di Sapia als souveräner, kompromisslos seiner Verantwortung verpflichteter Volksopernintendant Alexander Kowalewski, Jakob Semotan als pflichtbewusster Regisseur und Spielleiter Kurt Hesky, der bis zuletzt nicht aufgeben und der Kunst dienen will, und Johanna Arrouas als Hulda Gerin, eine Sängerin, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil als Hilde Güden eine Weltkarriere machen sollte. 

Stehende Ovationen. Hingehen ist hier fast so etwas wie Pflicht.

Bildnachweis/Copyright der Photos: Volksoper Wien/Barbara Palffy


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Manfred A. Schmid

Manfred Schmid hat am Konservatorium in Klagenfurt Violine und Tonsatz und an der Universität Wien Philosophie und Psychologie studiert. An der University of Strathclyde in Glasgow, wo er als Lektor tätig war, hat er ein Postgraduate-Studium der Literaturwissenschaft absolviert. Nach einigen Jahren als Universitätsdozent an der Universidad Nacional dé Mexico kehrte er nach Österreich zurück, wo er zunächst als Cheflektor und Verlagsleiter die Edition S, den Belletristik-Zweig des Verlags der Österreichischen Staatsdruckerei, leitete. Es folgten rund zehn Jahre als Redakteur bei der Wiener Zeitung (Medienressort-Leitung, Theater- und Musikkritik, Kolumnist der „Extra“-Beilage) und eine mehrjährige Tätigkeit als Trainer und Coach (Kommunikation, Berufsorientierung). In der Pension schreibt Schmid regelmäßig Opernkritiken auf www.onlinemerker.com und widmet sich intensiv dem Komponieren – eine Leidenschaft, die ihn seit der Kindheit bis heute begleitet.

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