Literarische Korrespondenz:
Paul Dietl
Professor für Physiologie, Universität Ulm
Betrifft:
Verjährung von Plagiaten
Sehr geehrter Herr Schöpf,
grundsätzlich teile ich Ihr Unbehagen, dass es möglich sein sollte, sich einen erschwindelten akademischen Grad durch Verjährung zu ersitzen.
Als jahrzehntelanges Mitglied und Vorsitzender der Senatskommission Verantwortung in der Wissenschaft und Ombudsmann für wissenschaftliches Fehlverhalten durfte ich mich allerdings in extenso mit den praktischen, verfahrenstechnischen Aspekten der Aufklärung und Bestrafung wissenschaftlichen Fehlverhaltens auseinandersetzen.
Die Angelegenheit ist zu vielschichtig und komplex, um sie hier vollständig abzuhandeln, aber im folgenden seien nur kurz aus praktischer Sicht ein paar Punkte erwähnt, die pro Verjährung sprechen:
Die Archivierungspflicht für Originaldaten (von Experimenten, Datensätzen, Bildern etc.) beträgt 10 Jahre. In Zeiten der digitalen Datenerfassung, in der ein einziges naturwissenschaftliches Experiment schon Gigabytes an Daten verschlingen kann, sind 10 Jahre eine enorme logistische und finanzielle Herausforderung.
Diese Frist wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und analogen Institutionen im In- und Ausland nicht aus Jux und Tollerei so festgelegt.
In der Praxis ist es extrem schwierig, einen wissenschaftlichen Betrug nach dem Verstreichen dieser Frist nachzuweisen. Selbst wenn Bilderkennungsprogramme u.a. beispielsweise Konturen und Farben in einer Abbildung als höchstwahrscheinlich nachträglich manipuliert ausweisen, ist der definitive Nachweis bzw. die Abschätzung des Schweregrades bei gelöschten Primärdaten de facto unmöglich.
Und Gott-sei-Dank leben wir ja noch in einem Rechtsstaat, in dem man dem Beschuldigten einen betrügerischen Vorsatz nachweisen, und nicht umgekehrt der Beschuldigte seine Unschuld beweisen muss (auch wenn ich das Gefühl habe, dass dieses Grundprinzip in den Köpfen der Leute zunehmend schwindet).
Schlicht schlechte Wissenschaft
Und damit komme ich zum nächsten Grundproblem, mit dem wir als Ombudsleute und Kommissionen für wissenschaftliches Fehlverhalten zunehmend konfrontiert sind: das Verwechseln von schlechter Wissenschaft einerseits und wissenschaftlichem Fehlverhalten (bspw. Betrug) andererseits.
Falsches Testen von Hypothesen/experimentelles Design, schlampiges Experimentieren, die Verwendung unzureichender oder schlechter Kontrollexperimente, die unangemessene Anwendung und Interpretation statistischer Tests, unzulässige Schlussfolgerungen, unsauberes Zitieren etc. sind zwar alles schlechte Wissenschaft, aber noch lange nicht automatisch wissenschaftliches Fehlverhalten, welches in diversen Kodizes der DFG u.a. klar definiert ist.
Ironischerweise könnte man überspitzt sagen: Dummheit oder Schlampigkeit alleine ist kein Verbrechen, solange nicht grobe Fahrlässigkeit oder bewusstes Irreführen der Öffentlichkeit eindeutig nachweisbar ist.
Und manchmal ist ja auch der Doktorvater/die Doktormutter nicht gerade ein Kind Einsteins. Wenn wir diese Büchse der Pandora öffnen, dann können wir der Massenuniversität gleich schon ade sagen, oder wir müssten eine Heerschar an Gutachtern für wissenschaftliche Arbeiten einsetzen, die sich diesen enormen Zeitaufwand nicht mehr ehrenamtlich bzw. nicht-remuneriert leisten könnten.
Derartige Anzeigen rauben uns enorm viel Zeit, und die Fälle, in denen klares wissenschaftliches Fehlverhalten vorliegt, sind verschwindend gering. Zusätzlich haben sich auch manche Regeln, Sitten und Vorschriften über die Jahre geändert. Regeln guter wissenschaftlicher Praxis wurden präzisiert und nachgeschärft.
Manchmal stößt die Kommission an ihre Grenzen bei der Beurteilung, was vor 20 Jahren gerade noch legitim war oder eben nicht. Eine Verjährung erscheint auch aus diesen Aspekten sinnvoll.
Inzwischen gibt es websites, z.B. Pubpeer (https://pubpeer.com/static/about), in denen Autoren, bei denen Unregelmäßigkeiten o.ä. in Publikationen entdeckt werden, an den Pranger gestellt werden können. Das sind zum Teil Leute, die selbst schon über 70 Jahre alt und deren Publikationen schon über 30 Jahre alt sind.
Wir als Ombudsleute/Kommissionen müssen diesen anonymen Anzeigen nachgehen. Ich darf Ihnen aus Erfahrung berichten, dass Whistleblower nicht nur Gutmenschen sind, die das Abendland retten wollen. Da stecken schon oft alte Querelen, Rachegelüste etc. dahinter. Leute, die sich ihr Leben lang für die Wissenschaft eingesetzt haben, werden dann von gewissen Wissenschaftsjournalisten gnadenlos vorverurteilt (siehe z.B. https://forbetterscience.com/2019/11/05/opera-buffa-di-guido-kroemer-a-la-scala/).
Auch dieses Unwesen wäre wohl beendet, wenn es eine Verjährung gäbe. Insgesamt diffizile Angelegenheit, und wie bei allem: Es gibt ein Für und Wider.
In jedem Fall beste Grüße, Ihr
Paul Dietl