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Helmuth Schönauer
Großmutter, Krieg, Kaiser-Schlamm
und Notaufnahme
Vier Zugänge zur ukrainischen Literatur

Fiktionale Literatur klärt zum einen über die diversen Länder der Erde auf, andererseits verpasst sie ihnen Bilder, welche die klare Sicht eintrüben.

Am Beispiel der Frankfurter Buchmesse lässt sich dieses Verschwimmen von Klarheit und Diffusum besonders deutlich ablesen, wenn sogenannte Gastländer auftreten.

Wer aus dem Gastland X ist zu Hause dominant genug, dass er sein Land im Ausland vertreten darf? Wer ist imstande, die jeweiligen Übersetzungen zu initiieren? Wer bedient die jeweils regierende Kaste des Landes? Wer hat genug Charme, in Frankfurt als Dissident anerkannt und gefeiert zu werden?

Längst sprechen wir von Literaturmarkt, wenn wir Literatur sagen. Seit den Nuller Jahren diskutieren wir nur mehr, wer wo welche Story laufen hat. Der Markt gibt jährlich zwei Ur-Kataloge heraus, an die sich beinahe alle Verlage halten.
Wie in der Mode gibt es die dominante Saisonfarbe, den einheitlichen Karottenschnitt und letztlich die modulare Austauschbarkeit der diversen Komponenten.

Romane werden in einer Art Kinderarbeit hergestellt, indem man Kids über Schreibwerkstätten an die Schreibkunst heranführt und vor allem Stoffgehorsam und Gendern an den Nähten verlangt. Niemanden interessiert letztlich, was die Realität eines Landes mit seiner Literatur zu tun hat.

Daher jammern seit dem Überfall auf die Ukraine mittlerweile die ersten Autorinnen, dass die Realität ihre Fiktionen stört.


1. Großmutter

Im Herbst erscheint etwa im Innsbrucker Laurin Verlag der Roman „Ein Russe aus Kiew“ von Waltraud Mittich. Er kann wohl nicht mehr gestoppt werden, aber momentan beten alle, dass der Krieg schon vorbei ist, ehe diese überflüssige Erzählübung auf den Markt kommt.

Es geht darin wie meist in der gegenwärtigen Erzählblase noch immer um den Zweiten Weltkrieg, wo jemand eine fiktionale Großmutter findet, welche ins Leere hineinerzählt. Im konkreten Fall sind die Geschlechter ausgewechselt, und eine Südtiroler Friseurin erzählt dem unbekannten Vater aus der Roten Armee, was sich jetzt alles verändert hat. – Ein Plot zum Vergessen.

Ähnliches Pech mit seiner ukrainischen Story hat im Buch-Frühjahr Vladimir Vertlib, der schon seit Jahrzehnten von Großmüttern erzählt, die je nach Saison in diversen Ländern auftauchen und sich mit aufgefrischten jüdischen Sagen gegen das Vergessen schützen. Sein Buchtitel „Zebra im Krieg“ ist just zum Angriff auf die Ukraine erschienen.

Der ukrainischen Großmutter bleibt jetzt nichts anderes übrig, als im Buch sitzen zu bleiben und zu warten, bis der Lesewind sich wieder gedreht hat, und man wieder Sachen aus dem Zweiten Weltkrieg erklären kann. Natürlich hat die Großmutter in diesem Roman die Hülle eines aktualisierten Rebellenführers angenommen, aber der märchenhafte Schmäh historisierenden Erzählens ist ihr geblieben.

All diese Romane fußen auf der Witz-Floskel „das kannst du deiner Großmutter erzählen“, mit der Kinder auf das Abweichen des Gesagten von der Realität hingewiesen werden.


2. Krieg

In Tirol ist das Ukraine-Bild seit je her von den zwei Dichtern Georg Trakl und Josef Leitgeb geprägt, die beide ausgesprochenes Kriegspech in der Ferne erdulden mussten.

Georg Trakl hat nach dem ersten Kampfeinsatz als Sanitäter in Galizien 1914 w.o. gegeben und sich eine finale Injektion gesetzt. Das letzte, was er auf dieser Welt sieht, ist das Grauen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, damals Habsburger Grenzgebiet zu Russland.

Und Josef Leitgeb, der Namensspender einer Innsbrucker Volksschule, bastelt im Ukrainischen Tagebuch verschämt an der Kriegslyrik herum, ehe er dann psychisch kollabiert, als ihm der Tod seines Sohnes an der Front auf dem Postweg zugestellt wird.

Seine Publikation „Am Rande des Krieges, Aufzeichnungen aus der Ukraine“ aus dem Jahr 1942 schmerzt ihn ein Leben lang, und diese Schrift kann auch nicht durch eine hohe Auszeichnung weggewischt werden, die ihn 1952 am Tag seines Todes ereilt.


3. Kaiser-Schlamm

Der dritte Zugang neben „überholte Großmutter“ und „Weltkrieg“ ist der „Habsburger-Zugang“.

Wer einmal das falsche Gewicht, die Verfilmung einer Erzählung von Joseph Roth, erinnert, versinkt in einem Kosmos aus Schlamm, Elend, Ungerechtigkeit, Schmuggel und falschen Gewichten. Selten ist in einem Kunstwerk eine Grenze so düster, unzugänglich, lettig und gefährlich dargestellt, wie in diesem fiktiven Dorf an der österreichisch-russischen Grenze, von dem aus sich angetrunken leicht über die verlorene Monarchie trauern lässt.

Dieser Habsburgermythos wird auch in den Übersetzungen des Innsbrucker Haymon Verlags fallweise aufgesucht, wenn im Roman „Mitternachtsblüte“ von Maria Matios das Wesen der Ukraine in magisch-brutaler Form erzählt wird.

Im Stile des ukrainischen Urvaters Korolenko („Der Wald rauscht“) wird der Wald wieder zum Hauptdarsteller. Darin fädeln sich undurchschaubare Menschen zu einem Landstreifen auf, und nennen ihn „Land an der Grenze“. Der Mythos von Naturreligion und Wald ist ausgerodet von majestätischen Insignien, hinter jedem Baum kann ein Faun hervorlugen oder der Kaiser.

Noch dramatischer wird der Habsburgermythos in Maria Matios Roman „Darina, die Süße“ ausgerollt. Er spielt in der entlegenen Bukowina, die einst in der Habsburgermonarchie auch dann noch auf Anweisungen aus Wien gewartet hat, als die Monarchie schon längst zerfallen war. Die Gegend wird als sanft und süß bezeichnet, aber sie ist auch eigenwillig wie die Heldin Darina, die wegen ihrer Eigentümlichkeit und ihrem abgeschotteten Wesen als die „Süße“ bezeichnet wird.


4. Notaufnahme

Der vierte Zugang schließlich, wie die ukrainische Literatur mit Tiroler Augen gesehen wird, ist die Übersetzung eines ukrainischen Dichters außerhalb des Literaturmarkts.

Längst ist der ukrainische Literaturmarkt nämlich gerodet und massentauglich erschlossen. Seine Protagonisten achten streng darauf, dass keine falsche Literatur ins Freie oder in eine Übersetzung gelangt. So ist der ehemalige ironische Klamauk-Künstler Andrij Kurkow mittlerweile ukrainischer PEN-Präsident, was eine Karriere abschließt, die beim literarischen Manager-Verlag Diogenes in Zürich begonnen hat. Das PEN-Wesen ist, ähnlich wie die nationalen Kirchen, meist dicht an die herrschende Kaste herangeführt, und PEN-Präsidenten fungieren in manchen Ländern als Regierungssprecher.

Der zweite internationale Kopf der ukrainischen Exportliteratur ist Jurij Andruchowitsch, der als Mitglied der Maidan Bewegung mittlerweile der Türwächter an jener Pforte ist, durch die jene Literatur in den Westen strömt, die auf Regierungslinie ist. Mittlerweile herrscht das Kriegsrecht auch in der Literatur, die Teil eines Überlebenskampfes geworden ist.

Da die männlichen Schreibenden kaum noch das Land verlassen dürfen, ergibt sich eine eigentümlich realistische Engführung der Literatur. Es geht in jedem Satz um Leben und Tod, egal ob diese Sätze geschrieben und exportiert werden oder nicht.

Das Projekt Notaufnahme stammt aus dem Jahr 2012. Damals hat der Untergrund-Verlag BAES aus Zirl Gedichte von Andrij Lyubka übersetzt und unter dem Titel „Notaufnahme“ in den Untergrundverkehr gebracht.

https://digital.obvsg.at/urn/urn:nbn:at:at-ubi:2-34185

Der Titel spielt auf jene Situation an, wonach brisante Literatur meist in der Nähe von Schockräumen und Emergency-Eingängen stattfindet.

Diese Literatur ist verwundet und kämpft ums Überleben. Die Leser stehen um die zerfetzten Texte und versuchen zu retten, was zu retten ist. Ironie und Todeskampf halten die Zeilen umschlungen. Im übertragenen Sinn ist die Notaufnahme letztlich jener Vorgang, der den Flüchtenden zuteil wird. Ganz Europa ist zu einer Notaufnahme geworden.

Diese Literatur ist wahrscheinlich die einzig relevante, die es momentan aus der Ukraine gibt. Das Kriegsgeschehen wird man auch am Literaturmarkt ablesen können.

Wenn vermehrt Bestseller aus der Ukraine kommen, hat der Markt gesiegt, egal wie der Krieg auch ausgegangen ist. Bestseller aus einem Kriegsgebiet deuten immer auf einen schlechten Ausgang im Kampf mit der Wahrheit hin.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. schoepfblog

    Sehr geehrte Frau Mittich!
    Im vorliegenden Fall fühle ich mich wirklich zu Unrecht abgewatscht. Der von Ihnen kritisierte Artikel stammt nämlich von meinem Kollegen Helmuth Schönauer und nicht von mir. Und sie werden als erfahrene Autorin wohl verstehen und akzeptieren, dass ich mich in die Besprechungen von Helmuth Schönauer, der wohl einer der erfahrensten Rezensenten in ganz Österreich ist, nicht einmische, sondern ihm für seine Texte allein die Verantwortung überlasse. Ich bitte Sie daher höflich, die Wolke der Ungnade von meinem Haupte abzuziehen.
    Mit herzlichen Grüßen Alois Schöpf

  2. Waltraud Mittich

    Sehr geehrter Herr Schöpfblog! Wie schön, dass Sie noch nicht erschienene Texte verreißen. Als profunder Kenner der ukrainischen Lietratur werden Sie sicherlich auch die Sprache sprechen. Ich verweise Sie des deshalb auf meine FB-Seite, dort können Sie war leider gemein aber auch der ja o. k. Supersaudie ersten 50 Seiten meines Machwerks in ukrainischer Sprache lesen, der Text erscheint bei booksxx Czernowitz, der so gute Autorinnen wie Ilma Rakusa übersetzt. Ach ja, auch so eine Großmutter. Schade, dass ich Ihren Text zu Jesolo so wohlwollend besprochen habe, aber eigentlich nicht, er gefällt mir trotz ihres großsprecherischen, infantilen Gehabes. Besten Gruß. Auf ihrem chat habe ich die Vertonung eines Gedichts aus Ein Russe gepostet, es ist ein lockdown Produkt aus dem Jahr 2020 , ich bin also nicht aufgesprungen auf’s Thema
    Waltraud Mittich

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