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Literarische Korrespondenz:
Pater Eugen Frei, SJ
an einen Maturanten
im Jahr 1971

P. Eugen Frei, SJ, war der letzte Rektor des Jesuitenkollegs Stella Matutina, das ich selbst bis 1969 besuchen durfte und das im Jahre 1978 geschlossen wurde. Pater Frei, geboren im Jahre 1927, starb im Januar 2023 hochbetagt. Einer seiner Schüler brachte zum Begräbnis einen Brief mit, den er im Jahre 1971 zum Abschluss seiner Gymnasialzeit von Pater Frei erhalten hatte. In diesem Schreiben wird in großartiger Weise das humanistische Bildungsideal von einem begeisterten Lehrer noch einmal in sehr persönlicher Weise formuliert, und soll als bedeutendes Dokument einer diesem Bildungsideal zunehmend fernstehenden Zeit in Erinnerung gerufen werden.

Alois Schöpf


Mein Lieber!
Endlich bist Du soweit! Oder sagst Du heute in der Stunde des Abschieds: „Schon soweit?“ In der 8. Klasse schien die Zeit zu fliegen.

Du bist nun reif. Das ist zunächst einmal etwas Äußeres, Feststellbares und Festgestelltes. Das Reifezeugnis, das Du mitnimmst, bestätigt, dass Du das nötige Wissen – und noch wichtiger! – die nötige Denkschulung besitzest, um an der Universität Dein Fach- und Berufsstudium beginnen zu können.

Wir Lehrer haben uns Mühe gegeben, wir haben Dir vieles erklärt und beigebracht, wir haben Dir harte Arbeit und Fleiß abverlangt. Es war nicht immer leicht für Dich. Oft hast Du Dich nicht genug verstanden und manchmal zu hart behandelt gefühlt. Aber Du warst auch nicht immer bequem für uns in den Jahren, wo Du noch nicht viel wusstest, worum es geht. Du hast viel Geduld gebraucht und an unseren Nerven gezerrt. Aber ich freue mich heute mit meinen Kollegen, dass Du das Ziel erreicht hast.

Dennoch wäre ich nicht zufrieden, wenn ich Dir bloß Wissen beigebracht, Deinen Verstand geschult und Deine Begabung gefördert hätte. Das war alles notwendig und lebenswichtig. Aber ich wollte auch ein wenig Dein Menschsein, Dein Herz mitgeformt haben durch mein eigenes Menschsein und das Menschsein der Großen, denen ich Dich begegnen ließ.

Du hast es hoffentlich gespürt, dass ich mit den alten Griechen nicht bloß Dein Gedächtnis belastete. Es sollten nicht bloß Antiquitäten und totes Wissen sein. Ich wollte durch Sokrates auch in Dir die Frage wecken nach dem Schönen und Guten, nach dem Wahren und Gerechten. Du solltest in einer Zeit des verwirrenden Wechsels und der rasch abgelösten Moden Freude bekommen am Sein (am ganzen Sein!), an den Werten der Treue, der Zuverlässigkeit und Beständigkeit.

Ich habe versucht, Dir Freude zu geben am Sinn und Verständnis für das Geheimnis. Überall ging es mir um die Sicht des Ganzen. Hoffentlich bleibt Dir die Erfahrung, dass man bei allem immer wieder auf Gott kommt. Ohne dass es „fromm“ wird.
Mit all dem hoffe ich Dein Herz und Dein Menschsein gestärkt und gefestigt zu haben. Du verlässest uns, so hoffe ich, mit der schlichten, dankbaren Freude an Dir und dem Geschenk Deines Lebens, das Frucht verspricht.

Ich wünsche Dir, dass diese Frucht reife, durch die Du ein Segen wirst für Deinen kleineren oder größeren Lebenskreis, in dem Du einmal wirkst. Mit diesem Wunsche begleite ich dich sehr herzlich dein

Eugen Frei, SJ

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